Elftes Kapitel
Hanna hatte noch nie gern gewartet, aber das Warten in Theresienstadt war etwas ganz anderes, es war nicht zu vergleichen mit dem Warten auf einen Autobus, mit dem Warten auf ein Treffen im Zentrum, mit dem Warten darauf, dass Mira mit ihrem Fahrrad um die Scheunenecke fuhr. Hanna hatte das Gefühl, als bestünde das Leben in Theresienstadt nur aus Warten, aus stundenlangem Anstehen und Warten, egal wie das Wetter war, ob sie klatschnass wurden oder im kalten Wind froren. Warten vor dem Waschraum, Warten vor der Latrine, Warten vor der Essenausgabe. Morgens auf den Kaffee, mittags und abends auf das warme Essen, das meist aus Suppe bestand, Kartoffelsuppe, Kohlsuppe, Rübensuppe, Linsensuppe, Bohnensuppe, Erbsensuppe. Eine Suppe schmeckte wie die andere, auch wenn sie gelegentlich einen anderen Namen hatte. Meist handelte es sich um eine undefinierbare, dünne Flüssigkeit, die zur Abwechslung manchmal nach Kümmel schmeckte und manchmal nicht, und nicht selten war sie auch versalzen.
Trotzdem war diese Suppe immer das Ziel aller Wünsche und Sehnsüchte. Suppe bedeutete, dass das hohle Gefühl im Bauch ein wenig besänftigt wurde, dass man zumindest für kurze Zeit den ständigen Hunger vergessen konnte, er stellte sich sowieso schnell wieder ein. Und das höchste Glück war es, wenn der Austeilende die Kelle tief in den Kessel senkte und das begehrte Dicke vom Boden fischte, an dem sich ein paar Kartoffel- oder Gemüsestücke abgesetzt hatten, oder wenn es einem gar gelang, einen Nachschlag zu ergattern. Suppe war Leben, Suppe war Glück, wenigstens so lange, bis sie aufgegessen war.
Hanna, Mira, Bella, Rosa und Rachel konnten bald nur noch von Essen sprechen. Ihr Hunger wurde von Tag zu Tag größer und schwerer zu ertragen. »Wir haben uns in Dänemark an gutes Essen gewöhnt«, sagte Mira, »das müssen wir jetzt büßen.«
»Nicht nur an gutes Essen, sondern auch an reichliches«, sagte Rachel sehnsüchtig.
»Das sieht man euch an«, sagte Gerda. »Ihr habt noch was zuzusetzen.«
Hanna betrachtete die Freundinnen. Sie sahen tatsächlich noch einigermaßen gut genährt aus, verglichen mit den Frauen, die schon länger hier waren. Auch Gerda war zwar dünn, aber nicht so abgemagert wie viele andere, die vor ihnen in der Schlange vor dem Suppenkessel standen. »Wartet’s nur ab«, sagte Gerda, als sie Hannas Blick bemerkte. »Alle sehen bei ihrer Ankunft ganz gut aus, gut genährt und gut angezogen, aber das hält hier nicht lange vor.« Die Drohung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Wartet’s nur ab.
Sie blieben kaum zwei Wochen auf dem Dachboden, da hatte Mira es geschafft, sie in einer Kaserne unterzubringen. Rachel und Rosa teilten sich eine untere Pritsche, Mira und Hanna die Pritsche darüber, und die obere besetzten Bella und Gerda, die sich ihnen angeschlossen hatte. Hier konnten sie sich zum Schlafen ausstrecken, und alles wäre nicht so schlimm gewesen, hätte es nicht so viele Läuse und Wanzen gegeben. Hanna konnte kaum schlafen, ihre Arme und Beine juckten unerträglich. »Sie fressen mich auf«, stöhnte sie und zeigte ihre zerbissenen Beine.
»Das Ungeziefer gehört zu Theresienstadt«, sagte Gerda, »am besten beachtet ihr es nicht. Außer dass wir jeden Tag unsere Kleidung ausschütteln, kann man nichts tun. Fangt ja nicht an zu kratzen, sonst gibt’s Furunkel.«
Hanna bemühte sich, Gerdas Rat zu befolgen. Sie bekämpfte den Juckreiz mit Spucke, und im Lauf der Zeit wurden die Bisse so normal wie der Hunger, nur nachts wachte sie manchmal auf und merkte, dass sie sich doch gekratzt hatte.
Mira hatte auch dafür gesorgt, dass sie alle in Arbeitsgruppen kamen, denn das bedeutete ein Stück Brot zusätzlich. »Und außerdem ist man beschäftigt und hat keine Zeit, sich unnötige Gedanken zu machen«, hatte sie gesagt.
Sie selbst hatte eine Stelle in der sogenannten Geniekaserne gefunden, in der neben alten Häftlingen auch Kranke untergebracht waren. Die Arbeit war nicht nur körperlich schwer, sondern auch seelisch belastend, und Mira war oft bedrückt, wenn sie von dem Elend erzählte, das sie dort sah, und ihre eigene Hilflosigkeit verfluchte. Denn viel tun konnte sie für die alten und kranken Menschen nicht, ihre Arbeit beschränkte sich darauf, die Räume einigermaßen sauber zu halten und Bettpfannen zu leeren. Bella und Rosa arbeiteten in der Wäscherei und bei der Desinfektion und hatten schon nach wenigen Tagen vom Hantieren mit den scharfen Mitteln aufgerissene und wunde Hände. Hanna, Rachel und Gerda ging es nicht viel besser, sie gehörten zu einer Putzkolonne. Hanna, die inzwischen gelernt hatte, Latrinen zu benutzen, ohne sich viel dabei zu denken, lernte nun sogar, sie zu putzen.
Abends, wenn sie, müde und erschöpft von der schweren Arbeit, noch eine Weile auf der unteren Pritsche zusammensaßen, wurden ihre Gespräche immer langsamer, die Pausen zwischen den einzelnen Sätzen länger. Hatten sie anfangs ständig über Essen geredet, sich gegenseitig erzählt, was sie kochen würden, wenn das alles hier vorbei wäre, wussten sie jetzt oft nicht, was sie sagen könnten. Sie wurden zunehmend schweigsamer.
Hanna fiel auf, dass besonders Rosa, die nie sehr viel geredet hatte, noch stiller wurde.
»Was war früher eigentlich euer Lieblingsgericht?«, fragte Rachel eines Abends. »Meines war Sauerbraten mit Rotkraut und Pudding zum Nachtisch.«
»Hör auf«, fuhr Mira sie an. »Es ist nicht gut, immer nur über Essen zu reden. Los, Hanna, erzähl uns eine Geschichte, du kennst doch so viele.«
»Ich weiß nur Märchen«, wehrte Hanna ab. Aber als die anderen drängten, fing sie an, ihnen vom Zinnsoldaten zu erzählen, dem ein merkwürdiges Schicksal beschieden war. Sie erzählte, wie er mit seinen Brüdern in einem Kinderzimmer landete, standhaft auf seinem einen Bein stand und die liebreizende Tänzerin betrachtete, die vor einem Spielzeugschloss aus bemaltem Pappkarton stand.
Auch dieses Fräulein war aus Kartenpapier ausgeschnitten, hatte aber ein Röckchen aus dem feinsten Batist an und trug als Schärpe ein blaues Band über der Schulter. Das Band war durch einen goldenen Flitter zusammengehalten, der so groß war wie des Fräuleins ganzes Gesicht. Dieses Fräulein hob beide Hände in die Höhe, denn es war eine Tänzerin, und streckte das eine Bein so hoch in die Luft, dass es der Zinnsoldat überhaupt nicht finden konnte und daher meinte, sie habe nur ein Bein wie er selbst. »Das wäre eine Frau für mich«, dachte er.
»Doch dann fällt der Soldat aus dem Fenster«, sagte Hanna, »und ein Missgeschick führt zum nächsten. Nach einem Platzregen setzen zwei Jungen den armen Zinnsoldaten in ein Papierboot und dieses in die Gosse mit dem abfließenden Regenwasser. Das Papierboot schwankte auf und nieder und drehte sich von Zeit zu Zeit im Kreise, dass es dem Zinnsoldaten ganz schwindlig wurde; aber er blieb standhaft, veränderte keine Miene, sah geradeaus und schulterte das Gewehr. Plötzlich trieb das Boot unter ein langes Brett, das als Brücke über den Rinnstein gelegt war. Da drunten war es ebenso finster wie in seiner Schachtel zu Hause. Aber die Strömung wurde immer stärker, und der Zinnsoldat konnte dort, wo das Brett aufhörte, schon wieder den hellen Tag schimmern sehen; aber er hörte von dorther ein wildes Gebrause, über das wahrlich auch ein tapferer Mann erschrecken konnte. Denkt euch nur, wo das Brett aufhörte, stürzte das Wasser aus dem Rinnstein in einen breiten Kanal, und dahinunter zu fahren war für den Zinnsoldaten so gefährlich wie für uns, einen großen Wasserfall hinuntergerissen zu werden. Das Boot drehte sich drei- bis viermal im Kreise und füllte sich bis an den Rand mit Wasser, sodass es untersinken musste. Dem Zinnsoldaten ging das Wasser schon bis an den Hals und das Boot sank noch immer tiefer, ja, das Papier löste sich sogar immer mehr auf. Jetzt schlug das Wasser dem Soldaten über dem Kopf zusammen – noch einmal dachte er an die reizende kleine Tänzerin, die er nun nie mehr zu sehen bekommen würde.«
Hanna hielt inne, weil sie an die Abende auf dem Lindenhof denken musste und an Bente, die sich so leicht von Märchen rühren ließ. Und an jene Nacht, in der Bente sie getröstet hatte. Auf einmal empfand sie eine solche Sehnsucht nach Bentes warmen Armen, nach ihren tröstenden Händen, dass sie einen Moment lang kein Wort herausbrachte.
»Erzähl schon weiter«, drängte Rachel. »Das ist schön. Fast wie früher, zu Hause.«
»Aber dann wird der Soldat von einem Fisch gefressen«, fuhr Hanna fort. »Nein, was war es im Bauch des Fisches finster! Das war noch viel schlimmer als unter dem Rinnsteinbrett und außerdem war es in dem Bauch auch sehr eng. Aber der Zinnsoldat blieb standhaft …«
Wieder unterbrach sie sich, zögerte, bevor sie weitersprach. »Es ist ein Märchen und in Märchen passieren nun mal märchenhafte Dinge. Der Fisch wird jedenfalls gefangen und ausgerechnet an die Köchin des Hauses verkauft, in dem sich das Kinderzimmer mit dem Spielzeugschloss und der Tänzerin befindet. Die Köchin schneidet den Fischbauch auf, und der Zinnsoldat landet da, wo er hergekommen ist. Die reizende kleine Tänzerin steht auch noch vor dem Schloss, mit erhobenen Händen und das eine Bein hoch in die Luft gestreckt. Nur leider wird der Soldat dann doch von einem Jungen ins Feuer geworfen, ohne dass er einen Grund dafür gehabt hätte. Der Zinnsoldat stand hell beleuchtet da, er fühlte eine entsetzliche Hitze; ob er aber vor richtigem Feuer oder vor Liebesfeuer lichterloh brannte, wusste er selbst nicht. Er schaute die kleine Tänzerin an, sie schaute ihn an, und er fühlte, wie er dahinschmolz. Da packt ein Windstoß die Papiertänzerin und weht sie zu ihm ins Feuer, sodass beide verbrennen. Vielleicht aus Liebe.« Hannas Stimme erstarb, sie wusste, dass sie das Märchen nicht besonders gut erzählt hatte. Damals, bei Bente, hatte es sich viel besser angehört und zum Lindenhof hatte es auch viel besser gepasst.
»Das ist keine schöne Geschichte«, sagte Rachel.
Und Mira sagte: »Aber eine realistische. Wir sind alle Zinnsoldaten und aus dem Fenster gefallen. Der Transport nach Theresienstadt war die Fahrt im Rinnstein, und jetzt sind wir im Bauch des Fisches, deshalb ist es auch so dunkel um uns. Nein, was war es im Bauch des Fisches finster! Das war noch viel schlimmer als unter dem Rinnsteinbrett.«
Rachel seufzte. »Hoffentlich kommt jemand, der dem Fisch den Bauch aufschneidet und uns herausholt.«
Mira stand auf und kletterte die Leiter zu ihrer Pritsche hinauf. Dann beugte sie sich vor, sodass ihr Kopf über den Rand hing, und sagte böse: »Und warum sollte jemand dem Fisch den Bauch aufschneiden und uns herausholen? Damit uns jemand ins Feuer wirft, ohne dass er einen Grund gehabt hätte?« Danach wollte sie keine Märchen mehr hören.
Sie kannten sich inzwischen in Theresienstadt aus. Das Ghetto war nicht wirklich groß, aber es war hoffnungslos überfüllt. »Die Kasernen sehen aus wie riesige, löchrige Schuhkartons«, sagte Hanna eines Abends. »Und aus allen Löchern krabbeln Menschen wie Ameisen und wimmeln in den Straßen herum, ohne dass man sieht, wohin sie wollen und was sie vorhaben. Es ist ein sinnloses Durcheinander.«
»Kein Wunder«, sagte Gerda. »Vor dem Krieg haben hier, einschließlich der Soldaten, höchstens siebentausend Menschen gelebt, jetzt sind es vermutlich fast zehnmal so viel. Genaue Zahlen gibt es nicht, kann es ja auch gar nicht geben, schließlich hängt es davon ab, wie viele Transporte gerade angekommen oder abgefahren sind.«
Sie wussten inzwischen, was Transporte bedeuteten, die Drohung hing wie eine dunkle Wolke über Theresienstadt und keiner konnte sich der Angst vor Transporten entziehen. Hanna zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie das Wort hörte. Die Angst davor, einem dieser Transporte in den Osten, in andere Lager, zugeteilt zu werden, war ständig da, sie verbarg sich hinter jedem Wort, lauerte in jedem Blick. Niemand wusste, was mit den Abtransportierten wirklich geschah, aber es gab Gerüchte, furchtbare, schreckliche Gerüchte, die man nicht hören wollte und trotzdem aufschnappte.
»Als ich vor dem Suppenkessel gewartet habe«, sagte Rachel eines Tages, »hat eine Frau gesagt, alle würden sofort umgebracht, wenn die Transporte in dem anderen Lager ankommen, falls sie überhaupt irgendwo ankommen. Jemand, dem die Flucht gelungen ist, hat von Massenerschießungen berichtet, hat sie gesagt. Und dann hat sie von einem Lager geredet, das besonders schlimm sein soll, in Auschwitz. Und als ich gefragt habe, wo dieses Auschwitz liegt, hat sie gesagt, das ist ein Lager in Polen, in der Nähe von Krakau.«
»Wir dürfen nicht alles glauben, was wir hören«, fuhr Mira sie an. »Es ist nicht gut, wenn man zu viel Angst hat, da bildet man sich leicht alles Mögliche ein.«
»Ich habe es auch gehört«, wollte Hanna sagen, doch da traf sie Miras Blick und sie klappte den Mund wieder zu.
Die Angst vor den Transporten war in Theresienstadt so allgegenwärtig wie die vielen Krankheiten, wie die immer wieder ausbrechenden Epidemien, so allgegenwärtig wie der Hunger, wie der ständige Durchfall. Vor alldem hatte man Angst, aber die größte Angst hatte man vor den Transporten. Auch wenn die Gerüchte von Massenmorden vielleicht übertrieben waren, Erfindungen einer überhitzten Fantasie, wie Mira meinte, konnte man doch mit Sicherheit davon ausgehen, dass es dort schlimmer war als hier. An das Leben hier hatte man sich gewöhnt, mehr oder weniger, auch wenn man es nicht als Leben bezeichnen konnte. »Vegetieren« nannte es Gerda.
Hanna fiel auf, dass es viele Kinder gab, die auf Abfallhaufen herumkletterten und im Müll wühlten. Aber es gab auch Kinder, die spielten Fangen, Verstecken und sogar Seilhüpfen, Spiele, die Hanna von zu Hause kannte, aus der Zeit, in der sie noch Hannelore geheißen hatte. Oft sprachen die Kinder Deutsch, doch noch häufiger hörte sie andere Sprachen, die sie nicht verstand, vor allem Tschechisch. Sie überlegte immer wieder, wo die vielen Kinder herkamen, und als sie einmal ein paar Mädchen sah, die offenbar so etwas Ähnliches wie Himmel und Hölle spielten und Deutsch sprachen, nahm sie eines am Arm und fragte: »Wo sind eure Eltern?«
Das Mädchen, ein dünnes Ding mit kurzen Stoppelhaaren, riss sich los, musterte Hanna verächtlich und sagte: »So etwas Dummes fragt man hier nicht.« Dann wandte sie sich wieder dem Spiel zu.
Außer Kindern gab es hier viele alte Leute, unter ihnen eine auffallend große Anzahl einbeiniger, einarmiger oder sonst wie invalider Männer. Hermine, eine Frau, die Hanna in der Warteschlange vor dem Suppenkessel ansprach, erklärte es ihr. Nach Theresienstadt waren, außer prominenten Juden aus Deutschland und der Tschechoslowakei, die jetzt Protektorat Böhmen und Mähren hieß, vor allem ehemalige Kriegsteilnehmer und alte Menschen über fünfundsechzig deportiert worden. »Man hat ihnen eingeredet, das hier sei eine Art Altersheim. Sie haben in Deutschland dafür bezahlt, dass sie hier einen ruhigen Lebensabend verbringen und gepflegt werden, wenn sie krank sind.« Hermines Gesicht zeigte offenen Hohn, ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. »Wie konnten sie nur so blöd sein, das zu glauben. Solche Idioten!« Sie stieß verächtlich die Luft aus, dann fügte sie hinzu: »Sie sterben hier wie die Fliegen.«
Wie recht sie hatte, merkte Hanna bald. Der Tod war hier etwas Alltägliches. Ständig traf man diese hochrädrigen Holzkarren, mit denen alles Mögliche transportiert wurde, zum Beispiel die Kessel mit Essen und auch Tote. Die Karren waren nicht lang genug, oft ragten Füße oder Köpfe der Leichen unter den Tüchern hervor, mit denen sie bedeckt waren. Und einmal sah Hanna, wie der Kopf einer Frau bis auf die Straße gerutscht war und holpernd über das Pflaster geschleift wurde. Sie schaute schnell weg. Sie lernte es, wegzuschauen, denn ohne diese Fähigkeit war ein Ort wie Theresienstadt nicht zu ertragen. Wegschauen und weghören gehörte zu dem neuen Leben, das begonnen hatte. Wie hätte man es sonst aushalten können, wenn SS-Männer mit ihren unvermeidlichen Knüppeln oder mit Gewehrkolben auf Häftlinge einschlugen, oft alte Menschen, die ihre Großväter oder Großmütter hätten sein können, die dann blutend zusammenbrachen und mit überschnappenden Stimmen um Gnade winselten?
Mira zog Hanna unerbittlich weiter, als sie so etwas zum ersten Mal sahen, und bald merkte Hanna, dass ihre Sinne abstumpften. Und nicht nur ihre Sinne. Anfangs dachte sie noch voller Sehnsucht an Fünen zurück, an ihr Leben auf dem Lindenhof, und konnte nicht mehr verstehen, warum es ihr so unerträglich eintönig und langweilig vorgekommen war. Gegen Theresienstadt war Fünen das Paradies gewesen.
Anfangs hatte sie auch oft wehmütig an Jesper und Marie gedacht, hatte sich vorgestellt, wie sie in ihrer Werkstatt saßen und Drachen und Prinzessinnen formten. Was wohl unsere Hanna gerade macht?, würde Marie vielleicht fragen, und Jesper würde dann bedächtig den Kopf hin und her wiegen und sagen: Sie ist auf dem Land, da ist sie sicher. Und Marie würde nicken. Gott sei Dank. Sie hatte auch an Bente gedacht und sogar an ihre Schwester Lea in Palästina, das in immer weitere Fernen rückte. Nur die Gedanken an ihre Mutter hatte sie schnell zur Seite geschoben, sie konnte und wollte sich ihre Mutter nicht an einem Ort wie Theresienstadt vorstellen, ihre Mutter sollte nicht so werden wie die alten Leute hier.
Doch im Lauf der Zeit hörte sie auf, an andere zu denken, alles, was außerhalb Theresienstadts lag, verblasste und verlor an Bedeutung, die Festungsmauern bildeten die Grenzen ihrer Welt. Überhaupt dachte sie wenig nach, sie tat, was getan werden musste, alles war nur auf das nächste Ziel ausgerichtet, und das nächste Ziel war immer das nächste Essen, egal wie schlecht und unzureichend es war.
Hanna war froh darüber, dass sie die Arbeit hatte, die Arbeit half ihr, die Tage zu überstehen. Wie früher, wenn nach dem Winter die Feldarbeit wieder anfing, dachte sie: Arbeit ist das Gerüst, das dem Alltag eine Form gibt. Wenn sie nur nicht immer hungrig gewesen wäre. »Der Hunger ist die oberste Macht in Theresienstadt«, sagte Mira einmal. »Nur die SS ist noch mächtiger.«
Hanna nickte. »Früher habe ich vielleicht manchmal nicht viel zu essen gehabt, aber Hunger habe ich erst hier kennengelernt. Jetzt träume ich davon, mich wieder einmal richtig satt zu essen.«
»Man muss sich mit dem Hunger arrangieren«, sagte Rachel. »Man muss einen Pakt mit ihm schließen, nur so kann man ihn besänftigen.«
Hanna versuchte es, und manchmal gelang es ihr tatsächlich ein, zwei Tage lang ganz gut, dann aß sie dankbar, was sie bekam, und versuchte sich einzureden, so sei das Leben nun mal. Doch dann schlich sich der Hunger wieder in ihr Bewusstsein und füllte es ganz aus, sodass sie an nichts anderes mehr denken konnte als an Essen.
Der Hunger war schwer zu ertragen, aber ohne Arbeit wäre er wohl noch schwerer zu ertragen gewesen. Wieder einmal empfand sie die Routine als Hilfe. Einmal sprach sie mit Mira darüber. Sie lagen abends nebeneinander auf der Pritsche, da sagte Hanna: »Mit der Routine ist es eine seltsame Sache. Wenn man sie hat, kommt sie einem langweilig vor, und wenn man sie nicht hat, sehnt man sich danach und ist unglücklich.«
Mira schwieg lange, dann sagte sie: »Vielleicht ist das der Fehler, dass man sich nach dem sehnt, was man nicht hat. Vielleicht bedeutet Glücklichsein in Wirklichkeit nur, dass man nichts anderes will als das, was man hat.«
Hanna drehte sich zu ihr. »Verdammt, Mira. Das, was wir hier haben, kann keiner wollen.«
»Nein«, sagte Mira. »Das kann keiner wollen. Wir sind ja auch nicht glücklich.«
»Waren wir glücklich?«, fragte Hanna. »Waren wir in Dänemark glücklich?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Mira. »Vermutlich schon. Wir haben es bloß nicht gewusst.«
Gerda blieb nicht lange bei ihnen. Eines Abends bekam sie den gefürchteten Aufruf zu einem Transport in den Osten. Der Lagerälteste war in den Saal gekommen, eine Liste in der Hand, und hatte die Namen der zum Transport bestimmten Frauen vorgelesen. Es waren viele. Gerda weinte nicht, als sie ihren Namen hörte, sie wurde nur sehr blass, und als der Mann den Saal verlassen hatte, begann sie wortlos, ihre Sachen zusammenzusuchen. Mira stand hilflos daneben, offenbar unfähig, etwas zu sagen. Auch Hanna wusste nicht, wie sie Gerda hätte trösten können.
»Davor habe ich mich die ganze Zeit gefürchtet«, sagte Gerda plötzlich. »Deswegen habe ich auch gewusst, dass es passieren wird. Denn das habe ich unter Hitler gelernt: Alles, wovor man sich fürchtet, passiert irgendwann. Merkt euch das.« Sie machte eine Pause, bevor sie weitersprach: »Im September ist ein Transport mit fünftausend Menschen in den Osten abgegangen. Zu diesem Transport hat auch Magdalene gehört, die Frau, von der ich euch erzählt habe, die ehemalige Lehrerin aus Hamburg. Sie war wunderbar, so klug, so kultiviert. Niemand weiß genau, was mit ihnen passiert ist, aber es gibt Gerüchte.« Sie schwieg.
Hanna starrte sie an. Die Gerüchte, die immer wieder aufkamen, rasten durch ihren Kopf, überschlugen sich. Wer nicht arbeitsfähig sei, werde sofort umgebracht. Hanna wusste nicht, was sie sagen sollte, das Entsetzen raubte ihr jeden Gedanken.
»Du bist stark«, sagte Mira und umarmte Gerda. »Du bist stark, du wirst es schaffen.«
In dieser Nacht schlief Hanna auf der oberen Pritsche, neben Bella, sie hatte ihren Platz Gerda überlassen. Lange lag sie wach und hörte Mira und Gerda auf der Pritsche darunter flüstern. Sie sprachen so leise, dass sie nichts verstehen konnte, aber sie wollte es auch nicht verstehen. Sie wollte nichts wissen. Alles, was man weiß, ist letztlich noch schlimmer als die Angst, die man davor gehabt hat, dachte sie, da bleibe ich lieber bei der Angst.
Am nächsten Morgen war es so weit. Zu fünft brachten sie Gerda zur Schleuse, von dort aus würde sie zum Zug an dem inzwischen fertig gestellten Transportgleis zwischen Theresienstadt und Bauschowitz gebracht werden. Bevor sie den Hof betrat, mussten die Freundinnen sich verabschieden, die SS-Bewacher passten auf, dass nur die zum Transport bestimmten Personen durchgelassen wurden. Gerda drehte sich noch einmal um und hob die Hand, dann war sie verschwunden.
»Ich fürchte, wir werden sie nicht mehr wiedersehen«, sagte Rachel. »Noch nie ist einer von dort zurückgekommen.«
Keiner hatte Lust, ihr zu antworten. Bedrückt kehrten sie zu ihrem Block zurück, zu ihrer Arbeit. Obwohl sie nicht über Gerda sprachen, wusste Hanna, dass alle an die Münchnerin dachten und hofften, sie irgendwann, wenn dieser Wahnsinn vorbei wäre, lebend wiederzusehen.
Der Alltag ging weiter, ein schrecklicher Alltag, wie Hanna sich ihn nie hätte vorstellen können. Schlimmer kann es nicht werden, dachte sie, aber darin hatte sie sich geirrt.
Etwa eine Woche nach Gerdas Abtransport geschah etwas, was sie nie vergessen würde, ein Ereignis, das sie noch Jahre später in ihren Träumen heimsuchen sollte und das als Bohušovicer Kesselappell* in die Geschichte Theresienstadts einging. Morgens in aller Frühe mussten sich sämtliche Häftlinge in Fünferreihen aufstellen und wurden aus dem Lager getrieben, in Richtung Bauschowitz. Tausende, Zehntausende von Menschen verließen das Ghetto und bewegten sich in einem nicht enden wollenden Zug weiter, vorwärtsgetrieben von SS-Bewachern, die rücksichtslos zuschlugen, wenn sich jemand ihrer Meinung nach zu langsam bewegte oder gar stolperte.
Auch Rachel, die am Rand ihrer Gruppe ging, erwischte einen Schlag auf die Schulter. Sie stöhnte und fiel zu Boden. Hanna und Mira halfen ihr hoch, nahmen sie zwischen sich und trugen sie fast weiter. Plötzlich hörten sie Bella aufschreien. »Meine Brille«, jammerte sie, »meine Brille.« In dem Gedränge hatte sie jemand gestoßen und ihre Brille war zu Boden gefallen. Hanna drehte sich um. In den Menschenmassen war es unmöglich, anzuhalten und nach einer Brille zu suchen, die unter Hunderten von Füßen bestimmt auch schon zertreten war. »Rosa«, sagte sie, »nimm Bella an der Hand, bitte.« Rosa verstand. Sie ergriff Bellas Hand und zog sich den Arm der Freundin über die Schulter. So gingen sie weiter.
Sie wurden in einem Talkessel zusammengetrieben, nicht weit von Bauschowitz. Das Tal war von Gendarmen und SS-Bewachern umzingelt, darüber kreisten Flugzeuge. Es war ein regnerischer Tag und der kalte Wind ließ sie zittern. Niemand wusste, was los war. Sie standen und warteten, nur ab und zu hörte man SS-Männer brüllen und ein Häftling schrie auf, dann war es wieder still. Eine seltsame Stille, in der das Atmen der vielen tausend Menschen sich anhörte wie Wind, der aufkommt und abebbt. Jemand flüsterte, Gefangene seien geflohen, andere meinten, vielleicht würden sie jetzt alle in den Osten deportiert und dies sei der letzte Zählappell. Und wieder jemand sagte: »Es ist die pure Schikane, sonst nichts. Seit wann brauchen sie einen Grund, wenn sie uns schikanieren wollen?«
Hanna und Mira stützten Rachel, die vor Schmerzen lautlos vor sich hin weinte. Manchmal wurde sie schwer und schlaff in ihren Händen und schien die Besinnung verloren zu haben. Doch jedes Mal, wenn sie meinten, sie nicht mehr halten zu können, kam Rachel glücklicherweise wieder zu sich. Sie blieben dicht zusammen und vermieden es, zu den SS-Männern hinüberzuschauen, die immer wieder auf jemanden einschlugen. Bella klammerte sich an Rosa, sie hatte aufgehört zu weinen. Wenn eine von ihnen pinkeln musste, drängten sich die anderen um sie herum, um sie vor den Blicken der Männer zu schützen, mehr Intimität war nicht möglich. Stundenlang standen sie so da und warteten. Der hellere Fleck am grauen Himmel, der die Stelle anzeigte, wo sich die Sonne hinter Wolken verbarg, wanderte nach oben, bis er hoch am Himmel stand, dann bewegte er sich langsam westwärts und sank tiefer.
Sie hatten Hunger und Durst, die Beine taten ihnen weh, die Muskeln ihrer Oberschenkel verkrampften sich. Ein schneidender Wind blies ihnen die Kälte bis auf die Knochen. Viele der alten Leute in ihrer Umgebung brachen zusammen. Manchmal half ihnen jemand wieder auf die Beine, aber oft blieben sie einfach liegen und jammerten und stöhnten, bis das Jammern und Stöhnen leiser wurde und schließlich ganz aufhörte. Regen kam auf, bald waren sie völlig durchnässt und zitterten vor Kälte. Die Zeit hatte jede Bedeutung verloren, es gab nur noch dieses Warten, ohne Anfang und ohne Ende, ohne Grund, ohne Ziel.
Es war schon lange dunkel, als sie endlich ins Lager zurückgetrieben wurden. Aber nicht alle, es gab viele Menschen, die reglos auf dem Boden liegen blieben. Hanna hob die Füße, um nicht auf sie zu treten. Alles, was sie empfand, war ein leichtes Bedauern. Und so etwas wie Befriedigung darüber, dass sie es alle fünf geschafft hatten, diese Tortur zu überstehen.
Rachel
Ich kenne das Geheimnis des Schmerzes, ich weiß jetzt, dass der Schmerz keine Empfindung ist, die langsam entsteht und von innen an einem nagt. Der Schmerz, das Zentrum des Schmerzes, ist nichts, was man nur spürt, sondern vor allem etwas, was man sieht. Und wer den Schmerz einmal gesehen hat, mit eigenen Augen, wird ihn sein Leben lang nicht mehr vergessen.
Das Letzte, was ich wahrgenommen habe, als wir in langen Reihen das Ghetto verließen, zu Tausenden und Abertausenden, waren die Krähen, die über uns am grauen Himmel kreisten. Ich sah die Krähen und blieb einen Moment lang stehen. Ob es war, um die Krähen zu betrachten, oder ob jemand in der Reihe vor mir stehen geblieben war und ich gar nichts anderes tun konnte, als ebenfalls stehen zu bleiben, weiß ich nicht mehr, in meiner Erinnerung sind es die Krähen, die über uns fliegen. Und dann schiebt sich ein schwarzer Arm zwischen mich und den Himmel, eine Hand, die einen Knüppel hält, und dann kommt der Schlag, und der Schmerz ist ein Blitz, ein unerträglich grelles Licht, das mich blendet, lange bevor ich den Schlag spüre und alles schwarz wird, und als ich wieder zu mir komme, sitzen die Krähen auf meiner Schulter und schlagen ihre Schnäbel in mein Fleisch.
Ich habe kaum Erinnerung an den Tag, an dem wir dort im Talkessel standen, für mich war es eine Zeit der Wellen von Schmerz und Schwärze. Und ich erinnere mich, dass ich irgendwann pinkeln musste, meine Blase drohte schon zu platzen, aber ich schaffte es nicht, meinen Rock hochzuheben, ich konnte meinen linken Arm nicht bewegen, er hing an mir herunter, aufgerissen, abgerissen, auseinandergerissen. Ich weiß nicht mehr, ob ich etwas gesagt habe oder ob Hanna es mir angesehen hat, jedenfalls umfasste sie mich von hinten, hob meinen Rock hoch, zog mir die Unterhose herunter und ließ mich in eine Kauerstellung sinken. Dabei hielt sie mich fest im Arm, so wie Mütter ihre kleinen Töchter am Straßenrand abhalten, wenn sie Pipi machen müssen. Die anderen stellten sich sofort um uns herum, mit dem Rücken zu uns, und hielten ihre Röcke ausgebreitet, um uns vor Blicken zu schützen. Als ich fertig war, hob Hanna mich wieder hoch, zog meine Unterhose hinauf und ordnete meinen Rock, alles mit einer Hand, mit der anderen hielt sie mich fest. Und ich schwankte wieder auf den Wellen von Schmerz und Schwärze auf und ab und konnte mich noch nicht mal bei ihr bedanken.
Das ist alles, was ich von jenem Tag noch weiß. Das Vergessen ist eine große Gnade, für die man dankbar sein muss, das habe ich am eigenen Leib erfahren.
Meine nächste Erinnerung ist, dass ich auf der Pritsche lag. Allein. Rosa war hinaufgezogen zu Bella. Ich lag da und war dem Schmerz ausgeliefert. Nie hätte ich mir so etwas vorstellen können, ein Schmerz, der es einem sogar verbietet zu weinen, denn jeder Schluchzer, jeder unkontrollierte Atemzug verstärkt den Schmerz nur noch. Dann waren sie wieder da, die Krähen, und hackten auf mich ein. Das Einzige, was ich tun konnte, war still dazuliegen und auf eine barmherzige Ohnmacht zu hoffen.
Sie schleppten einen Arzt an, ich hörte ihn fragen, wie das passiert sei. Als er mich untersuchte und anfing, an meiner Schulter herumzudrücken, wurde mir schwarz vor den Augen. Aber die Ohnmacht dauerte nicht lange genug, ich habe gehört, was er sagte: »Da kann man nichts machen. Sie müsste in eine Spezialklinik, hier haben wir keine Möglichkeiten. Ich werde etwas gegen die Schmerzen besorgen, mehr ist mir leider nicht möglich.«
»Wird sie wieder gesund?«, fragte Hanna, und der Arzt sagte: »Wenn sie ruhig liegen bleibt, werden die Schmerzen vorbeigehen. Aber die Schulter wird nicht mehr so sein, wie sie war. Wie weit sie später den Arm bewegen kann, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Versprechen kann ich nichts.«
Ich habe es gehört, aber ich habe die Augen nicht aufgemacht. Sie sollten nicht wissen, dass ich es gehört hatte. Ich werde also ein Krüppel sein, dachte ich, und ein Krüppel hat keine Chance, das hier zu überleben. Der Schlag, der meine Schulter getroffen hatte, hatte auch meine Hoffnungen zunichtegemacht. Ich lag auf der Pritsche und wünschte mir zu sterben. Es möglichst schnell hinter mich zu bringen. Aber die Krähen ließen mir keine Ruhe.
Ich wollte aufhören zu essen, um den Schmerz nicht unnötig in die Länge zu ziehen, aber Hanna und Mira erlaubten es mir nicht. Sie haben mich gefüttert und mir Flüssigkeit in den Mund gelöffelt, sodass mir gar nichts anderes übrig blieb, als zu schlucken.
Und dann kam das Wunder: ein bitterer Brei, der mich zum Würgen reizte. »Runterschlucken«, sagte Hanna. »Es ist eine aufgelöste Schmerztablette.«
Ich schluckte und lernte schnell, auf diese Bitterkeit zu warten, sie herbeizusehnen, weil sie mir Schlaf schenkte. Einen seltsam flachen Schlaf, durchzogen von Bildern und Stimmen, die in unzusammenhängenden Fetzen in mir aufstiegen. Meine Mutter, die ihre Bluse aufknöpft und Tilla an die Brust legt. Mein Vater, der sagt: Schade, dass sie so unansehnlich ist.
Ich kann an nichts anderes denken als an den Schmerz.
»Gib ihr noch eine Tablette«, höre ich Hanna sagen.
Mira antwortet: »Wir haben nicht mehr viele, wir sollten sparsam mit ihnen umgehen, wer weiß, ob wir noch mal welche bekommen.«
»Gib ihr noch eine«, drängt Hanna. »Sie braucht sie jetzt, jetzt …«
Und dann spüre ich, wie sie mir den Löffel mit dem bitteren Brei an die Lippen hält, öffne dankbar den Mund und schlucke. Schlucke das gnädige Vergessen.
Als ich aufwachte, saß Hanna neben mir und hielt meine Hand.
»Ich habe einmal die nackte Brust meiner Mutter gesehen«, sagte ich. »Sie hat meine kleine Schwester gestillt. Es war schön und schrecklich zugleich, weil ihre Brust so groß war, so nackt. Ich habe mich so geschämt, dass ich aus dem Zimmer gelaufen bin.«
»Und jetzt?«, fragte Hanna.
»Jetzt habe ich im Waschraum schon so viele Frauen nackt gesehen, junge nackte Körper und alte nackte Körper. Brüste, die schlaff herunterhängen, faltige Hinterteile, faltige Beine. Jetzt kann ich es gar nicht mehr verstehen, dass ich mich damals geschämt habe.«
»Jetzt ist alles anders«, sagte Hanna. »Du brauchst dir keine Vorwürfe wegen damals zu machen, wir haben es nicht besser gewusst. Deine Mutter hat es bestimmt verstanden.«
»Danke«, sagte ich und schlief wieder ein.
Im Traum wollte ich gerade die Wohnzimmertür aufmachen, da hörte ich meinen Vater sagen: Schade, dass sie so unansehnlich ist.
Ich blieb wie erstarrt stehen, wusste sofort, von wem er sprach.
Psst, sagte meine Mutter, sie könnte dich hören.
Ach, sie schläft doch längst, sagte er.
Ich zog die Hand zurück, die ich schon ausgestreckt hatte, drehte mich um und schlich leise zurück in mein Zimmer.
Damals war Milan schon nicht mehr zu Hause, der wunderbare, der großartige Milan, da war er schon in Prag. Mein Vater hat sich immer nur für Milan interessiert. Milan würde Medizin studieren, Milan würde ein berühmter Wissenschaftler werden. Milan war ja so begabt. Er hatte das Zeug dazu, Nobelpreisträger zu werden. Milan, Milan, Milan … Milan vorn und Milan hinten.
Dagegen die hässliche Rachel mit der viel zu langen Nase und den dünnen Haaren, die noch nicht mal richtig blond oder richtig rot sind. Farblos. Nichts zum Vorzeigen. Auch die Schulnoten nicht. Höchstens Mittelmaß. Milan dagegen war immer Klassenprimus, ein Sohn, auf den man stolz sein konnte. Milan hat sich nie für mich interessiert, ich war seine langweilige kleine Schwester, die er nach Belieben herumkommandieren konnte. Ob mein Vater mich geliebt hat, weiß ich nicht. Vielleicht hätte er es getan, wenn ich ansehnlicher gewesen wäre.
Meine Mutter hat mich geliebt. Zumindest bis Tilla geboren wurde. Als ich noch klein war, hat sie mich manchmal in den Arm genommen und gesagt: Rochele, mein Schatz. Aber das ist lange her. Mein Gott, bin ich erschrocken, als sie mir sagte, sie würde noch ein Kind bekommen. Da war ich schon fünfzehn. Jetzt wissen alle, was für eklige Sachen mein Vater und meine Mutter miteinander treiben, dachte ich, und als ihr Bauch dicker wurde, konnte ich nichts anderes denken als: Jeder, der sie so sieht, stellt sich jetzt vor, wie mein Vater sein Ding in sie reingesteckt hat.
In diesen Zeiten sollte man kein Kind in die Welt setzen, sagte Tante Cora, die Schwester meiner Mutter. Meine Mutter lächelte und legte die Hand auf ihren geschwollenen Bauch. Doch, sagte sie, gerade in solchen Zeiten ist ein Kind ein Zeichen der Hoffnung.
Für mich war das Zeichen der Hoffnung jedoch ein Zeichen der Schande.
Der Schmerz reißt mich wieder an die Oberfläche, die Krähen hacken, ich bettle um eine Tablette.
Allmählich lassen die Schmerzen nach. Die Krähen werden weniger, kommen seltener. Aber eine habe ich mir behalten. Abends, wenn ich in der Dunkelheit auf meiner Pritsche liege, kommt sie und setzt sich auf meine Brust. Ich streichle sie mit meiner gesunden Hand. Ich weiß, wie schwarz sie ist, und ich weiß, wie scharf und spitz ihr Schnabel ist. Ich streichle sie und sage: Rochele, mein Schatz, und sie berührt mit ihrem Schnabel die Stelle an meiner Schulter, da, wo mich der Schlag getroffen hat.