Siebzehntes Kapitel
Keine zwei Wochen später war der Krieg zu Ende. Im Quarantänelager fand eine Feier statt und viele Reden wurden gehalten. Ein Rabbiner mit faltigem Gesicht und grauem Bart dankte dem Allmächtigen, »der uns mit starker Hand und mit ausgestrecktem Arm aus Ägypten geführt hat«, Worte, die die Juden sonst am Pessachfest sprachen. »Daher ist es unsere Pflicht«, sagte er, »ihm zu danken, ihn zu loben, zu preisen, zu verherrlichen, zu erhöhen, zu huldigen, zu segnen, zu lobsingen und zu feiern. Ihn, der für unsere Väter und für uns alle diese Wunder gewirkt. Aus Knechtschaft führte er uns zur Freiheit, aus Kummer zur Freude, aus Trauer zur festlichen Feier, aus Finsternis zum hellen Licht, aus Sklaverei zur Erlösung. Lasst uns ihm ein neues Lied anstimmen. Halleluja.«
Hanna saß zwischen Rachel, Bella und Rosa. Sie hörte sich die Reden an und dachte: Was soll das? Warum danken sie ihm? Wenn er die Macht hatte, uns aus der Sklaverei zur Erlösung zu führen, warum hat er es dann nicht früher getan? Sie sollten lieber dem Roten Kreuz danken und all den Menschen, die sich dafür eingesetzt haben, uns zu retten, zum Beispiel diesem Folke Bernadotte und Doktor Holm, der persönlich mit den Bussen nach Theresienstadt gefahren ist, um uns aus der Hölle herauszuholen.
Rachel, die neben ihr saß, sagte leise: »Solange ich nicht weiß, was mit meinen Eltern und Geschwistern ist, kann ich mich nicht freuen.« Und Bella nahm die Brille ab und wischte sich mit dem Ärmel ihres neuen, grün karierten Kleides über die Augen. Rosa saß zusammengesunken da, das Gesicht gesenkt, die Arme um sich geschlagen, als wolle sie sich selbst umarmen. Sie gab keinen Ton von sich, schien nichts zu hören. Hanna wusste, dass sie an diesem Tag an ihren Onkel in New York geschrieben hatte, einen jüngeren Bruder ihrer Mutter, der rechtzeitig vor dem Krieg ausgewandert war. Sie überlegte, ob Rosa jetzt von Amerika träumte, wagte aber nicht, sie zu fragen. Ihr war aufgefallen, wie wenig sie von Rosa wusste, trotz der anderthalb Jahre, die sie gemeinsam in Theresienstadt verbracht hatten.
Die Reden wollten nicht aufhören. Große Worte fielen, Sieg über die Macht des Bösen, Beginn einer neuen Zeit nach Jahren des Schreckens und immer wieder Frieden, Frieden, Frieden. Ab und zu hörte man auch Worte wie Rache und Vergeltung und dass man nie vergessen dürfe. Und es wurde für die vielen Menschen gebetet, von denen man nicht wusste, wo sie waren und ob sie überhaupt noch lebten, Verwandte, Freunde, Nachbarn. Viele weinten.
Der Krieg war zu Ende, aber Hanna empfand weder Triumph noch Freude, sie fühlte sich einfach leer. Die Alliierten hatten gesiegt, aber was bedeutete das für sie? Sie war zwanzig Jahre alt und hockte in einem Quarantänelager in Schweden fest. Hitler war tot, aber nichts war, wie es vorher gewesen war, nichts würde je wieder so sein. Es war, als ginge sie das alles kaum etwas an. Niemand konnte die Zeit zurückdrehen, die vergangenen sechs Jahre waren nicht ungeschehen zu machen.
Hanna saß mit Sarah, deren Mutter auf die Krankenstation verlegt worden war, auf einer Bank vor dem Haus. »Ich weiß ja, dass ich froh sein sollte«, sagte sie, »aber ich bin es nicht. So habe ich mir die Befreiung nicht vorgestellt.«
»Und wie hast du sie dir vorgestellt?«, fragte Sarah.
»Anders, ganz anders. Aufregender vielleicht. Ich habe gedacht, jetzt fängt ein neues Leben an, ein glückliches Leben.«
Sarah senkte den Kopf. »Ich habe mir vorgestellt, wir könnten weiterleben wie früher, einfach weiterleben. Ich habe gedacht, wir fahren nach Hause, machen die Tür auf und sind wieder da.«
»Stattdessen sitzen wir in einem Lager wie vorher und deine arme Mutter liegt im Krankensaal«, sagte Hanna. »Der einzige Vorteil ist, dass es hier keine Wanzen und keine Läuse gibt. Und dass wir genug zu essen bekommen.«
Das war entscheidend. Wie in Theresienstadt drehten sich ihre Gedanken und Wünsche nur ums Essen. Wie besessen schlang sie alles in sich hinein, was sie erwischen konnte, gierig und zügellos. Sie achtete nicht auf den Geschmack, spürte ihn gar nicht. Süß? Sauer? Bitter? Sanft? Egal. Heiß? Kalt? Auch egal. Und mehr als einmal stopfte sie sich so voll, dass sie sich hinterher übergeben musste, dann stand sie über die Kloschüssel gebeugt und würgte, bis ihre Eingeweide brannten.
Erst nach Wochen ließ diese Gier sie aus ihren Fängen, und sie merkte, dass der Sommer kam. Sie hörte das Zwitschern der Vögel, spürte die Wärme der Sonne auf ihrer Haut, roch das frische Gras, sah das junge Laub der Birken und dass auf der Wiese hinter dem Lager Gänseblümchen und Löwenzahn blühten. Alles war so neu, als hätte sie es noch nie erlebt, als wäre es das erste Mal. Wie hatte sie das vergessen können? In Theresienstadt hatten die Jahreszeiten keine Rolle gespielt, da hatte es nur Kälte oder Wärme gegeben, und auch das Wetter war nur deshalb wichtig gewesen, weil man entweder fror oder nicht, nass wurde oder trocken blieb. Und die Farben? In ihrer Erinnerung lag über allem ein schmutziges Graubraun. Halt, sagte Mira, sogar in Theresienstadt war nicht alles grau, hast du etwa Marek vergessen? Sie brachte diese Stimme schnell zum Schweigen, sie wollte nicht an Marek denken. Nicht an Marek, nicht an Mira. Nicht in diesem Moment, nicht jetzt. Sie lief über die Wiese hinter dem Lager, legte sich ins Gras, obwohl der Boden noch feucht vom letzten Regen war, schaute hinauf in das seidige Blau und spürte, dass sie lebte. Egal wie, sie lebte.
Im Lauf der Zeit erfuhren sie immer neue, immer schrecklichere Tatsachen, hörten und lasen Dinge, die noch viel unvorstellbarer waren als die Gerüchte, die sie in Theresienstadt nicht hatten glauben wollen, von Tod und Vernichtung, von Massenerschießungen und Vergasungen. Millionen ermordeter Juden solle es gegeben haben, hieß es. Ständig tauchten neue Namen auf, Namen von Orten, die in Polen lagen. Treblinka, Majdanek, Belzec, Stutthof, Sobibór. Und immer wieder Auschwitz. Warum hatten die Deutschen diese Lager ausgerechnet in Polen eingerichtet? Gut, es hatte auch Lager in Deutschland gegeben, Dachau, Bergen-Belsen, Buchenwald, Ravensbrück, Flossenbürg, und Mauthausen in Österreich, aber die schlimmsten lagen in Polen. Es waren die Lager, deren Namen mit besonderem Grauen ausgesprochen wurden, Vernichtungslager. So viele Namen, so viel unvorstellbares Leid.
Hanna konnte sich die Namen der Orte kaum merken. Von Auschwitz hatte sie schon in Theresienstadt gehört, wusste sogar, dass es eine Stadt in der Nähe von Krakau war, aber die anderen Namen verbanden sich in ihrer Vorstellung nicht mit Städten, in denen Menschen wohnten, aßen, tranken, lebten und liebten, sie waren Synonyme für Tod, abstrakte Kürzel für massenhaftes Morden.
Samuel war es gelungen, eine Europakarte aufzutreiben, eine alte Karte mit Ländergrenzen, von denen man damals, vor dem Krieg, noch geglaubt hatte, sie seien unveränderlich. Er hatte die Karte auf dem großen Tisch im Aufenthaltsraum ausgebreitet und trug mit einem dicken, schwarzen Stift die fremd klingenden Namen ein. Hanna und Sarah schauten ihm dabei zu. Als er »Auschwitz« schrieb, hob er mitten im Wort plötzlich die Hand mit dem Stift und sagte: »Ich hatte in Theresienstadt einen Freund. Er hieß Johann Goldschmidt, Johann Sebastian Goldschmidt, und er hat Musik studiert, genau wie ich früher. Ich habe ihn sogar einmal in einem Konzert gehört, in Verdis Requiem, er hat großartig gespielt. Er war ein wirklicher Freund. Der einzige, den ich je hatte. Der einzige, mit dem ich über alles sprechen konnte.«
Samuel schwieg, starrte vor sich hin. Seine Hand mit dem Stift hing bewegungslos in der Luft. »Und?«, fragte Hanna, als ihr das Schweigen zu lange dauerte.
»Wir waren nur ein Jahr lang Freunde, im letzten Herbst ist Johann mit einem der Transporte in den Osten geschickt worden, nach Auschwitz, hieß es.« Samuel beugte sich vor, schrieb das Wort zu Ende.
Hanna wusste nicht, was sie sagen sollte. Etwa: Dein Johann Sebastian war nicht der Einzige, der in den Osten geschickt wurde? Sie brachte es nicht über sich, Mareks Namen zu erwähnen, nicht so beiläufig, als wäre er nur einer von vielen. Obwohl er tatsächlich nur einer von vielen war.
Die ersten Überlebenden aus den Konzentrationslagern kamen bei ihnen an, Menschen, die man nicht nach Hause zurückschicken konnte, weil es dieses Zuhause nicht mehr gab und weil sie in einem so schlechten körperlichen Zustand waren, dass man sie erst einmal aufpäppeln musste. Hanna und Rachel standen im Hof und schauten zu, wie sie aus den Bussen stiegen. Es waren bis auf die Knochen abgemagerte Männer und Frauen, die sich so langsam vorwärtsbewegten, dass Hanna sie erschrocken anstarrte und fürchtete, sie könnten noch langsamer werden und im Gehen sterben, ohne dass es jemand merkte.
»Sie sehen aus, als würden sie noch nicht mal das Desinfizieren und das Duschen überleben«, sagte Rachel entsetzt. Und leise fügte sie hinzu: »Schaust du auch, ob deine Mutter dabei ist?«
Hanna schluckte, bevor sie ebenso leise antwortete: »Ich weiß gar nicht, ob ich meine Mutter erkennen würde, wenn sie eine von ihnen wäre.« Aber natürlich suchte sie in den ausdruckslosen, toten Gesichtern nach den Zügen ihrer Mutter, nach der Erinnerung an die Züge ihrer Mutter. Am liebsten wäre sie hingelaufen und hätte jeden Einzelnen gefragt: Riwke Salomon? Haben Sie da, wo Sie herkommen, Riwke Salomon aus Leipzig getroffen? Eine kleine, dünne, traurige Frau?
Aber dünner und trauriger als diese Menschen konnte niemand aussehen.
Im Flur vor dem Büro wurden die ersten Listen ausgehängt, Listen mit Namen von Überlebenden und von Toten, vor allem von Toten. Alle Neuankömmlinge wurden ausführlich befragt, wen sie dort, wo sie herkamen, lebend gesehen hatten, wie die Betreffenden hießen und woher sie stammten, und von welchen Mithäftlingen sie sicher wüssten, dass sie tot waren. Alles wurde penibel aufgeschrieben und die Listen mit den Namen wurden von Tag zu Tag länger. Bald reichte die eine Wand nicht mehr aus, auch die gegenüberliegende Wand füllte sich mit Blättern, vor allem, als bald auch Listen aus anderen Sammelstellen eintrafen, viele Listen.
Hanna und Samuel standen davor und gingen die Reihen durch, einen Namen nach dem anderen. Manche Listen waren alphabetisch geordnet, andere nicht, das erschwerte das Suchen. Hanna stellte erstaunt fest, dass der Name Salomon gar nicht so selten war. Und welchen Vornamen hatte ihre Mutter angegeben? Riwke? Rebekka? Oder Sarah? Schließlich hatten alle Juden einen zweiten Vornamen in ihre Papiere eintragen lassen müssen, die Männer Israel und die Frauen Sarah. Und welchen Heimatort hatte sie genannt? Ihr schtetl in Polen oder Leipzig? Und dann, plötzlich, entdeckte sie den Namen, er sprang ihr in die Augen und nahm ihr den Atem: Salomon, Riwke. Ihr Herz machte einen Satz und begann zu rasen, ihre Stimme überschlug sich und ihre Hand zitterte, als sie auf den vertrauten Namen deutete. »Sami, schau doch, da!«
Aber Samuel legte ihr den Arm um die Schulter und hielt sie fest. »Nicht, Hanna! Diese Riwke Salomon ist aus Ungarn, Hanna, da steht’s doch, aus Ungarn.«
Es war wie ein Schlag. Hanna spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf in die Beine sackte, wie ihre Knie weich wurden, in ihren Ohren rauschte es und alles um sie herum verschwamm. »Ja, natürlich«, sagte sie, als sie sich endlich gefasst hatte. »Ja, natürlich. Wie dumm von mir. Als könnte es nicht noch andere Frauen geben, die Riwke Salomon heißen.«
Sie drehte sich um und verließ den Flur. Im Schlafsaal legte sie sich auf ihr Bett und starrte hinauf zu der hellen Decke, an der ein paar Fliegen herumkrabbelten. Wimmelnde schwarze Punkte, die sich in ziellosen Kreisen umeinanderbewegten, ohne dass man verstehen konnte, was sie miteinander zu tun hatten.
Die Enttäuschung war groß, aber Hanna gab nicht auf. Gleich am nächsten Tag fing sie wieder damit an, Namen zu lesen. Jeden Morgen nach dem Frühstück lief sie zum Flur und stellte sich zu all den anderen, die ebenfalls nach Angehörigen und Freunden suchten, stand stundenlang vor den Listen und las Namen von Überlebenden, Namen von Toten. Es waren so viele, so unvorstellbar viele. Und weil sie den Namen ihrer Mutter nicht fand, dachte sie sich alle möglichen Szenarien aus, die sie wenigstens für ein paar Augenblicke hoffen ließen, ihre Mutter sei noch am Leben. Sie könnte irgendwo an einem abgelegenen Ort sein, wo es keine Möglichkeit gab, sie zu befragen und in eine Liste von Überlebenden einzutragen. Vielleicht hatte sie vorübergehend das Gedächtnis verloren. Oder sie war so krank, dass sie ihren Namen nicht sagen konnte. Noch nicht.
Sie suchte unter den Überlebenden sogar nach Miras Namen, obwohl sie doch wusste, dass sie tot war. Sie selbst hatte schließlich, als sie befragt wurde, Miras Namen genannt. Mira Ascher, geboren 1922 in Leipzig, gestorben in Theresienstadt, an einer Lungenentzündung. Das Todesdatum? Keine Ahnung, es muss im Dezember 1944 gewesen sein, Anfang oder Mitte Dezember. Wir hatten keinen Kalender. In Theresienstadt gab es keine Vergangenheit und keine Zukunft und die Gegenwart war sinnlos, warum sollten wir auf ein Datum achten? Es war kalt, wir froren, wir hatten nichts mehr, was wir in den Ofen stecken konnten. Ich weiß noch genau, dass frischer Schnee lag, als wir Mira ins Krankenhaus brachten. Vier Tage später war der Schnee zu Matsch geworden und Mira war tot.
»Ich habe sie nicht gesehen«, sagte sie zu Samuel. »Die Schwester hat gesagt, sie wäre schon im Krematorium. Aber sie war seltsam, diese Schwester, und einen Arzt haben wir gar nicht zu Gesicht bekommen. Manchmal glaube ich nicht, dass sie tot ist. Dann denke ich, dass es ihr vielleicht gelungen ist zu fliehen. Dass der Arzt oder die Schwester ihr bei der Flucht geholfen haben. Vielleicht haben sie ja nur gesagt, sie wäre gestorben, damit niemand nach ihr sucht. Das könnte doch sein, oder?«
Samuel schüttelte den Kopf.
Ein paar Tage später forderte er sie abends nach dem Essen zu einem Spaziergang auf. Es war einer jener Sommerabende, wie man sie nur in nördlichen Ländern kennt, ein Abend, der erst nach einer langen Dämmerung für wenige Stunden in eine schwerelose Dunkelheit übergehen würde. Der Himmel war wolkenlos, ein blasser Mond tauchte alles in weißliches Licht. Hand in Hand gingen sie durch die Wiese zum nahen Waldrand. Hinter einem Gebüsch setzten sie sich auf den Boden, der noch ein bisschen warm war vom vergangenen Tag. Samuel riss ein paar Grasbüschel heraus und glättete den Boden mit der flachen Hand, die sich im Mondlicht blass gegen die dunkle Erde abhob. Dann holte er Streichhölzer und zwei Kerzen aus seiner Jackentasche, zündete eine an und steckte sie in die vorbereitete Fläche, bevor er Hanna die zweite hinhielt. »Für Johann und Mira«, sagte er. Hanna zündete ihre Kerze an seiner an und steckte sie ebenfalls in die Erde.
Samuel legte die Hand auf ihren Arm, eine Berührung, die ihr inzwischen vertraut war. »Wenn es kein Grab gibt, geht die Trauer ins Leere«, sagte er. »Man braucht einen Ort, an dem man seine Gedanken und Gefühle festmachen kann. Ohne einen Ort oder ein Bild fällt es einem schwer, an die Realität zu glauben, auch wenn sie offensichtlich ist. Diese beiden Kerzen sollen ihre Gräber sein.« Und dann sprach er das Kaddischgebet*, das hinterbliebene Söhne überall in der Welt für ihre toten Eltern sagen.
»Ich glaube nicht, dass Mira das gewollt hätte«, sagte Hanna, als er wieder schwieg. »Sie war nicht religiös. Sie hat nicht daran geglaubt, dass man den König der Welt mit Gebeten bestechen kann. Sie hat noch nicht einmal geglaubt, dass er der König der Welt ist.«
»Es geht nicht um Bestechen und es geht nicht um Glauben, es geht um ein Ritual, das unserer Trauer eine Form gibt«, sagte Samuel. »Johann war übrigens religiös. Und gib doch zu, schaden kann es nichts.«
Hanna fing an zu weinen. All die Tränen um Mira, die sie in Theresienstadt tief in sich vergraben hatte, flossen jetzt aus ihr heraus. Auch Samuel weinte. Sie weinten beide und versuchten gar nicht, sich gegenseitig zu trösten. Es gab keinen Trost. Später, als sie sich beruhigt hatten, fragte Hanna: »Hast du noch eine Kerze?«
Samuel nickte, hielt ihr eine weitere Kerze und die Streichhölzer hin. »Für deine Mutter?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, für meine Mutter gebe ich die Hoffnung noch nicht auf. Diese Kerze ist für meinen Schutzengel.« Sie zündete die Kerze an und steckte sie ebenfalls in die Erde, neben die beiden anderen, die schon zur Hälfte abgebrannt waren. Und dann erzählte sie ihm von Marek, langsam und stockend erzählte sie ihm alles, was ihr einfiel. Samuel hörte ihr schweigend zu, sein Gesicht mit den halb geschlossenen Augen sah im Mondlicht so schön aus wie damals, an jenem verhängnisvollen Abend vor der Deportation, als er für seine Familie auf der Geige gespielt hatte, und wie damals warfen seine Wimpern Schatten auf die Haut, die nun blass und durchsichtig war. Aber auch heute dachte Hanna, dass sie noch nie einen so schönen Menschen gesehen hatte. Seine Schönheit war zerbrechlicher als früher, dadurch aber umso ergreifender. Sie legte ihre Hand auf seine. Seine Finger waren sehr lang und dünn. »Marek hatte ganz ähnliche Hände wie Mira«, sagte sie leise. »Breite, kräftige, zupackende Hände.«
Lange blieben sie so sitzen, schweigend, in ihre Erinnerungen versunken. Erst allmählich nahmen sie das Rascheln kleiner Tiere im Laub wahr, hörten die Bäume rauschen und das Flügelschlagen von Nachtvögeln über ihren Köpfen, die lang gezogenen, unheimlichen Rufe. Sie blieben sitzen, bis alle drei Kerzen erloschen waren, dann gingen sie zurück.
Eines Tages wurde Hanna ins Büro gerufen, dort warte Besuch auf sie, sagte man ihr. Aufgeregt rannte sie los. Sie wusste, dass es nicht ihre Mutter sein konnte, das war ausgeschlossen, aber die Hoffnung, so unsinnig sie auch sein mochte, ließ sich nicht einfach zur Seite schieben. Es war nicht ihre Mutter, natürlich nicht, sie hatte es ja gewusst. Trotzdem blieb sie in der Tür stehen und kämpfte mit der Enttäuschung. Es war Schula, in einem gelben Kleid und mit hochgesteckten Haaren, die, als sie Hanna sah, von ihrem Stuhl aufsprang und sie umarmte. Hanna wurde steif, sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Das Gesicht, das jetzt so nah vor ihrem war, kannte sie gut, doch es schien aus einer anderen Welt zu kommen. Hanna hatte das seltsame Gefühl, als wäre sie aus der Zeit gefallen. Alles kam ihr falsch vor.
»Hanna«, sagte Schula und weinte laut, »ach, Hanna.«
Ein Mann trat zu ihnen. Hanna erkannte Jakob Korn, Schulas Ehemann, den sie nur ein- oder zweimal gesehen hatte. Er war kleiner als in ihrer Erinnerung und dicker war er auch. Unbeholfen hielt er ihr die Hand hin und zog sie verlegen zurück, als Hanna sie nicht ergriff. »Wir konnten jetzt erst kommen«, sagte er, »aber Schula hat die ganze Zeit von nichts anderem gesprochen, seit sie erfahren hat, dass du lebst.«
»Wir haben uns solche Sorgen um euch gemacht«, sagte Schula. »Und wir waren so glücklich, als wir hörten, dass ihr am Leben seid.«
»Mira nicht«, sagte Hanna.
Schula zog ein weißes Taschentuch aus ihrer Jackentasche und putzte sich umständlich die Nase. »Ja, ich weiß.« Sie wischte sich die Tränen ab. Hanna betrachtete sie, als wäre sie innerlich ein paar Schritte zurückgetreten. Diese Frisur macht ihren Kopf nicht größer, dachte sie, und ihre Hüften sind noch breiter geworden als früher. Und warum trägt sie ein gelbes Kleid? Weiß sie denn nicht, dass ihr Blau viel besser steht?
Rachel, Bella und Rosa kamen nun auch. Schula wurde blass, als sie Rachels verkrüppelte Schulter sah, und wandte schnell den Kopf ab. Aber Hanna hatte ihren Blick gesehen, und an Rachels spöttisch verzogenem Mund war zu erkennen, dass er auch ihr nicht entgangen war. Schließlich saßen sie an einem der Tische im Aufenthaltsraum, tranken den bitteren schwarzen Kaffee, der ihnen aus der Küche gebracht wurde, und knabberten lustlos an den trockenen Keksen, nur um etwas zu tun zu haben.
Schula redete und redete, die Wörter strömten unaufhörlich aus ihrem Mund und füllten den Raum. Hanna hatte das Gefühl, in der Flut von Wörtern und Sätzen, von Seufzern und schnappenden Atemzügen zu ertrinken. Es war, als wollte Schula jeder Möglichkeit ausweichen, Fragen stellen zu müssen, als wollte sie nicht mal den Gedanken an mögliche Fragen aufkommen lassen. Sie erzählte von ihrem kleinen Sohn, der Karol hieß und den sie und ihr Mann für zwei Tage zu ihren Schwiegereltern gebracht hatten, die überglücklich waren über diesen Enkel. »Wir wohnen jetzt noch in Göteborg«, sagte sie, »aber wir haben vor, bis Ende des Jahres nach Dänemark zurückzukehren, zusammen mit Kobis Eltern und mit Inger und ihrem Mann.«
Dann beschrieb sie ausführlich ihr Leben als Mutter und berichtete von den anderen Mädchen der Gruppe, die damals, bei der großen Aktion gegen die dänischen Juden, alle gerettet und mit Fischerbooten nach Schweden gebracht worden waren. »Rebekka hat dieses Jahr Abitur gemacht und will studieren, Psychologie oder Soziologie, Ruthi und Towa warten auf eine Möglichkeit, nach Palästina auszuwandern, Eva macht eine Ausbildung als Krankenschwester, und Elisabeth hat sich mit einem Schweden verlobt, einem anständigen jungen Mann, der in einem großen Anwaltsbüro arbeitet. Und Efraim hat eine junge Lettin mit einem Zertifikat* nach Palästina geheiratet, letzte Woche sind sie abgereist, vielleicht sind sie ja schon angekommen.«
Hanna hörte zu und dachte: Warum erzählt sie das alles? Merkt sie nicht, dass es nichts mit mir zu tun hat, nichts mit uns? Das Zuhören fiel ihr schwer, sie spürte, dass sie sich nicht wirklich für das interessierte, was Schula erzählte, nicht für die anderen Mädchen, nicht für Efraim und nicht für Schula selbst.
Und als Schula nach einer kleinen Pause endlich anfing zu fragen, wie es ihnen ergangen sei, beantwortete Hanna ihre Fragen einsilbig und widerstrebend. Schula war ihr fremd geworden, als wären ihrer beider Leben durch eine unüberwindliche Kluft getrennt. Sie hatten nichts mehr miteinander zu tun. Die Zeit in Theresienstadt hatte offenbar nicht nur zu einer räumlichen Distanz zwischen ihr und allen Menschen geführt, die dieses Elend nicht miterlebt hatten, sondern auch zu einer inneren. Die alte Vertrautheit war verschwunden und stellte sich auch dann nicht wieder ein, als Schula unter Tränen berichtete, sie wisse nichts von ihren Eltern, die von Amsterdam aus in ein Lager im Osten gebracht worden seien. Ihre Brüder hätten Gott sei Dank beide überlebt, sie seien noch rechtzeitig untergetaucht.
Hanna spürte selbst, wie wortkarg sie war, und sie bewegte sich so linkisch und ungeschickt, dass sie beim Nachgießen ihre Tasse umstieß und der Kaffee auf den Boden tropfte. Verlegen, aber auch dankbar für diesen Vorwand, lief sie in die Küche, holte einen Putzeimer und einen Lappen und wischte den verschütteten Kaffee vom Boden. Ihr fiel auf, dass auch Rachel, Bella und Rosa kaum sprachen und ebenso erleichtert zu sein schienen wie sie, als Schula und ihr Mann sich verabschiedeten.
»Sie war mir so fremd«, sagte Hanna. »Ging es euch auch so?«
Rachel nickte. »Ja, irgendwie klappt es nicht mehr. Und dabei konnte ich sie früher sehr gut leiden. Ich weiß nicht, ob sie es ist, die sich verändert hat, oder ob wir nicht mehr die sind, die wir mal waren.«
»Ich finde es traurig«, sagte Bella. »Sie kann doch nichts dafür, dass sie nicht im Lager war, das kann man ihr doch nicht vorwerfen.«
»Stimmt, vorwerfen kann man es ihr nicht«, sagte Hanna, »aber trotzdem …« Ihr fiel nichts ein, womit sie ihr Unbehagen erklären konnte, und sagte schließlich hilflos: »Es ist, als wäre sie auf der einen Seite von einem Fluss und wir auf der anderen.«
»Wir müssen endlich anfangen, Brücken zu bauen«, sagte Rosa leise. »Sonst werden wir nie frei und bleiben unser Leben lang in Theresienstadt.«
Hanna warf ihr einen erstaunten Blick zu. Eine solche Überlegung und solche Worte hätte sie Rosa nicht zugetraut. Verdammt, warum hat sie früher nie etwas gesagt?, dachte sie und gab sich die Antwort sofort selbst: Wir haben sie nie nach ihrer Meinung gefragt, sie ist einfach mitgelaufen, so wie ich lange Zeit einfach mitgelaufen bin.
Ein paar Tage später kamen Schlichim* aus Palästina ins Lager, zwei braun gebrannte junge Männer und eine Frau mit Sommersprossen und karottenroten Haaren. Sie hielten Vorträge und sprachen mit den Menschen, erzählten von Kibbuzim, von vielen neuen Siedlungen und forderten alle auf, nach Palästina zu kommen, in die neue alte Heimat. Sie sagten, der einzige Schutz gegen Judenhass und Verfolgung sei es, unter Juden zu leben. Einwände, dass die britische Mandatsregierung die Einwanderung von Juden nur in sehr begrenzter Anzahl zulasse, taten sie mit einer Handbewegung ab. Die zionistische Organisation würde alte Schiffe kaufen und herrichten, sagten sie, und man würde allen, die bereit seien, sich ihnen anzuschließen, bei der illegalen Einwanderung helfen. »Wenn ihr erst an Land seid, werdet ihr an den Engländern vorbei in einen Kibbuz gebracht, wo euch keiner findet. Außerdem sind ihre Lager schon überfüllt, sie können bald keine illegal eingewanderten Juden mehr einsperren. Bis wir passende Schiffe gefunden haben, bringen wir euch nach Frankreich, in eine Hachschara, dort wird man euch auf die illegale Einwanderung vorbereiten.«
Die Schlichim sahen jung aus, kräftig, gesund und vor allem sehr selbstsicher. Es fiel Hanna schwer zu glauben, dass sie ebenfalls Juden waren. Sie hatten so wenig mit den Juden zu tun, die sie kannte. Aber die Sehnsucht nach Palästina packte sie wieder. Das Gefühl war heftiger und drängender als früher bei ihren Gesprächen im Zentrum. Was sie damals empfunden hatte, kam ihr im Nachhinein wie kindliche Schwärmerei vor, jetzt war ihr Wunsch real, körperlich spürbar. Eine Notwendigkeit. Es war die Sehnsucht nach einem Zuhause, die sie erfüllte, die Sehnsucht nach einem Leben, das nicht nur von Regeln bestimmt war, die andere aufgestellt hatten. Sie dachte auch an ihre Schwester Lea, die vielleicht die einzige Verwandte war, die sie noch hatte, und langsam keimte so etwas wie Zuversicht in ihr auf, ein schwaches Pflänzchen, aber sie spürte, dass es wachsen konnte.
Und dann entdeckten sie eines Tages den Namen von Rachels Vater auf der Liste der Überlebenden. Doktor Moses Goldberg, aus Leipzig. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Rachel konnte es kaum glauben. Sie setzte sich sofort hin und schrieb an den Suchdienst, den das Rote Kreuz eingerichtet hatte, an die UNRA*, an die Jewish Agency*, an die amerikanische, die britische und die französische Militärverwaltung in Deutschland. Sie musste lange auf eine Antwort warten, die Post funktionierte auch Wochen nach Kriegsende noch nicht richtig, doch endlich hielt sie einen Brief ihres Vaters in den Händen. »Er ist in einem Lager für displaced persons* in der Nähe von München«, sagte sie und wandte den Blick nicht von dem Brief. »Er hat überlebt, aber er ist noch zu schwach, eine Fahrt nach Schweden sei ausgeschlossen, schreibt er. Das heißt, dass ich zu ihm fahren muss.«
Hanna saß mit Rachel auf ihrem Bett im Schlafsaal, wie sie auch in Theresienstadt oft mit ihr auf einer Pritsche gesessen hatte. Sie spürte deutlich die Nähe zwischen ihnen, doch zugleich ahnte sie auch ihre bevorstehende Trennung. »Wie willst du hinkommen?«, fragte sie. »Die Züge fahren unregelmäßig, und man sagt, sie seien auch hoffnungslos überfüllt.«
»Ich werde es schon schaffen«, sagte Rachel. Eine Weile blieb es still, sie wischte sich eine Träne ab, bevor sie weitersprach. »Außerdem muss ich dir noch etwas sagen: Ich komme nicht mit nach Palästina.«
Hanna erschrak. »Warum nicht? Wir haben doch so lange davon geträumt. Seit Jahren haben wir über nichts anderes gesprochen.«
Rachel berührte ihre schiefe Schulter, strich sich mit den Fingern der rechten Hand über ihren verdrehten Arm. Es war eine zärtliche Bewegung, die Hanna schon oft gesehen hatte und die ihr jedes Mal ans Herz griff und sie so rührte, dass sie schlucken musste. Rachels Stimme war leise und klang wie von weit her, als sie sagte: »Für mich hat es sich ausgeträumt. Ich werde immer verkrüppelt bleiben. Ich habe es gewusst und der Arzt hier hat es mir bestätigt. Zu spät, da kann man nichts machen. Höchstens kleine Korrekturen, aber nichts Grundsätzliches.« Ihre Stimme war noch leiser geworden. Dann richtete sie sich auf und sagte laut und herausfordernd: »Sei doch ehrlich, kann ich etwa beim Aufbau eines Landes helfen? Was kann ich schon groß in Palästina tun?«
»Du könntest Lehrerin werden«, sagte Hanna unsicher, »oder Sekretärin. Es gibt doch genug andere wichtige und nützliche Arbeiten, nicht nur in der Landwirtschaft.«
Rachel schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Ich habe lange darüber nachgedacht, mein Entschluss steht fest. Ich werde wieder zur Schule gehen, in Dänemark, denke ich, und später Medizin studieren.«
»Warum?«, fragte Hanna. »Willst du das nur tun, um deinem Vater zu gefallen? Um ihm den Sohn zu ersetzen?«
Rachels Widerspruch kam vielleicht etwas zu schnell. »Milan steht auf keiner Liste«, sagte sie. »Milan kann noch immer zurückkommen. Solange er nicht auf einer Liste steht, könnte er noch am Leben sein. Genau wie meine Mutter. Und deine. Wir dürfen nicht aufhören zu hoffen.«
»Das war keine Antwort auf meine Frage«, sagte Hanna. Sie starrte auf ihre Hände, die in den letzten Wochen so glatt geworden waren, dass sie ihr noch immer fremd vorkamen.
Rachel zögerte, bevor sie antwortete: »Nein, ich glaube nicht, dass es wegen meines Vaters ist. Ich hatte es mir schon vorher überlegt, bevor ich wusste, dass er noch lebt. Ich möchte Ärztin werden, um gegen Krankheiten zu kämpfen, gegen Schmerzen. Außerdem habe ich keine große Wahl.« Wieder berührte sie ihre Schulter. »Mag sein, dass ich nicht so begabt bin wie mein Bruder Milan. Aber ich habe mir früher, in der Schule, auch keine besondere Mühe gegeben. Wozu auch, Milan war sowieso viel besser. Aber jetzt weiß ich, was ich will und dass ich es schaffen kann.« Sie schwieg und schaute Hanna an, bevor sie fortfuhr: »Außerdem glaube ich, ich bin damals nur zum Bund gegangen, weil Joschka und Mira hingegangen sind. Es war wie ein Sog. Und der Hauptgrund war vermutlich, dass ich meinen Eltern eins auswischen wollte. Sie waren immer gegen den Zionismus, sie haben an eine Zukunft in Deutschland geglaubt. Sie waren assimiliert, etwas anderes haben sie nie angestrebt. Dass ich mich den Zionisten angeschlossen habe, hat sie tief getroffen. Damals wollte ich unbedingt weg von zu Hause, möglichst weit weg. Aber jetzt ist alles anders geworden. Kannst du das nicht verstehen?«
»Doch«, sagte Hanna, »doch, natürlich verstehe ich das. Jetzt ist wirklich alles anders geworden. Aber ich habe immer geglaubt, wir gehören zusammen. Wir waren mal fünf. Mira ist nicht mehr bei uns, und Rosa will, glaube ich, nach Amerika zu ihrem Onkel. Wenn du jetzt ebenfalls weggehst, bleiben nur noch Bella und ich übrig.«
Rachel hob die rechte Schulter, ließ sie wieder fallen. »Na und? Als wir Ahrensdorf verlassen haben, waren wir neun. Das war mal, Hanna, begreifst du das nicht? Diese Zeit ist vorbei, Gott sei Dank! Oder willst du sie etwa zurückhaben?«
Hanna schüttelte den Kopf.
Ein paar Tage später reiste Rachel ab, und Hanna hatte das Gefühl, als hätte man ihr einen Arm oder ein Bein amputiert.
Die Nächste, die das Lager verließ, war Rosa. Ihr Onkel hatte ihr eine Schiffskarte nach Amerika und Geld geschickt. »Ich wünsche dir viel Glück«, sagte Hanna beim Abschied, bemüht, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte einen Kloß im Hals und kämpfte mit den Tränen, obwohl ihr Rosa nie so nahegestanden hatte wie Rachel oder auch Bella.
»Ich werde dir schreiben«, sagte Rosa.
Hanna nickte. Dabei wusste sie, dass Rosa ihr nicht schreiben würde. Sie würde versuchen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, so schnell wie möglich. Und irgendwie konnte sie es sogar verstehen. Trotzdem hätte sie am liebsten geweint. »Ein Abschied nach dem anderen«, sagte sie. »Unsere Welt zerfällt.«
»Was für eine Welt?«, fragte Rosa. »Das nennst du eine Welt?«
Hanna starrte Rosa an. »Wir haben so lange zusammengelebt«, sagte sie. »Und eigentlich kennen wir uns nicht.«
»Wir haben nicht zusammengelebt«, widersprach Rosa, »wir haben uns gegenseitig beim Überleben geholfen, das ist etwas ganz anderes. Vermutlich ist es sogar viel wichtiger. Wir sollten dankbar dafür sein.« Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Ich will Musik studieren, vielleicht kann ich ja doch noch Sängerin werden, trotz der verlorenen Jahre. Falls meine Eltern zurückkommen, werden sie sich freuen. Sie haben immer gesagt, sie könnten sich nichts Schöneres vorstellen, als dass ich Sängerin werde. Besonders mein Vater hat es sich gewünscht.«
Zwei Abschiede innerhalb kurzer Zeit, es fiel Hanna schwer, mit dieser Situation fertig zu werden, umso mehr, als auch Bella bedrückt war und ihr auswich.
Der nächste Abschied ließ nicht lange auf sich warten. Die Hvids beschlossen, nach Dänemark zurückzukehren. Herr Hvid war außer sich vor Freude. Die Mühle habe den Krieg gut überstanden, hatte ihm sein ehemaliger Verwalter geschrieben, sogar die Villa sei nicht geplündert worden, der Herr könne einfach kommen und da weitermachen, wo er am 1. Oktober 1943 aufgehört hatte.
Sie saßen im Garten, als Herr Hvid seine Pläne darlegte. Sarah hatte ihre Mutter mit einem Rollstuhl hergefahren. Es ging ihr zwar deutlich besser, aber das Gehen fiel ihr noch sehr schwer. Man sah ihr an, welche Mühe es sie kostete, einigermaßen gelassen und sogar heiter zu wirken. »Zu Hause kannst du endlich zu einem guten dänischen Arzt gehen, dann kommst du bestimmt bald wieder auf die Beine«, sagte Herr Hvid und tätschelte seiner Frau die Hand. Die betonte Zuversicht in seiner Stimme wirkte nicht ganz echt.
Sarahs Lippen wurden schmal, und Hanna wusste, dass die Freundin aus Rücksicht auf ihren Vater nicht widersprach, sie wollte ihm die Freude nicht verderben. Aber ihre linke Hand umklammerte die Lehne des Rollstuhls so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Ich werde mich um meine Mutter kümmern«, sagte sie, und Hanna dachte: Ich verstehe sie. Wie gern würde ich mich um meine Mutter kümmern. Wenn sie zurückkäme.
Samuel weigerte sich, seine Eltern zu begleiten, er hatte sich für Palästina entschieden. »Ich kann nicht tun, als wäre nichts geschehen«, sagte er. »Ich will weg von Europa, in meinen Augen ist dieser Kontinent ein riesiger Friedhof. Ich will auch nicht mehr Musiker werden, ich will etwas Neues anfangen. Was, weiß ich noch nicht, aber ich werde es bestimmt herausfinden.« Er blieb dabei und ließ sich auch durch die Tränen seiner Mutter und seiner Schwester und die offensichtliche Enttäuschung seines Vaters nicht von seinem Entschluss abbringen.
Hanna fiel der Abschied von Sarah sehr schwer, noch schwerer, als ihr der Abschied von Rachel gefallen war. Sie umarmte sie und wollte sie gar nicht loslassen. »Du bist wie eine Schwester für mich, warum muss ich dich jetzt auch noch verlieren?«, sagte sie. »Warum kann ich nicht mal jemanden behalten, den ich lieb habe?«
Leise sagte Sarah: »Vielleicht komme ich irgendwann auch nach Palästina, aber jetzt geht es eben noch nicht. Meine Mutter braucht mich, du siehst doch, dass sie nicht mehr allein zurechtkommt.«
Frau Hvid weinte, als sie sich von Hanna verabschiedete. »Willst du nicht doch mit uns kommen, nach Dänemark? Für uns bist du wie eine Tochter.«
Hanna schüttelte den Kopf. »Nein, ich will nach Palästina, ich will endlich einmal irgendwo zu Hause sein. Irgendwo, wo man mich nicht einfach vor die Tür jagen kann. Ich glaube, ich habe es noch nie so sehr gewollt wie jetzt.«
Ein paar Tage später war alles organisiert. Ein Sanitäter trug Frau Hvid zu dem Jeep, der sie nach Dänemark bringen sollte. Sarahs Gesicht war ernst und bedrückt, nur Herr Hvid strahlte. Samuel und Hanna standen im Hof und winkten, als der Jeep abfuhr.
Sie winkten auch noch, als von dem Auto nichts mehr zu sehen war, dann gingen sie langsam, als könnten sie den Abschied nicht fassen, die Straße entlang in die Richtung, in die der Jeep gefahren war. Die Sonne kam immer wieder hinter den Wolken hervor, die Luft war klar, es roch nach Erde und Gras. Auf einem Acker hackten Frauen Kartoffeln, in der Ferne holperte ein Pferdewagen über einen Feldweg und zog eine dichte Staubwolke hinter sich her. Nach einer Weile drehten sie um und gingen ebenso langsam wieder zurück. Sie sagten nichts, aber das war auch nicht nötig. Unsere Freundschaft hat sich ganz natürlich entwickelt, ohne dass ich etwas dazugetan habe, dachte Hanna, so selbstverständlich wie damals mit Axlan. Sie griff nach Samuels Hand.
Im Quarantänelager herrschte inzwischen reges Treiben, Leute überquerten den Hof auf dem Weg zum Speisesaal. Vor dem Büro stand eine Gruppe dunkel gekleideter Männer, einer hob den Arm und deutete hinauf zum Himmel. Wind trieb kleine, weißgesäumte Wolken vor sich her wie eine Herde Schafe. Hanna überlegte, ob der Himmel in Palästina auch so weit und hoch war wie hier. Zumindest war er dort die meiste Zeit des Jahres blau, dachte sie. Was für ein Blau das wohl war? So blau wie die schönste Kornblume? Ein plötzlicher Windstoß ließ sie erschauern. Samuel legte den Arm um ihre Schulter. »Wir bleiben zusammen, nicht wahr?«, fragte er. Seine Stimme klang weich.
Hanna schaute ihn an. Sie war nicht überrascht, sie hatte es die ganze Zeit gewusst. Sie dachte an die Veilchen, die er ihr auf der Fahrt von Theresienstadt nach Schweden in die Hand gedrückt hatte, und lächelte. »Ja«, sagte sie. »Ja, wir bleiben zusammen.«
Hanna
Wir sind zusammengeblieben, Sami und ich. Drei Jahre sind seit der Befreiung vergangen, drei Jahre, in denen viel geschehen ist, aber das ist eine andere Geschichte. Die Hauptsache ist, dass wir jetzt auf dem Schiff sind, das uns in die neue Heimat bringen wird. Zum zweiten Mal. Aber diesmal werden uns die Briten nicht vor der Küste abfangen und nach Zypern verfrachten. Diesmal nicht. Der englische Tiger hat seine Zähne verloren.
Es ist Nacht, eine warme Nacht, die an die Hitze des vergangenen Tages erinnert und die Hitze des kommenden ahnen lässt. Der Himmel ist weit und hoch und die Sterne spiegeln sich im Wasser. Noch nie habe ich so viele Sterne gesehen. Es ist, als hätt der Himmel die Erde still geküsst … Von wem stammt das? Ach ja, von Eichendorff, Mondnacht. Ein Gedicht, das ich in der Schule gelernt habe, vor vielen Jahren, in einem anderen Leben.
Mira hat die Sterne geliebt. Ich weiß noch, wie sie einmal gesagt hat, jeder einzelne Stern sei für sie ein Versprechen, eine Verheißung. Und als ich fragte, was für ein Versprechen?, hat sie geantwortet: Auf einen neuen Tag, auf eine bessere Zukunft. Wann und wo das war? In Theresienstadt, in einem anderen Leben. Ich hätte ihr damals gern geglaubt, konnte aber nicht die Zuversicht aufbringen, die sie immer hatte. Heute würde ich ihr glauben.
Im Osten zeigt ein heller werdender Streifen den beginnenden Morgen an. Vorn an der Reling steht Samuel, mein Mann, zusammen mit Jossi und Schimon, den beiden Israelis, die gekommen sind, um uns nach Erez Israel zu bringen, das meine Mutter immer Erez Jisroel ausgesprochen hat. Ich bin nicht die Einzige, die in dieser Nacht nicht schlafen kann, nicht nur wegen des Sonnenbrands, den ich mal wieder bekommen werde, weil ich gestern zu lange an Deck geblieben war. Ich habe die weiße Haut meines Vatersgeerbt, der Sonnenbrand wird mich mein Leben lang an ihn erinnern. Ich kann nicht schlafen und ich will auch nicht schlafen, ich will mit allen Sinnen die Ankunft erleben. Ich will sehen, wie die Küste, die erst nur ein schmaler, lang gestreckter Streifen sein wird, allmählich näher kommt und größer und heller wird, bis man Bäume und Häuser erkennt. Menschen. Ich will mit offenen Augen dem Land entgegenfahren, nach dem ich mich so lange gesehnt habe, dem Land, das seit drei Monaten, seit dem 14. Mai 1948, ein eigener Staat ist, offiziell von allen anderen Staaten anerkannt. Außer von den arabischen Ländern. »Wir werden um unseren Staat kämpfen müssen«, haben Jossi und Schimon gesagt, »uns wird nichts geschenkt.«
Als ob uns je etwas geschenkt worden wäre.
Wir werden am frühen Morgen in Israel ankommen. Vor anderthalb Jahren, als wir es schon einmal versuchten, war es Nacht, eine dunkle Neumondnacht, als wir die Küste Palästinas erreichten und den Engländern in die Hände fielen. Sie haben uns sofort auf Militärschiffe verfrachtet und nach Zypern gebracht, zum Hafen von Famagusta, und von dort mit offenen Lastwagen in das Internierungslager, das sie für Juden eingerichtet hatten, die versuchten, illegal in Palästina einzuwandern. Für Flüchtlinge, die die deutschen Konzentrationslager überlebt hatten, die meisten hilflos und zerbrochen durch die Zeit des Grauens, die hinter ihnen lag. Ausgerechnet die Engländer haben sie erneut in Lagern eingesperrt. Das werde ich nie verstehen. Sie hatten doch jahrelang gegen Hitler Krieg geführt, sie hatten für die Befreiung der Opfer gekämpft, wie konnten sie die Unglücklichen nun wieder einsperren, ohne die Achtung vor sich selbst zu verlieren? Aber sie haben es getan. Wo war ihr Gewissen? Wo war ihr Mitgefühl?
Sami und ich haben die lange Zeit auf Zypern gut überstanden, relativ gut, obwohl das Lager wirklich schlimm war, ich will es nicht beschönigen. Aber wir hatten uns in den Monaten im Vorbereitungslager Daphne in der Nähe von Marseille gut erholt. Wir waren jung, wir waren kräftig, zumindest im Vergleich zu vielen anderen, die aus verschiedenen DP-Lagern* direkt aufs Schiff und dann nach Zypern gekommen waren. Und wir waren zusammen. Das war, denke ich, das Wichtigste, wir hatten unsere gemeinsamen Nächte, die uns halfen, die Tage zu überstehen.
Sami hat als Krankenpfleger gearbeitet und ich bei den Kindern, den vielen elternlosen Kindern, die von der Organisation aus Waisenhäusern, aus Verstecken, von Pflegeeltern und aus Klöstern zusammengeholt worden waren. Viele von ihnen waren in einem schrecklichen Zustand, verwahrlost, körperlich und seelisch krank. Es hat mich oft so geschafft, dass ich am liebsten ständig geweint hätte. Dann konnte ich es nur aushalten, wenn ich mir gesagt habe: Aber sie leben! So viele sind umgekommen, und sie leben! Und egal wie schlimm die britischen Lager auch sind, es sind keine Vernichtungslager. Hier gibt es keine Gaskammern und keine Verbrennungsöfen. Irgendwann werden diese Kinder in Palästina sein, unter Juden, und dort werden sie gesunden, sie werden wieder lernen zu lachen, sie werden, wenn sie Glück haben, Verwandte finden, und sie werden vielleicht irgendwann vergessen, was man ihnen angetan hat.
Sami sagt immer, sie dürften es nicht vergessen, auf keinen Fall. Ich sehe das anders. Ich halte das Vergessen für eine Gnade, wenn die Erinnerung unerträglich ist und einen daran hindert, zu leben, wenn sie einen innerlich zerstört. Ich wäre dankbar, wenn ich manches vergessen könnte. Zum Beispiel, wie traurig und verloren meine Mutter ausgesehen hatte, damals, als ich sie am Bahnhof von Leipzig zum letzten Mal sah.
Meine Mutter ist so unauffällig gestorben, wie sie gelebt hat. So stelle ich es mir jedenfalls vor. Oder hat sie im letzten Moment, als sie begriff, dass sie sterben würde, laut aufgeschrien? Hat sie sich gewehrt? Ach nein! Bestimmt hat sie gedacht: Eine jüdische Frau darf nicht auffallen. So wie sie immer zu mir gesagt hat: Ein jüdisches Kind darf nicht auffallen. Wie oft ich das gehört habe. Ich erinnere mich, dass ich einmal mit ihr im Park war. Ich lief barfüßig über eine Wiese und trat auf eine Biene oder eine Wespe. Der Stich in meine Fußsohle tat schrecklich weh, ich habe laut geweint. Sie hat mir die Hand auf den Mund gelegt. Still, ein jüdisches Kind darf nicht auffallen. Und wenn Helene und ich mal Krach gemacht haben, was bestimmt nur sehr selten vorkam, hat sie uns sofort zum Schweigen gebracht. Sogar wenn wir im Treppenhaus laut gelacht haben. Still, ein jüdisches Kind darf nicht auffallen.
Ich habe ihr geglaubt, wie ich ihr immer geglaubt habe, ich bin nicht aufgefallen, nie, nirgendwo. Vermutlich falle ich noch immer nicht auf. Trotzdem habe ich mich in den Jahren seit der Befreiung verändert, ich bin älter geworden. In meiner Erinnerung bin ich in der Zeit davor ein Kind geblieben, ein fügsames Kind, in Dänemark und erst recht in Theresienstadt. Was hat die Ärztin gesagt, die mich nach meiner Ankunft in Schweden untersucht hat? Diese Verbrecher haben dir deine ganze Jugend gestohlen. Bleibt man ein Kind, wenn einem die Jugend vorenthalten wird? Mag sein. Jedenfalls habe ich immer nur alles über mich ergehen lassen, ich habe getan, was man mir gesagt hat, ich habe mich nie gewehrt. Ich war das jüdische Kind, das nicht auffällt, das Kind, das meine Mutter haben wollte. Ich habe mich beim kleinsten Windstoß schon geduckt. Ich weiß ja, dass mir nichts anderes übrig geblieben ist, aber ich hätte es wenigstens einmal probieren können. Habe ich eigentlich je »ich will« gesagt? Ich erinnere mich nicht.
Das ist jetzt anders. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und ich will endlich leben. Ich will kein Opfer mehr sein, nie wieder. Trotzdem werde ich die Angst nicht ganz los, dass ich vielleicht zum Opfer geboren bin, wie meine Mutter zum Opfer geboren war.
Ach, Hanna, du bist schon immer ein kleines Schaf gewesen, würde Mira jetzt sagen. Ein bisschen herablassend und ein bisschen zärtlich. Ich glaube, ich habe Mira oft nicht verstanden. Ich habe so vieles nicht verstanden, und ehrlich gesagt, ich habe auch nicht darüber nachgedacht, es ist mir erst hinterher klar geworden. In Theresienstadt war ich überzeugt, wir seien Freundinnen, weil wir immer zusammen waren. Rosa hat es viel besser kapiert als ich. »Wir haben nicht zusammengelebt, wir haben uns gegenseitig beim Überleben geholfen«, hat sie gesagt. Sie hat recht gehabt. Freundschaft war nicht wichtig, Zuneigung war nicht wichtig. Wichtig war nur die Tatsache, dass wir uns aufeinander verlassen konnten. Solidarität hat Mira es genannt. Wir haben ihr so viel zu verdanken. Ich habe ihr so viel zu verdanken.
Ich weiß jetzt, dass du tot bist, Mira, natürlich weiß ich es. Trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, du stehst neben mir und ich brauchte nur die Hand auszustrecken, um dich zu berühren. Oder du stehst hinter mir und legst mir die Hände auf die Schultern, diese kräftigen, zupackenden Hände, und schiebst mich vorwärts. Und ich meine, deinen Atem an meinem Ohr zu spüren und deine Stimme zu hören: Los, Hanna, du schaffst das! Aufgeben gilt nicht.
Dann könnte ich weinen vor Trauer, dass es dich nicht mehr gibt. Als ich Jankas Namen auf einer Liste entdeckte, ihren und die Namen ihrer Eltern und ihrer Brüder, habe ich nicht nur um Janka geweint, sondern auch um dich. So war es auch, als ich vom Tod meiner Mutter erfuhr, da habe ich nicht nur um sie geweint, sondern auch um dich, immer wieder um dich, Mira. Meine Mutter war im Januar 1942 nach Riga deportiert worden, die Listen haben es bewiesen, zusammen mit ihrer Kusine Hetty und etwa siebenhundert anderen Juden aus Leipzig. Soviel ich weiß, hat keiner von ihnen überlebt. Vermutlich gehörte meine Mutter zu jenen, die gleich nach ihrer Ankunft erschossen wurden. Ich will nicht darüber nachdenken, ich will es mir nicht vorstellen. Eigentlich hoffe ich, dass sie schon während des Transports gestorben ist, so schwach und kränklich, wie sie war. Und vielleicht hat ihr ja jemand die Hand gehalten, so wie ich der alten Frau im Zug nach Theresienstadt die Hand gehalten habe, und hat ihr dann die Augen zugedrückt. Diese Vorstellung ist kein Trost, aber sie ist leichter zu ertragen.
Ich denke oft an meine Mutter, weit häufiger, als ich in Dänemark oder Theresienstadt an sie gedacht habe. Und dann werfe ich mir vor, dass sie gestorben ist, ohne dass ich es gespürt habe. Im Januar 1942 war ich noch auf dem Lindenhof, ich hätte merken müssen, dass ich keine Mutter mehr habe. Ein Kind spürt doch den Verlust der Mutter. Aber ich habe damals nur an mich gedacht. Jetzt sehe ich sie immer vor mir und weiß nicht, welches der drei Bilder ich für meine Trauer wählen soll, die Frau mit den entzündeten Augen, die sich über die Nähmaschine beugt, die Frau, die auf der Hochzeitsfeier im Naundörfchen ausgelassen getanzt und gesungen hat, oder die lächelnde Mutter von dem Foto, das sie mir damals in den Rucksack gelegt hat. Es sind drei Mütter, drei verschiedene Frauen, die ich nicht zusammenbringe, die ich nie mehr zusammenbringen werde. Es zerreißt mir das Herz und es zerreißt mir die Gedanken.
Das einzige Bild, das ich ganz deutlich vor Augen habe, ist die Frau, die einsam und verloren auf dem Bahnsteig steht und dem Zug nachschaut, der ihr die Tochter nimmt, aber sie ist so weit entfernt, dass ich ihr Gesicht nicht mehr erkennen kann. Das Foto der lächelnden Mutter ist übrigens wieder bei mir, Bente und der Bauer haben mir den braunen Umschlag mit ihrem und Leas Foto und den Postkarten ins schwedische Quarantänelager geschickt, zusammen mit meinen Kleidern, die ich zurückgelassen hatte, und dem silbernen Armband, das ich von Jesper und Marie zu meinem fünfzehnten Geburtstag bekommen habe. Außerdem auch Wurst, Kekse, gesalzene Heringe, Kaffee und Schokolade. Es war ein wunderbares Paket, das mich zu Tränen gerührt hat.
Ich habe auch um dich geweint, Mira, als ich von Frau Hvids Tod erfahren habe. Damals waren wir noch im Vorbereitungslager in der Nähe von Marseille. Samis Mutter hat die Befreiung nicht lange überlebt, noch nicht mal ein Jahr. Sarah ist trotzdem nicht zu uns gekommen, sie hat sich dafür entschieden, bei ihrem Vater zu bleiben, sie hilft ihm bei der Büroarbeit und ist, wie sie schreibt, seine rechte Hand geworden. Der Mühle geht es gut, sehr gut sogar, Herr Hvid hat recht behalten, nach dem Krieg brauchten die Menschen Brot, viel Brot. Ich habe Sami gefragt, ob es ihm nicht leidtut, weggegangen zu sein und auf die Mühle verzichtet zu haben. Er hat nur gelacht. »Mein Vater lässt sich von der Mühle auffressen«, hat er gesagt, »und mir tut Sarah leid, dass sie sich von ihm vor den Karren spannen lässt.«
Wir sind froh, dass Frau Hvid noch erfahren hat, dass wir geheiratet haben, Sami und ich. Warum wir geheiratet haben? Eigentlich nur, damit uns keine Behörde, keine Obrigkeit mehr trennen kann. Für uns hätten wir den Rabbiner nicht gebraucht, auch nicht die vielen Glückwünsche. Trotzdem war es ganz schön. Und manchmal macht es mir auch Vergnügen, von Sami als »meinem Mann« zu sprechen. Wenn Sami »meine Frau« sagt, wird er immer ein bisschen verlegen. Dann muss ich mir ein verräterisches Lächeln verkneifen, weil ich weiß, woran er denkt. Ich habe nie über solche Dinge mit dir gesprochen, Mira. Hast du das eigentlich kennengelernt? Du weißt schon, was ich meine. Es gibt viele hässliche Wörter dafür, aber Sami nennt es »Liebe machen«, wie die Franzosen. Wir haben es zum ersten Mal in Schweden gemacht, an der Stelle hinter dem Gebüsch, wo wir auch Kerzen für dich, Johann und Marek angezündet haben.
Mit Sami habe ich gelernt, meinen Körper zu lieben. Auf einmal bestand er nicht mehr nur aus einem leeren Magen und juckender Haut. Früher war es mir nur wichtig, etwas in den Bauch zu bekommen, und mein größter Traum war es, irgendwann einmal satt zu sein, so richtig satt. Jetzt weiß ich, dass Sattsein nicht alles ist. Sogar am Leben zu sein ist nicht alles. Ich habe etwas Neues kennengelernt, etwas, das mir Freude und Zufriedenheit schenkt. Dieses Neue war und ist überwältigend. Damals, noch in Schweden, habe ich einen Moment erlebt, den ich nie vergessen werde. Plötzlich hatte ich das Gefühl, alles zu verstehen, was jemals gewesen ist, alles, was jemals sein wird, und alles, was nie sein würde, weil es abgeschnitten wurde. Ich weiß noch, dass ich dachte: Das ist Glück, danach habe ich mich immer gesehnt. Aber es dauerte nur einen Moment, dann spürte ich plötzlich die harten Steine unter meinem Rücken und die Luft war kalt und der Himmel weit weg.
Vielleicht war der Traum zu groß für mich oder ich war zu klein für den Traum.
Ich würde so gern mit dir darüber sprechen, Mira, jetzt könnte ich eine ältere Freundin brauchen.
Eine ältere Freundin? Was rede ich da! Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, ein Jahr älter als Mira, die immer zweiundzwanzig bleiben wird. Ein seltsamer Gedanke. Werde ich jetzt jedes Jahr überlegen, wie viel älter ich bin als sie? Neun Jahre sind vergangen, seit wir Leipzig verlassen haben, fünf Jahre seit unserer Deportation nach Theresienstadt, fast vier Jahre seit Miras Tod. Kann man diese Zeit einfach überspringen, als hätte es sie nie gegeben?
Bald geht die Sonne auf. Der Himmel verfärbt sich im Osten, Samis Gestalt hebt sich deutlich gegen die Helligkeit ab. Er dreht sich zu mir um und lacht und ich lache zurück. Er ist mir vertraut, ich kann mich auf ihn verlassen. Er wird mich immer verstehen und ich werde ihn immer verstehen.
Vor dem hellen Himmel erheben sich Berge. Sami und ich werden in ein paar Stunden in Israel sein. Du hast es nicht mehr erlebt, Mira, dabei war deine Liebe zum Land unserer Väter größer als meine. Du hast dich wirklich danach gesehnt, viel mehr als ich, ich bin nur mitgelaufen. Ich war noch ein Kind. Püppchen hast du mich genannt, und ich habe es dir übel genommen, damals. Wie froh wäre ich heute, es dich noch einmal sagen zu hören. Lass mich das machen, Püppchen, es ist zu schwer für dich. Jetzt ist mir nichts mehr zu schwer.
Die Küste kommt näher. Ich weiß jetzt, wie es sein wird. Ich werde zögern, ich werde meine alte Angst vor so viel Neuem spüren, aber du wirst es nicht zulassen, Mira. Du wirst hinter mich treten, du wirst mir die Hände auf die Schultern legen und mich vorwärtsschieben, und ich werde deine Stimme hören: Los, Hanna, du schaffst das. Aufgeben gilt nicht.
Zeittafel
29. April 1925 |
Hannelore Salomon wird in Leipzig als Tochter von Chajm und Rivke Salomon geboren. Chajm war aus Russland nach Leipzig gekommen, Riwke aus Polen. |
15. September 1935 |
Verkündung der »Nürnberger Gesetze«, womit jüdischen Bürgern die politischen Rechte aberkannt wurden und Ehen zwischen Juden und »Deutschblütigen« verboten wurden. |
1936 |
Helene, Hannelores ältere Schwester, wandert mit ihrer zionistischen Jugendgruppe nach Palästina aus. |
1938 |
Mit einer Fülle von Maßnahmen verfolgen die Nazis das Ziel, jüdische Bürger aus der staatlichen Gemeinschaft auszuschließen. So wird etwa jüdischen Ärzten (wie zum Beispiel Rachels Vater) und Rechtsanwälten die Zulassung entzogen. Am 28. Oktober werden 17 000 in Deutschland wohnende polnische Juden nach Polen ausgewiesen, darunter auch Hannas beste Freundin Janka. Bei der Reichspogromnacht am 9./10. November werden Synagogen in Brand gesteckt, Friedhöfe geschändet, jüdische Geschäfte zerstört und 26 000 jüdische Männer verhaftet. Gegen Jahresende wird Juden die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel und der Besuch höherer Schulen verboten. |
April 1939 |
Hannelore geht nach Ahrensdorf und nimmt an einer landwirtschaftlichen Ausbildung teil, als Vorbereitung für eine spätere Auswanderung nach Palästina. |
Mai 1939 |
Hannelore verlässt mit weiteren Jugendlichen ihrer Gruppe die Hachschara in Ahrensdorf und fährt nach Dänemark. |
Juni bis Sept. 1939 |
Zeltlager in Dänemark |
1. September 1939 |
Deutscher Angriff auf Polen. Großbritannien und Frankreich fordern Deutschland zum Rückzug seiner Truppen auf. Als dies nicht geschieht, erklären sie Deutschland am 3. September den Krieg. Damit beginnt der Zweite Weltkrieg, der über 55 Millionen Menschen das Leben kosten wird. |
|
Hannelore und ihre Gruppe verlassen das Zeltlager und werden in jüdischen Familien in Kopenhagen aufgenommen. Hannelore bekommt einen neuen Namen, Hanna. Sie lebt bei einer Familie Golde und lernt dann in der Töpferwerkstatt von Jesper und Marie Sørensen töpfern. |
9. April 1940 |
Besetzung des neutralen Dänemarks durch deutsche Truppen. Die dänische Regierung darf zunächst weiterregieren, ihr wird aber ein deutscher »Reichsbevollmächtigter« zur Seite gestellt. |
Juni 1940 |
Deutsche Truppen besetzen Paris. |
Juni 1940 – September 1943 |
Für die jüdischen Jugendlichen wird es in Kopenhagen zu gefährlich, sie werden auf verschiedene Bauernhöfe auf der Insel Fünen verteilt. Hanna lebt auf dem Lindenhof. |
Dezember 1941 |
Kriegseintritt der USA |
20. Januar 1942 |
Auf der »Wannsee-Konferenz« wird die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen, das heißt: die Vernichtung aller europäischen Juden durch Zwangsarbeit und Tötung in Vernichtungslagern. |
August 1942 – Januar 1943 |
Kampf um Stalingrad. Die im Russlandfeldzug bis zur sowjetischen Großstadt Stalingrad vorgestoßenen deutschen Truppen werden dort im Winter eingekesselt. Auf deutscher Seite sterben 58 000 Soldaten und 90 000 geraten in Gefangenschaft. Diese Niederlage gilt als Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. |
September 1943 |
Hanna nimmt an einem Hauswirtschaftskurs teil und lernt dort Sarah Hvid kennen. Sarah lädt Hanna ein, das Neujahrsfest am 1. Oktober bei ihr und ihrer Familie zu verbringen. |
Oktober 1943 |
In der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober sollen die dänischen Juden verhaftet und in Konzentrationslager deportiert werden. Georg Ferdinand Duckwitz, ein deutscher Diplomat, warnt den Oberrabbiner von Kopenhagen und es kommt zu einer beispielhaften Rettungsaktion. 7000 der 8000 dänischen Juden können über Nacht nach Schweden geschmuggelt werden. Die Gestapo kann in jener Nacht 481 dänische Juden finden und in das KZ Theresienstadt deportieren. Zu ihnen gehören die Familie Hvid, Hanna und ihre Freundinnen Mira, Rachel, Bella und Rosa. |
11. November 1943 |
Bohušovicer Kesselappell. Alle Häftlinge werden in einen Talkessel neben Bauschowitz getrieben und müssen ohne Essen und Trinken viele Stunden ausharren. Besonders unter älteren Menschen gab es viele, die diese Tortur nicht aushielten und starben. |
Ende Nov. 1943 |
Hanna erkrankt an Typhus und kommt ins Krankenhaus. |
März 1944 |
Hanna besucht eine Aufführung der Kinderoper Brundibár. |
6. Juni 1944 |
Invasion der westlichen Alliierten in Nordfrankreich |
23. Juni 1944 |
Eine Kommission des Internationalen Roten Kreuzes besucht Theresienstadt. |
September 1944 |
Viele Tausend Menschen werden von Theresienstadt in den Osten deportiert, nach Auschwitz. Unter ihnen befinden sich Marek und sein Vater. |
Oktober 1944 |
Hanna zieht mit ihren Freundinnen in die Kaserne der dänischen Frauen um. |
Dezember 1944 |
Mira erkrankt an einer Lungenentzündung und stirbt. |
13./14. Februar 1945 |
Luftangriff der Alliierten auf die mit Flüchtlingen überfüllte Stadt Dresden. Dabei kommen schätzungsweise 50 000 Menschen ums Leben und die Innenstadt wird nahezu komplett zerstört. |
April 1945 |
Rettungsaktion der Weißen Busse. Die Dänen erhalten die Erlaubnis, mit einem aus 35 Bussen bestehenden Konvoi des Schwedischen Roten Kreuzes die dänischen Deportierten von Theresienstadt nach Schweden zu überführen. Am 13. April trifft der dänische Diplomat Holm in Theresienstadt ein. Zwei Tage später verlassen alle dänischen Häftlinge Theresienstadt und passieren vier Tage später die deutsch-dänische Grenze. Von dort aus gelangen sie in ein Quarantänelager in Schweden. |
Anfang Mai 1945 |
Mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands endet der Zweite Weltkrieg in Europa. |
Ende 1946 |
Hanna und Sami erreichen Palästina, werden aber von den Engländern aufgegriffen und in ein Lager auf Zypern gebracht. |
Sommer 1948 |
Hanna und Sami erreichen Israel. |