Intermezzo

Depressionen, Gehirn & Ketamin

Wenn Gedanken und Gefühle erstarren

Dass unsere Stimmung etwas Körperlich-Stoffliches ist, wissen wir auf einer gewissen Ebene natürlich – wie sonst sollten die Ernährung oder Medikamente gegen Depressionen ihre Wirkung entfalten? [30] Allerdings kristallisieren sich auch hier einige neue, bemerkenswerte Erkenntnisse heraus.

Jahrzehntelang führte man Depressionen aus rein biologischer Sicht auf ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn zurück. Vor allem fehlte es demnach an einem Botenstoff namens Serotonin . Auf eine stark verkürzte Formel gebracht, galt eine Depression als Serotoninmangel im Kopf.

Jedoch war bei diesem ohnehin reduktionistischen Erklärungsansatz von Anfang an der Wurm drin: Obwohl klassische Antidepressiva das Serotonin im Gehirn binnen Stunden auf Trab bringen, spüren Patienten, die das Medikament zu sich nehmen, oft erst nach ein paar Wochen eine Aufhellung der Stimmung. Wie passt das zusammen?

An der Stelle kommt der geschrumpfte Hippocampus als ein Baustein für ein alternatives Erklärungsmodell ins Spiel. So weiß man, dass die Bildung neuer Nervenzellen (Neuronen) im Hippocampus , von den Vorläuferzellen bis hin zu den voll ausgereiften Nervenzellen mit funktionierenden Verbindungen zu anderen Zellen, in etwa so lange dauert wie die übliche stimmungsaufhellende Wirkung herkömmlicher Antidepressiva  – ein paar Wochen. [31]

Zudem hat man entdeckt, dass klassische Antidepressiva , die Serotonin im Gehirn anreichern, tatsächlich auch in der Lage sind, die Neurogenese im Hippocampus anzuregen. [32] Behandelt man depressive Patienten mit dem Medikament Citalopram , das auf Serotonin wirkt, hat sich deren Gemütsverfassung nach acht Wochen in vielen Fällen gebessert, zugleich sieht man eine Zunahme im Volumen des Hippocampus . [33] Der depressionslindernde Effekt traditioneller Arzneimittel rührt somit wahrscheinlich nicht in erster Linie aus der chemischen Veränderung im Gehirn – er scheint eher das Resultat eines unter anderem aufgefrischten Hippocampus zu sein. Wobei mit Auffrischung nicht nur gemeint ist, dass neue Nervenzellen hinzukommen, sondern auch dass bereits vorhandene, aber schwach ausgebaute oder zum Beispiel durch chronischen Stress verkümmerte Nervenzellstrukturen wiederaufgebaut werden. [34]

Die Auffrischung beschränkt sich außerdem nicht allein auf den Hippocampus , der im komplexen Gesamtbild der Depression lediglich ein Puzzlestück von vielen ist. Weitere einflussreiche Hirnareale sind beteiligt, darunter der vordere Teil des Stirnlappens, der Präfrontalcortex , der bei einer Depression häufig ebenfalls verkleinert ist. Nervenzellen verfügen ja über allerlei Verästelungen, über die sie mit ihren Kollegen in Kontakt treten – die berühmten Synapsen. Die Schrumpfung des Präfrontalcortex , die sich bei einer Depression beobachten lässt, hat damit zu tun, dass diese Verästelungen verkümmert und zahlreiche Synapsen abgebaut sind (dies sieht man auch im Hippocampus ). [35] Ferner gibt es auffallend weniger sogenannte Glia- oder Stützzellen, die die Nervenzellen mit Nährstoffen versorgen. [36]

Damit ist der Präfrontalcortex entscheidend geschwächt, und das hat verhängnisvolle Folgen. Denn zu den Aufgaben des Präfrontalcortex gehört es, unsere Gefühle in Schach zu halten. Eines der wichtigsten Emotionszentren des Gehirns ist der Mandelkern (Fachjargon: »Amygdala«), der in unmittelbarer Nachbarschaft des Hippocampus liegt und, vereinfacht gesagt, eine Art Alarm- und Angstzentrale ist. Ein intakter Präfrontalcortex reguliert den Mandelkern , indem er zum Beispiel dessen Aktivität hemmt. Ist der Präfrontalcortex geschwächt, geht diese hemmende Kraft verloren: Uns kommt die Kontrolle über Gefühle wie Angst abhanden, und wir geraten gewissermaßen in eine permanente Alarmstimmung. Ein beliebter Vergleich, der veranschaulicht, wie Präfrontalcortex und Mandelkern zusammenspielen, ist der vom Wachhund (Mandelkern ) und dessen Herrchen (Präfrontalcortex ). Die Aufgabe des Wachhunds ist es, im Zweifel loszubellen, während es zur Rolle des Herrchens gehört, der Ursache für das Bellen auf den Grund zu gehen und seinen Hund unter Umständen zurückzupfeifen und zur Ruhe zu bringen, wenn dieser etwa den überaus harmlosen Postboten ankläfft. Bei einer Depression fehlt dem Herrchen für diese Kontrolle und Zurechtweisung der Elan, und so schlägt der innere Wachhund ständig zu laut und zu lange Alarm, selbst wenn weit und breit keine Gefahr in Sicht ist. [37]

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Den vorderen Teil des Stirnlappens, der sich direkt hinter unserer Stirn und unseren Augen befindet und in etwa die Größe einer Orange hat, nennt man in der Fachsprache Präfrontalcortex (hier sehen wir nur dessen rechte Hälfte, da die linke Hirnhälfte in dem ganzen vorderen Bereich optisch weggeschnitten ist, um uns den Blick ins Gehirn zu eröffnen). Die Funktionen des Präfrontalcortex , der selbst wiederum aus zahlreichen Unterstrukturen besteht, sind vielfältig, aber eine sehr wichtige Aufgabe besteht darin, die Aktivität anderer Hirnregionen zu kontrollieren, nicht zuletzt durch eine Hemmung dieser Areale. So könnte man den Präfrontalcortex als »neuronalen Sitz unserer Selbstkontrolle« charakterisieren. In Zusammenarbeit mit dem Hippocampus steuert der Präfrontalcortex eines der entscheidenden Emotionszentren, dessen Form und Größe an eine Mandel erinnert, weshalb man die Struktur auch als Mandelkern oder »Amygdala« (lateinisch für Mandel) bezeichnet. Auch den Mandelkern gibt es einmal in der rechten und einmal in der linken Hirnhälfte. Bei einer Depression sind der Präfrontalcortex wie auch der Hippocampus oft verkleinert, was dazu führt, dass die Kontrolle über den Mandelkern geschwächt ist.

Sabine Timmann/C. Bertelsmann

All dies ist immer noch ein hochgradig simplifiziertes Bild, und bis heute ist nicht endgültig geklärt, was bei einer Depression im Gehirn im Einzelnen passiert. Sicher ist: Wir haben es mit weit mehr zu tun als mit einem bloßen Serotonindefizit . [38] Als ein Kernproblem hat sich dabei zum einen die eingeschränkte »Plastizität « (das heißt, Veränderbarkeit, Formbarkeit) des Gehirns herausgestellt, was ein Erstarren des Denkens in Form negativer Gedankenschleifen bewirken könnte, aus denen man sich nicht zu befreien vermag. Zum anderen ist die interne Vernetzung und damit Kommunikation des Gehirns gestört, womit uns unter anderem die Kontrolle über unsere Gefühle entgleitet. Kurbelt man die abgebauten Hirnstrukturen zu neuem Wachstum und neuer Vernetzung an (wozu auch herkömmliche Antidepressiva beitragen, das aber halt erst im Verlauf von Wochen [39] ), kann sich das Denken aus seiner Versteinerung und Fixierung aufs Negative befreien, und wir bekommen unsere Gefühle wieder vermehrt in den Griff. Man kann sagen: Ein flexibles, bewegliches Gehirn, das offen ist für Veränderungen, ist eine gute Grundvoraussetzung für eine starke Seele. [40]

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Aus Sicht des Gehirns geht eine Depression damit einher, dass die Struktur gewisser Areale verkümmert ist, was zu einer Störung der Kommunikation innerhalb des Gehirns führt. Es ist, als würden bestimmte Abteilungen einer Firma sich nicht mehr miteinander austauschen, mit entsprechenden Beeinträchtigungen im Betriebsablauf. Die beiden Skizzen oben veranschaulichen illustrativ den Ausschnitt eines winzigen Gehirn-Netzwerks. Die sternenförmigen Gebilde stellen Nervenzellen (Neuronen) dar, die mit ihren Fortsätzen auf andere Neuronen schalten und so einen Verband bilden. Links ist das Netzwerk verkümmert, die Verdrahtungen sind nur spärlich ausgebildet (hier zur Verdeutlichung etwas übertrieben dargestellt). Das Netzwerk kann seine Funktion, wie zum Beispiel die Hemmung negativer Gefühle, nicht adäquat ausüben. Rechts ist der Verband üppiger verdrahtet und damit funktionsfähiger, was auf psychischer Ebene mit einer aufgehellten Stimmung einhergehen kann, etwa indem Gefühle wie Stress und Angst oder zum Beispiel auch negative Gedanken besser in Schach gehalten werden können. Aus dieser Sicht ist das Gehirn wie eine Art Muskel, der umso stärker ist und umso effizienter funktioniert, je besser man diesen Muskel ernährt und trainiert – und dann auch Zeit zur Erholung gibt. [41]

Peter Palm

Neue medikamentöse Ansätze gegen Depressionen , wie niedrig dosiertes Ketamin , können, im Gegensatz zu den klassischen Antidepressiva , bemerkenswerterweise schon innerhalb von Stunden eine Regeneration oder sogar eine Neubildung von Nervenzellstrukturen in Präfrontalcortex [42] und Hippocampus [43] hervorrufen. Ketamin wird in höheren Dosen als Narkosemittel eingesetzt und ist als solches offiziell zugelassen. Bei Depressionen dürfen Ärzte das Medikament im Rahmen des sogenannten »Off-Label«-Gebrauchs (sprich: in einem Anwendungsbereich, der im Beipackzettel nicht auftaucht) verwenden. [44] Man kann dem Gehirn regelrecht dabei zusehen, wie es sich unter dem Einfluss von Ketamin neu verdrahtet. Entsprechend schnell tritt die stimmungsaufhellende Wirkung ein. Zwar kann Ketamin den Vorgang der Neurogenese im Hippocampus an sich nicht beschleunigen. Grundlagenstudien deuten jedoch darauf hin, dass die Substanz die durch Neurogenese frisch gebildeten Nervenzellen aktivieren kann, was wiederum die Schaltkreise des restlichen Hippocampus beeinflusst und einen raschen antidepressiven Effekt hervorruft. [45] Behandelt man depressive Patienten mit Ketamin , fokussieren sie sich bereits nach wenigen Stunden nicht mehr so verbissen auf Negatives und fangen an positive Informationen zu berücksichtigen, ihr Denken wird offener und beweglicher. [46] Viele fühlen sich praktisch auf Anhieb besser. Allerdings hält die Wirkung nur ein bis zwei Wochen an, und die Risiken und Nebenwirkungen bei langfristig wiederholtem Einsatz von Ketamin sind derzeit noch weitgehend unbekannt. [47]

Ich habe Ketamin einige wenige Male ausprobiert und empfand den Effekt als sehr angenehm, geradezu tiefenentspannend. Dadurch, dass der Körper mehr oder weniger stark betäubt wird, wird man zu einem vornehmlich geistigen Wesen, und so kann es auch zu dem Eindruck kommen, dass der Geist den »aufgelösten« Körper vorübergehend verlässt. Ketamin kann nicht zuletzt deshalb so hilfreich bei Depressionen sein, weil selbst dann noch eine Chance auf eine Besserung der Gemütsverfassung besteht, wenn bereits etliche andere Therapieversuche gescheitert sind. [48] Bei niedrigen Dosen, wie sie meist eingesetzt werden, wirkt Ketamin wie eine Art psychologischer Türöffner, der die akute Schwermut lindert und eine weitere Therapie erleichtert oder überhaupt erst möglich macht. Diese Form der Behandlung ähnelt der mit klassischen Antidepressiva . In etwas höheren Dosen und mit dem richtigen Setting – einem »meditativen« Ambiente, das dazu beiträgt, in sich zu kehren – kann Ketamin aber auch zu bewusstseinsverändernden Effekten führen, die sich teils mit denen klassischer Psychedelika vergleichen lassen. Über psychologische und emotionale Einsichten in das eigene Ich und das Leben oder durch einen veränderten Blick auf seelische Verletzungen und dergleichen kann das zur Heilung einer Depression oder etwa einer Alkoholsucht [49] beitragen (mehr zu den Psychedelika in Kapitel 10). [50] In Deutschland bieten diverse Arztpraxen und Universitäten Ketamintherapien an.

Fazit: Wer einem anhaltenden Stimmungstief entgegenwirken will, braucht, neurobiologisch betrachtet, eine ausgewogene Verdrahtung des Gehirns und womöglich eine regelmäßige Auffrischung des Hippocampus in Form immer wieder neuer, nachwachsender Neuronen. Und so wie man für den Aufbau oder Wiederaufbau eines (verkümmerten) Muskels nicht bloß Nährstoffe braucht, sondern auch Bewegung beziehungsweise ein gezieltes Training, gilt etwas Ähnliches für das Gehirn und unsere Stimmung: Auch hier kann eine gesunde Ernährung zwar schon eine solide Basis bilden. Das allein aber reicht nicht. Die Belebung von Gehirn und Psyche wird erst dann so richtig wirkungsvoll, wenn wir die stimmungsaufhellende Kost mit einem körperlichen und geistigen Training – regenerierende Erholungsphasen inklusive – kombinieren. Ich werde daher im Verlauf des Buchs noch auf Sport , Naturausflüge und Meditation zu sprechen kommen, als Strategien, mit denen sich das bewerkstelligen lässt.