Kapitel 3

Bewegung

Sport ist die beste Stressmedizin

Dass Sport die Stimmung hebt, dürfte an sich keine allzu große Offenbarung sein. Interessant aber ist, dass Sport und Bewegung die Fähigkeit unseres Gehirns steigern, Stress und negative Gedanken besser zu kontrollieren. Bewegung und Sport erweisen sich so geradezu als eine Form von mind control training , man könnte auch sagen als eine Form von Therapie. Bei einer klassischen Psychotherapie erreicht die Therapeutin oder der Therapeut unser Gehirn und unsere Psyche über unser Ohr, indem wir mit ihr oder ihm reden, natürlich auch über die Augen, indem wir sehen, wie sie mit uns spricht, was wiederum unser Gehirn und unsere Psyche verändert. Wenn wir Sport treiben, passiert etwas Ähnliches – in diesem Fall sind es nur unsere Muskeln und Knochen, die anfangen mit unserem Gehirn zu »reden«. So merkwürdig es klingen mag: Diese physiologische »Redekur« entfaltet ebenfalls eine seelenstärkende Wirkung. Wie das funktioniert, sehen wir uns jetzt genauer an.

Trainiere deine Resilienz

Wenn ich gestresst oder frustriert bin und meine Joggingschuhe anziehe und loslaufe, dauert es meist noch eine ganze Weile, bis ich meinen Frust losgeworden bin. Das Herz pocht, Adrenalin schießt durch die Adern, und meine Gedanken rasen – durch den Stress des Joggens, wie mir scheint – sogar noch intensiver, noch unkontrollierter als zuvor. Es wird alles erstmal schlimmer!

Doch je länger ich laufe, desto mehr merke ich, wie die negativen Gedanken allmählich an Kraft verlieren. Sie werden mit den Kilometern, die ich zurücklege, leiser, treten in den Hintergrund. Mit jedem Schritt komme ich etwas mehr aus meinem Kopf heraus und schlüpfe zunehmend in meinen Körper hinein. Auch wenn es fast zu schön klingt, um wahr zu sein: Wenn ich eine Dreiviertelstunde später zuhause ankomme (und spätestens nach der Dusche), ist oft nicht mehr allzu viel von der Verstimmung, mit der ich losgejoggt bin, zu spüren.

Tatsächlich ist Sport zunächst einmal ein Stressor für den Körper: Neben dem Adrenalin schnellt der Blutdruck in die Höhe, das Herz rast. Erst nach dem Sport stellt sich umso mehr Entspannung ein: Der Blutdruck sinkt nicht einfach bloß, er kann sogar unter sein übliches Niveau fallen. Es ist, als würde der Körper auf den physischen Stress mit einem Anti-Stress -Wellnessprogramm reagieren, um wieder so etwas wie ein physiologisches Gleichgewicht herzustellen. Fällt dann der Stressor weg, bleibt nur noch das Wellnessprogramm übrig, und es stellt sich Erholung pur ein. So betrachtet ist Sport eine Art von Stresstraining . [82]

Ein Versuch von Forschern der Berliner Charité untermauert dies eindrucksvoll und wirft darüber hinaus ein erstes Licht darauf, wie Sport unser Gehirn und unsere Psyche verändert. In dem Experiment sollte eine Hälfte der Testpersonen zunächst eine halbe Stunde locker auf einem Laufband joggen. Die Kontrollgruppe durfte während der Zeit lediglich leichte Dehnübungen machen oder auch mal den Fuß kreisen lassen – Hauptsache, man verausgabte sich nicht.

Nach einer Pause kamen sämtliche Testpersonen in einen Kernspintomographen. Jetzt nahm man die armen Versuchskaninchen richtig in die Mangel, indem man sie aufforderte, so rasch wie möglich Rechenaufgaben im Kopf zu lösen, wobei der unwirsch auftretende Versuchsleiter sie freundlicherweise auch noch darauf hinwies, wie schwach sie bei dieser Übung abschnitten.

Für die Testpersonen mag der Versuch unangenehm gewesen sein – für die Wissenschaft war er ein Gewinn: Es zeigte sich nämlich, dass sich die Jogger während der ganzen Prozedur nicht einfach bloß besser fühlten. Sie schütteten beim Kopfrechnen im Hirnscanner auch weniger von dem Stresshormon Cortisol aus – ganz so, als würde man sich nach einer Joggingrunde von einer belastenden Übung nicht mehr so stark unter Druck setzen lassen.

Der Blick ins Gehirn offenbarte, was dabei im Kopf geschah: Wer gelaufen war, bei dem wurde während des stressigen Kopfrechnens vermehrt der Hippocampus aktiviert. Wie wir wissen, gehört es zu den Aufgaben des Hippocampus , die Stressreaktion im Zaum zu halten. Da der Hippocampus durch körperliche Bewegung angeregt wird, kann er seine stressregulierende Funktion nach einer Runde Sport wahrscheinlich besser ausüben. [83]

Sport unterstützt also die Fähigkeit unseres Gehirns, Stress aktiv herunterzufahren. Da Sport selbst ein Stressor ist, ist er ein besonders gutes Mittel, mit dem wir so etwas wie Stresskontrolle oder, noch etwas weitergefasst, Kontrolle über unsere negativen Gefühle gezielt einüben können. Der große Vorteil dabei ist, dass uns eine Joggingrunde eben nicht aus heiterem Himmel überfällt und damit überwältigt, wie die unverschämte Bemerkung eines Kollegen oder eine dieser schlechten Nachrichten, die sich irgendwie immer den ungünstigsten Moment aussuchen, um uns zu erreichen. Nein, beim Sport können wir uns den Stress wie auch das Stresslevel selbst aussuchen, und zwar so, wie es uns passt. Wir laufen, strampeln, schwimmen oder stemmen halt so lange die Gewichte, wie wir selber wollen. Bis es uns zu viel wird und wir genug haben.

Wenn wir uns umgekehrt mehr körperlichen Stress , mehr Belastung, mehr Schmerzen zutrauen: kein Problem – wir ziehen einfach das Tempo an oder drehen noch eine Extrarunde. Sport wird so zu einer Art Spielwiese, auf der wir unsere Stressregulation auf selbstkontrollierte und bewusst dosierte Weise schulen können. Dieses Training kommt uns dann zugute, wenn wir in eine Situation geraten, in der uns eine stressige Situation »hinterrücks« überfällt: Wenn wir es also nicht selbst sind, die uns stressen , sondern das Leben.

Wer sich bewegt, bekommt die eigenen Gefühle besser in den Griff

Sollte an diesen Überlegungen etwas dran sein, dann müssten vor allem jene Menschen von einer Runde Sport profitieren, die im Alltag besonders stark mit Stress und anderen negativen Gefühlen zu kämpfen haben. Um herauszufinden, ob das der Fall ist, hat ein Team von Harvard -Forschern eine Serie von äußerst aufschlussreichen Experimenten gemacht.

Zunächst klopften die Wissenschaftler mit einer Batterie von Fragen ab, wie sehr sich ihre Testpersonen mit Statements wie »meine Gefühle überwältigen mich« oder »ich glaube, es gibt nichts, was ich tun kann, um mich besser zu fühlen« identifizieren konnten. Wie sich herausstellte und wie man sich ja auch denken kann, bereitet es manchen von uns einfach mehr Mühe als anderen, der eigenen Emotionen Herr zu werden.

Die Harvard -Forscher teilten ihre Testpersonen wie üblich in zwei Gruppen. Die eine Hälfte sollte eine halbe Stunde joggen, die andere machte während der Zeit Dehnübungen. Danach bekamen alle zuerst einen melodramatischen Filmausschnitt zu sehen, der die Probanden zuverlässig in eine traurige Stimmung versetzte. Um zu beobachten, wie gut sich die Teilnehmer wieder aus der gedrückten Gemütsverfassung herausholen ließen, durften sie sich anschließend einen Ausschnitt aus dem heiteren, lustigen Streifen Harry und Sally anschauen. Währenddessen checkte man immer wieder die Gefühlslage der Testpersonen.

Die Resultate haben es in sich. Genauer als je zuvor geben sie uns einen Einblick darin, über welchen psychologischen Mechanismus Sport unsere Stimmung hebt. Man könnte denken, dass Sport uns vor allem deshalb gut fühlen lässt, weil er Stresshormone abbaut und weil körpereigene Opiate (»Endorphine «) für ein biochemisches Hoch sorgen. Das mit den Endorphinen hat sich übrigens als nicht ganz richtig herausgestellt. Stattdessen sind es wohl eher cannabisähnliche Stoffe (»Endocannabinoide «, gewissermaßen von unserem Körper selbst hergestelltes Marihuana), die das berühmte Runner’s High hervorrufen. [84] Aber so oder so interpretiert man damit die Wirkung von Sport in erster Linie als körperlichen Entspannungs- und Wohlfühleffekt. Das Faszinierende jedoch ist, dass weitaus mehr und psychologisch Subtileres dahintersteckt, wie der Harvard -Versuch nahelegt.

So zeigte sich, dass sich jene Testpersonen, die sich schwerer taten mit ihrer Gefühlsregulierung, von dem traurigen Filmausschnitt – wenig überraschend – besonders stark beeinflussen ließen und in eine entsprechend gedrückte Stimmung gerieten. Bemerkenswert aber ist, wie sich diese Niedergeschlagenheit im Laufe des Experiments entwickelte. Die Traurigkeit hielt nämlich bei jenen, die lediglich ein paar Dehnübungen gemacht hatten, bis zum Ende an, selbst dann noch, nachdem die Teilnehmer den erheiternden Harry-Sally-Clip gesehen hatten. Exakt das – jemand bleibt in seinem Kummer stecken und findet nicht aus seiner depressiven Stimmung heraus – würde man ja auch von einer Person erwarten, die ihre Gefühle nur schwer in den Griff bekommt.

Die entscheidende Entdeckung des Versuchs war, dass dieses Verharren im Tief bereits durch eine einzige Joggingrunde deutlich gebessert werden konnte. Joggen half dabei vor allem jenen Testpersonen, die Probleme mit der Emotionssteuerung hatten. Schon die halbe Stunde auf dem Laufband hatte ihre Gefühlskontrolle erheblich gesteigert. Anfangs hatten auch sie sich von dem Filmausschnitt mitreißen und in eine deprimierte Stimmung versetzen lassen – dank Joggingrunde jedoch, und das ist der springende Punkt, blieben sie nicht in dieser Gemütsverfassung gefangen: Die halbe Stunde auf dem Laufband hatte ihre emotionsregulierenden Kräfte aktiviert, und so fühlten sie sich am Ende des Experiments, nach der Harry-Sally-Szene, besser als jene, die nicht gelaufen waren. [85]

In weiteren Experimenten haben die Harvard -Forscher dieses »Laborergebnis« bis ins echte Leben hinein verfolgen können. Die Wissenschaftler haben zum Beispiel eine Gruppe von Testpersonen mit einer Handy-App ausgestattet, die die Teilnehmer tagelang immer wieder danach befragte, ob sie gerade Sport getrieben hätten und wie sie sich fühlten. Der Befund: Wer Sport treibt, erlebt im Alltag genauso viele negative Gefühle wie sonst auch. Das Leben verwandelt sich mit Sport nicht in ein Märchen. Was sich aber ändert, ist die Fähigkeit, negative Gefühle zu »überwinden«. Wer sich bewegt , bleibt, wie auch diese Studie der Harvard -Forscher ergab, schlichtweg weniger lang in einer schlechten Stimmung haften. [86]

Ein Grund dafür könnte sein, dass man dank Sport  – denn auch das haben Versuche ergeben – weniger ins Grübeln verfällt. Man verliert sich weniger in das, was man als Rumination bezeichnet und was bekanntlich eine wesentliche Ursache für Stimmungstiefs und Depressionen ist. Sport verändert somit sowohl unsere Gefühls- als auch unsere Gedankenwelt, wobei das eine wie wir wissen eng mit dem anderen verbunden ist. Kurzum, Sport macht uns mental beweglicher und stimmt uns auch über diesen psychologischen Weg ausgeglichener. [87]

Don’t wish for less problems, wish for more skills

Sobald wir anfangen, uns zu bewegen , sobald unsere Muskeln in Schwung kommen, fangen die Muskeln ihrerseits an, mit den restlichen Organen unseres Körpers zu »reden«. Muskeln können zwar kein Deutsch, beherrschen dafür aber umso mehr eine Sprache, die man als »myokinesisch« bezeichnen könnte: Sie kommunizieren mit Hilfe von Molekülen, »Myokine « genannt (aus dem Griechischen mys , was für Muskel steht, sowie kinema für Bewegung ).

Es gibt Hunderte solcher Myokine , eines davon ist Cathepsin B . Während du ins Schwitzen gerätst, schütten deine Muskeln, ohne dass du es bemerken würdest, unter anderem Cathepsin B aus, das bis in dein Gehirn vordringt, und zwar bis in den Hippocampus . [88]

Zur gleichen Zeit rütteln die Muskeln deine Knochen wach. Man könnte die Knochen für starre, leblose Gebilde halten, in Wahrheit jedoch sind sie erstaunlich aktiv und dynamisch. Bei Bewegung bilden sie zum Beispiel vermehrt ein Hormon namens Osteocalcin , das ebenfalls den Hippocampus erreicht. [89]

Hier, im Hippocampus , führen Cathepsin B wie auch Osteocalcin dazu, dass BDNF gebildet wird. BDNF steht für Brain-Derived Neurotrophic Factor, was sich übersetzen lässt mit »vom Gehirn stammender Nervenwachstumsfaktor«.

BDNF ist eine Art Dünger für Nervenzellstrukturen. Antidepressiva , auch solche, die das Serotonin anreichern, entfalten neuen Analysen zufolge ihre stimmungsaufmunternde Wirkung oft zu einem wesentlichen Teil, indem sie BDNF aktivieren. [90] BDNF schützt die Gehirnzellen und kurbelt zum Beispiel ihre Verästelungen (»Dendriten«) zum Sprießen an. Das Gehirn formt sich regelrecht neu, wächst wie ein Muskel.

Die Neubildung ganzer Nervenzellen im Hippocampus wird ebenfalls von BDNF stimuliert. Haben Mäuse in ihrem Käfig ein Laufrad, auf dem sie sich austoben können (was Mäuse lieben, sie legen in einer Nacht locker ein paar Kilometer zurück), steigt in ihrem Hippocampus der Wachstumsfaktor BDNF und die Neurogenese läuft auf Hochtouren. [91]

Bei uns Menschen lässt sich etwas Ähnliches beobachten. Dabei frischt körperliche Bewegung über die Ausschüttung von BDNF genau jene Hirnregionen auf, die bei depressiven Patienten typischerweise verkümmert sind, also neben dem Hippocampus auch den Präfrontalcortex . [92]

In einer Studie verordnete man Senioren ein halbes Jahr lang dreimal pro Woche eine Stunde zügiges Gehen. Das Resultat: In diversen Regionen des Gehirns nahm das Volumen nicht – wie sonst üblich im Alter – ab, sondern zu, und die größte Volumenzunahme fand im vorderen Hirnbereich statt, wozu auch der Präfrontalcortex gehört. [93] Dreimal die Woche Nordic Walking oder Gymnastik entfalten einen ähnlichen Effekt. [94]

Außerdem vergrößert sich unter dem Einfluss körperlicher Aktivität der Hippocampus . Normalerweise schrumpft der Hippocampus im Alter um rund 1 bis 2 Prozent jährlich. Ein einfacher Spaziergang von 40 Minuten, dreimal die Woche, genügt jedoch, um diesen Abbau zu verhindern, wie eine weitere Studie ergab. Mehr noch, nach einem Jahr regelmäßiger Spaziergänge dieser Art hatte das Hippocampus -Volumen der Studienteilnehmer im Alter von Ende 60 um rund 2 Prozent zugenommen . [95]

Besonders ermutigend sind die Ergebnisse einer Untersuchung, in der ein deutsches Psychiater-Team eine Gruppe von teils schizophrenen Patienten, teils ganz »normalen« Testpersonen drei Monate lang dreimal die Woche zu einer halben Stunde Indoor-Cycling anregen konnte. Nach nur drei Monaten hatte das Hippocampus -Volumen stark zugenommen, bei den Patienten im Schnitt um 12 Prozent, bei den »Normalos« um 16 Prozent. Bei einem der Teilnehmer stieg das Volumen des Hippocampus um sage und schreibe 20 Prozent an – so sehr, dass der Unterschied praktisch mit dem bloßen Auge zu erkennen war. [96]

Müsste man all diese Ergebnisse in einem Satz zusammenfassen, könnte man sagen: Körperliche Bewegung stärkt unsere Seele, indem sie Regionen unseres Gehirns auffrischt, die uns dabei helfen, Stress und negative Gefühle in Schach zu halten und herunterzufahren.

Ich finde diese Erkenntnisse auch deshalb so wertvoll, weil es im Leben ja nicht darum gehen kann, allem Negativen aus dem Weg zu gehen. »Don’t wish for less problems, wish for more skills«, wie man im Englischen so treffend sagt. [97] Leben heißt ja nicht zuletzt, sich den Problemen des Lebens zu stellen, ja diese Probleme bis zu einem gewissen Grad sogar herauszufordern, indem man auch mal ein Risiko eingeht und dabei keine übertriebene Angst davor haben muss, dass die Sache schiefgehen könnte. Wenn wir bei der Verfolgung unserer Ziele auf ein Hindernis stoßen, wollen wir ja nicht sofort einknicken und aufgeben. Unsere Lebenszufriedenheit resultiert schließlich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil daraus, dass wir uns solchen Herausforderungen stellen und uns dabei hoffentlich auch das eine oder andere gelingt.

Körperliche Fitness hilft uns dabei, weil die damit einhergehende erhöhte Widerstandsfähigkeit heißt, dass wir weniger Angst vor Risiken, Hürden und den zwangsläufigen Niederlagen, die das Leben für uns bereithält, haben müssen. Ja, wir werden scheitern, klar werden wir das, immer wieder. Würden wir das nicht, würde das darauf hindeuten, dass wir uns immer bloß unter der Grenze unserer Fähigkeiten bewegen und uns nie darüber hinauswagen. Nur wer gelegentlich einen Misserfolg hat, weiß, dass er sich bis an den Rand seiner Fähigkeiten vorgewagt hat. Kinder halten sich bekanntlich besonders gern in dieser Gefahrenzone auf, und eine wesentliche Aufgabe von uns Eltern besteht darin, dass unsere Kinder bei ihren tollkühnen Erkundungen nicht gleich ihr Leben aufs Spiel setzen. Andererseits lernen sie wohl genau deshalb so viel und leben so intensiv, weil sie ständig Grenzen ausloten und überschreiten.

Indem Sport unser Gehirn stressresilienter macht, sind wir den Herausforderungen des Lebens besser gewachsen, und das bedeutet: Wir können es wagen, frei zu leben, wir können es wagen, so zu leben wie einst als Kind. Wir können uns den Herausforderungen des Lebens stellen und uns auf Dinge einlassen, die wir uns sonst – ohne die sportliche Stärkung unserer Widerstandskraft – nicht getraut hätten.

Tritt in Kontakt mit deiner jahrmillionenalten Natur

So viel zu den guten Nachrichten. Leider gibt es auch eine schlechte: Die meisten von uns nutzen das Potenzial der Bewegung erschreckend wenig, und manche nutzen es gar nicht. Aktuelle Daten offenbaren, dass 43 Prozent der Deutschen schlichtweg keinerlei Sport treiben. Stattdessen verbringen Millionen und Abermillionen von uns den lieben langen Tag im Sitzen, unterbrochen lediglich von der Nacht, in der wir uns im Liegen vom Sitzen erholen. [98] Womöglich ist auch noch eine chronische Inflammation zu konstatieren, zu der Bewegungsmangel ja beiträgt, und der Körper denkt fortwährend, wir hätten uns verletzt oder seien krank, und legt uns einmal mehr – statt Bewegung  – Erholung und Bettruhe nahe.

Was uns in gewissem Maße vordergründig oft sogar entgegenkommt. Viele von uns, auch ich gehöre dazu, können schließlich nicht nur problemlos überleben, indem sie an einem Durchschnittstag bloß ein paar zaghafte Schritte tun. Nein, wir verbringen den Tag – aus Sicht der Arbeitswelt – gerade dann am produktivsten, wenn wir möglichst lange, möglichst ununterbrochen am Schreibtisch sitzen. Jeder Stress , den wir dabei erfahren, ist rein mental induziert, meist chronisch und bekommt kaum jemals die Chance, körperlich abgebaut zu werden.

Das steht in krassem Gegensatz zu jenem Lebensstil, für die unser Körper und unser Gehirn geschaffen wurden. In der afrikanischen Ursavanne blieb einem gar nichts anderes übrig, als praktisch täglich auf Jagd zu gehen oder Nahrung zu sammeln. Unsere genetische Ausstattung, an der sich seit der Steinzeit wenig verändert hat, erwartet für ein normales Funktionieren schlichtweg ein Mindestmaß an Bewegung .

Diese Erwartung läuft im modernen Leben Tag für Tag ins Leere. Jeden Morgen, wenn wir uns wieder hinter unseren Bildschirm klemmen und dabei auf der einen Seite sehr produktiv sind, enttäuschen wir auf der anderen Seite die stille Erwartungshaltung unseres Körpers, mit der Folge, dass unser Körper und auch unsere Psyche irgendwann darunter zu leiden beginnen.

Die wenigen Jäger-Sammler -Gruppen, die es heute noch vereinzelt auf der Welt gibt, sind wie ein Fenster in jene Vergangenheit, die unsere erbliche Ausrüstung über Millionen von Jahren geformt hat. Sie offenbaren uns, wie viel Bewegung unser Körper tatsächlich von uns verlangt.

Der US -Anthropologe Kim Hill von der Arizona State University zum Beispiel hat fast 30 Jahre seines Lebens Jäger-Sammler studiert, hat mit ihnen gelebt, gejagt und gesammelt, vor allem mit einer Gruppe namens »Aché «, die im tropischen Regenwald Paraguays lebt. Seine Beobachtung: Die Aché sind ständig auf Achse. Und das müssen sie auch sein, weil sie Hunger haben und es weder einen Supermarkt um die Ecke noch Lieferando gibt.

Jeden Tag, an dem es nicht regnet, gehen die Männer auf Jagd. Dabei legen sie üblicherweise gut 10 Kilometer in moderatem Tempo zurück, allerdings bewegen sie sich über dichtes, sperriges Dschungelgelände fort, was anstrengend ist. Meist rennen sie zusätzlich einen Kilometer oder zwei, wenn die Verfolgung an Fahrt aufnimmt. War die Jagd an einem Tag ausgesprochen mühsam, gönnen sie sich am nächsten Tag Ruhe.

Jäger-Sammler -Frauen sind ebenfalls ununterbrochen auf den Beinen, um Gemüse, Früchte, Nüsse, Beeren, Vogeleier usw. zu sammeln. Teils jagen auch sie kleinere Tiere oder bringen die erlegte Beute zum Lager. Sie schaffen Wasser und Holz herbei und tragen ihre Kinder, selbst beim Sammeln, und zwar durchschnittlich bis die Kinder vier Jahre alt sind, was heißt, dass sie ein einzelnes Kind mitunter über insgesamt Tausende von Kilometern vor der Brust oder auf dem Rücken haben.

Übrigens hocken sich Jäger-Sammler abends, nach einem ohnehin schon bewegten Tag, eher selten vor die Glotze, um sich die neueste Netflix-Serie anzusehen. Oft tanzen sie. Gemeinsam, mehrmals pro Woche, was gut und gerne ein paar Stunden dauern kann.

Unser Körper ist es also eigentlich gewohnt, von morgens bis abends immer wieder auf unterschiedliche Weise in Bewegung zu sein. Die heutige »Normalität« in Form von stundenlangem Sitzen ist für unseren Körper der totale Ausnahmezustand. Wenn ich Sport mit einer Psychotherapie vergleiche, ist das somit genau genommen falsch. Richtig ist, dass, wer anfängt, sich in unserer unnatürlichen Kultur der Trägheit zu bewegen, zu einem ursprünglichen Normalzustand zurückkehrt. [99] Wir treten in Kontakt mit einer jahrmillionenalten Natur, einem stark vernachlässigten und doch wesentlichen Teil unseres Selbst, und indem wir das tun, bringen wir unseren Körper und unsere Seele ins Gleichgewicht.

Tennis fordert den Hippocampus heraus

Die Erinnerung an den Lebensstil unserer Vorfahren relativiert meines Erachtens auch den zuweilen etwas albern geführten Streit um die Frage, wie viel und wie oft wir uns denn nun am besten bewegen sollten. Die kurze Antwort ist einfach: Jedes bisschen ist gut, und mehr ist in der Regel besser.

Was die spezifische Wirkung von Sport auf das psychische Wohlbefinden betrifft, so hat ein Forscherteam der Universität Oxford in Großbritannien sowie der Yale University in den USA einige praktische Erkenntnisse herausgearbeitet, die uns bei dieser Frage eine grobe Orientierung geben können. Die Wissenschaftler analysierten die Daten von weit mehr als einer Million Menschen, danach befragt, wie es um ihre seelische Verfassung bestellt sei, und zwar konkret mit Blick auf Stress , Depressionen sowie Problemen mit den Emotionen generell. Zugleich erfasste man die sportliche Aktivität der Teilnehmer.

Zuerst das Erwartbare: Wer sich viel bewegt , darf mit weniger psychischen Problemen rechnen. In seelischer Hinsicht am besten – und hier wird es interessant – schneidet ab, wer drei- bis fünfmal die Woche ungefähr eine Dreiviertelstunde trainiert (irgendwo zwischen 30 und 60 Minuten liegt das Optimum).

Und noch ein bemerkenswertes Ergebnis der Studie: Jede Form von Bewegung hilft, Sportarten aber wie Badminton, Basketball, Tennis, Fußball, Handball, Volleyball, Squash und auch Tischtennis und Frisbee, die man zu mehreren betreibt, gehen ganz besonders mit einer ausgeglichenen Gemütsverfassung einher. [100] Die naheliegende Erklärung dafür ist, dass Sport zusammen mit anderen ausgeübt oft einfach am meisten Spaß macht und motiviert und begeistert. Schon allein das Socializing in einem entspannten Kontext tut gut.

image/1FD7A33A829A4285870DE8243CA64EC3.jpg

Reduktion von Stress, Depressionen und emotionalen Problemen in Prozent

Peter Palm

Es gibt aber noch eine andere, nicht ganz so offensichtliche Erklärung. Interessant ist nämlich die Tatsache, dass der Hippocampus nicht bloß durch Bewegung , sondern auch durch geistige Anregung, konkret: durch Lernen, aktiviert wird. Aus Sicht des Hippocampus ist es in höchstem Maße anregend, wenn zusätzlich zur körperlichen Aktivität auch noch unser Grips bemüht wird, zum Beispiel, weil neue Bewegungen oder Techniken eingeübt werden oder weil man immer wieder auf seine Position relativ zur Position der anderen Teammitglieder achten muss. Auch beim Jagen und Sammeln in der afrikanischen Ursavanne waren gruppenkoordinierte Bewegungsabläufe gefordert, man musste auf Gefahren achten, Spuren lesen, seinen Weg durch unübersichtliches Gelände finden und sich auf einer Fläche von mehreren Quadratkilometern merken, wo man bereits gewesen war.

Hinzu kommt, dass für unser Gehirn das Prinzip gilt: use it or lose it . Entweder du benutzt deine neuronalen Verbindungen, oder sie werden bald wieder von der Bildfläche verschwinden, weil das Gehirn keine kostbaren Ressourcen verschwendet. Das trifft auch auf den Hippocampus und dessen Neurogenese zu: Die körperliche Bewegung regt zwar zur Neubildung frischer Nervenzellen an. Diese müssen dann aber auch – durch eine geistige Herausforderung – »gebraucht« werden. Erst und nur dann festigen sich die neuen Neuronen-Netzwerke im Kopf. [101]

Kommen wir zu einem Fazit: Versuch dich im Alltag so viel wie möglich zu bewegen . Wenn ich weiß, dass mir ein längeres Telefonat bevorsteht, nehme ich das Telefon mit nach draußen und gehe. Beim Wandern kommen eh die besten Gedanken! Wir empfinden Sport häufig als etwas, wofür wir keine Zeit haben, und mir selbst geht es nicht anders. Also sollte man versuchen, die Bewegung so gut wie möglich in den Alltag zu integrieren, und zwar am besten so, dass sie zum Bestandteil des Alltags wird. Wenn es auf dem Weg zur Arbeit eine Treppe gibt, nimm die Treppe, nicht den Fahrstuhl. Wenn auf einer kurzen Strecke das Fahrrad genauso schnell ist wie das Auto, nimm das Rad. Und warum nicht auch mal ein Meeting bei einem Spaziergang abhalten?

Etwa dreimal die Woche jogge ich mindestens eine halbe Stunde. Außerdem habe ich ein paar Hanteln sowie einige »Kettlebells« (Kugelhanteln), mit denen ich mehrmals die Woche trainiere. Ein Freund von mir ist von Natur aus ziemlich bewegungsfaul , hat aber so viel Spaß daran, mit seinen Kumpels Fußball zu spielen, dass er über diesen Weg – und durch feste Verabredungen – zu mindestens so viel Bewegung kommt wie ich. Andere, die ich kenne, motivieren sich mit einer Schrittzähler-App, die es teils sogar gratis gibt, zu ein paar Tausend Schritten am Tag. Bei mir funktioniert es nur, wenn ich gar nicht groß anfange, darüber nachzudenken, ob ich jetzt trainiere oder nicht, sondern einfach meinen Kopfhörer mit meiner Work-out-Musik aufsetze und loslege. Sobald ich zögere, fallen mir auf Anhieb lauter Gründe ein, es lieber sein zu lassen (zu schlechtes oder zu gutes Wetter, die Arbeit, die ruft, keine Lust auf die Quälerei etc.).

Wenn ich mich trotzdem länger nicht bewegt und mir wieder einmal zu lange eingeredet habe, dass mir »einfach die Zeit fehlt«, rufe ich mir zur Motivation gern eine Studie vor Augen, die Folgendes erbracht hat. Wie US -Forscher berechnet haben, ist der Effekt von Sport auf die Gesundheit so groß, dass man statistisch gesehen für jede Stunde, die man joggt (und wahrscheinlich gilt dies nicht nur fürs Joggen), mit 7 Stunden extra Lebenszeit rechnen darf. [102] Da man bekanntlich nicht unsterblich wird, wenn man ununterbrochen rennt, sollte man solche Hochrechnungen nicht bierernst nehmen, aber sie geben uns einen Eindruck von der Kraft der Bewegung. Mein Vorschlag also: Mach das, was ich jetzt auch mache – eine Pause. Klapp das Buch zu, dreh eine Runde und kehre dann mit etwas mehr Lebenszeit und Lebenslust zurück.