Kapitel 5

Naturerfahrung

Ein Wirkstoff namens Wald

Nachdem ich lange Jahre in einem Kuhdorf verbracht habe, lebe ich endlich wieder in Berlin und liebe es. Aber sosehr ich Städte und Metropolen mag: Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass die Großstadt als Lebensraum auch eine Zumutung ist für ein Gehirn, das sich in den Weiten der kargen, reizarmen Savanne Afrikas entwickelt hat.

Dafür gibt es bemerkenswerte experimentelle Belege: Stresst man zum Beispiel Städter im Hirnscanner, leuchtet ihr Mandelkern stärker auf im Vergleich zu Dorfbewohnern – und je größer die Stadt ist, in der man lebt, desto ausgeprägter ist dieser Effekt. Es ist, als sei die neuronale Alarmzentrale des Großstädters empfindlicher eingestellt, wahrscheinlich weil die Stadt uns stärker beansprucht und man in ihr einfach mehr auf der Hut sein muss. [120] Umgekehrt fährt bereits ein Waldspaziergang von einer Stunde, nicht aber ein Spaziergang durch eine Einkaufsstraße in der Stadt, die Aktivität des Mandelkerns deutlich herunter. [121]

Während die Natur uns beruhigt, bombardiert die Stadt unser Gehirn geradezu mit Reizen. Man könnte sagen: Der einzige Grund, weshalb unser Gehirn in der Stadt nicht durchdreht, liegt darin, weil es verdammt gut darin ist, irrelevante Reize auszublenden. Es gibt eine Art intelligenter Filter in unserem Kopf, der alles Überflüssige (ununterbrochener Hintergrundlärm, Reklameschilder etc.) »abfängt« und lediglich das ans Bewusstsein – gewissermaßen an uns – weiterleitet, was wirklich wichtig ist.

Wenn alles gut läuft, bekommen wir von der Filtertätigkeit unseres Gehirns nichts mit, und so tun wir uns schwer damit, sie zu würdigen. Es gibt aber Ausnahmesituationen, in denen sich die unbewusste Arbeit offenbart. Das berühmteste Beispiel dafür ist wohl das, was man als den »Cocktailparty-Effekt « bezeichnet. Stell dir vor, du bist auf einer Party, um dich herum stehen lauter Menschengrüppchen, die sich jeweils miteinander austauschen. Auch du unterhältst dich mit ein paar Leuten. Dabei konzentrierst du dich so auf die Konversation, dass du die Nachbargespräche außer Acht lässt. Dann aber hörst du plötzlich, wie in einem der Grüppchen neben dir dein Name fällt: Mit einem Mal bist du ganz Ohr und richtest deine Aufmerksamkeit auf das Gespräch deiner Nachbarn.

Wie ist es möglich, dass du deinen Namen hören konntest, wenn du doch die benachbarten Gespräche gar nicht beachtet hast? Eine Erklärung ist, dass dein Gehirn auf einer unbewussten Ebene sehr wohl mitgehört hat, Wort für Wort für Wort. Nur hat es all diese Störreize dermaßen effizient für dich ausgeblendet, dass du dich ganz auf deine Unterhaltung konzentrieren konntest – bis dein Name fiel, der umgehend ans Bewusstsein weitergeleitet wurde. Der Cocktailparty-Effekt demonstriert, wie sehr das Gehirn im Verborgenen schuftet. [122] Und je mehr da draußen los ist, desto mehr Arbeit muss es leisten.

Eine Großstadt ist, im Vergleich zur Natur, wie eine Riesen-Cocktailparty . Im Getümmel merkt man oft gar nicht, wie stark die Filterarbeit unser Gehirn fordert. Irgendwann ist man einfach erschöpft und will nach Hause! Tatsächlich kostet das Filtern und aktive Steuern unserer Aufmerksamkeit auf die wichtigen Reize jede Menge Kraft in Form von mentaler Energie (im Englischen heißt es »to pay attention«, man zahlt Aufmerksamkeit), die irgendwann schlichtweg aufgebraucht ist. Bildhaft formuliert könnte man sagen, dass das Gehirn in einer Großstadt einerseits ständig Gas gibt, was die wichtigen Inputs betrifft, dann aber auch immer wieder auf die Bremse treten muss, um alles Nebensächliche auszublenden. Dieses Stop-and-Go verbraucht besonders viel »geistiges Benzin«. [123]

Eine Vermutung – sie geht zurück auf den amerikanischen Harvard -Psychologen William James , der von 1842 bis 1910 lebte – ist, dass wir genau diese Kraft, die wir brauchen, um die Störreize in der Außenwelt wegzufiltern und unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf das Wesentliche zu lenken, auch für »Störreize« unserer Innenwelt benötigen. [124] Man kennt das Phänomen zum Beispiel aus dem Berufsleben, in dem wir uns ja einigermaßen höflich verhalten wollen beziehungsweise müssen. Geht etwas schief oder gibt es einen Kollegen, den man nicht ausstehen kann, kann man seinem Ärger oder dem Impuls, etwas Unverschämtes zu sagen, nicht völlig freien Lauf lassen, zumindest nicht, wenn man seinen Job mag und ihn gerne noch eine Weile behalten würde. Auch in diesem Fall müssen wir auf die innere Bremse treten und die Aufmerksamkeit auf eine sozial halbwegs angebrachte Reaktion umlenken. Wie wir alle wissen, kann das gerade bei manchen Kollegen ziemlich viel Kraft kosten, die irgendwann alle ist, üblicherweise am Ende des Tages, wenn wir nach Hause zu unserem nichts ahnenden, unschuldigen Lebenspartner fahren. Kurz auf den Punkt gebracht: Laut William James speisen die Aufmerksamkeitssteuerung auf äußere Stimuli sowie die Kontrolle unserer inneren (oft negativen) Gedanken und Gefühle ihre Kraft aus ein und derselben mentalen Energiequelle .

Wenn das wirklich zutreffen sollte, würde das nicht nur ein erhellendes Licht auf die Psyche des Großstädters werfen, sondern auch darauf, warum gerade das heutige Online-Leben uns geistig so schlauchen kann: Ununterbrochene Arbeit am Computer, viel zu viele, meist belanglose Mails, die dennoch geprüft werden müssen, Google, Facebook, Twitter, Instagram, ständige Nachrichten, die uns locken, häufig jedoch einfach nur ablenken, während wir versuchen, uns auf unseren eigentlichen Arbeitsprozess, eine Exceltabelle oder einen wenig faszinierenden Text zu fokussieren – all das verbraucht extrem viel Aufmerksamkeitskraft. [125]

Kürzlich hat man herausgefunden, dass sich bei stundenlanger Konzentrationsarbeit Botenstoffe im Präfrontalcortex ansammeln, die in hohen Dosen nachgerade giftig für die Hirnzellen sind und ihre Funktionen beeinträchtigen – subjektiv scheinen wir diese zunehmende »Vergiftung« als mentale Erschöpfung zu empfinden. [126] Da der Präfrontalcortex so etwas wie der »Sitz unserer Selbstkontrolle« ist und unter anderem über eine Hemmung des Mandelkerns allzu ausufernde Gefühle in Schach halten kann, kommt uns im Falle einer vorübergehenden Vergiftung des Präfrontalcortex der Griff auf unsere Gefühle sowie unsere Impulskontrolle abhanden. Bei einer Depression ist der Präfrontalcortex ja wie beschrieben oft ebenfalls geschwächt. So könnte Konzentrationsarbeit über viele Stunden hinweg uns irgendwann auch regelrecht depressiv stimmen.

Es gibt allerdings, und darauf soll der Fokus in diesem Kapitel liegen, ein von uns stark unterschätztes Erholungsmittel für das überbeanspruchte Gehirn, eine Kur für unser Aufmerksamkeitssystem – eine Umgebung, von der man nicht umsonst sagt, dass sie unsere »Batterien« wieder auflädt: eben die Natur.

In den Weiten der Natur kann sich das Gehirn gehen lassen. Im Wald , in den Bergen oder an einem sanft dahinplätschernden Fluss gibt es idealerweise keine Störreize. Im Gegenteil, hier wollen wir die Reize, die uns umgeben, geradezu in uns aufsaugen. Das Gehirn muss weder filtern noch auf die Bremse treten. Es kann sich entspannen. Die Aufmerksamkeit muss nicht dauernd aktiv von uns gesteuert und umgesteuert werden, sondern wird gewissermaßen ohne Mühe unsererseits von den Reizen gelenkt. Auf diese Weise tankt unsere erschöpfte Aufmerksamkeit – und mit ihr unsere Seele – in der Natur neue Kraft.

Die Natur heilt und macht weniger aggressiv

Die Natur kann uns sogar heilen – oder doch wenigstens zum Heilprozess beitragen. Das klingt schon fast etwas esoterisch, kein Wunder also, dass diese Idee von der Wissenschaft lange Zeit nicht ernst genommen wurde.

Das änderte sich erst 1984, als ein Forscher namens Roger Ulrich eine aufsehenerregende Studie im renommierten US -Wissenschaftsmagazin Science veröffentlichte. Wenn du in deiner Zahnarztpraxis – so wie ich – auf einen Flachbildschirm mit eindrucksvollen Videos von Ozeanen und Wüsten und tauchenden Pinguinen starrst, hast du diesen Blick im Liegestuhl Ulrichs Studie zu verdanken.

Als Teenager hatte Roger Ulrich über Jahre hinweg wiederholt unter schmerzhaften Nierenentzündungen gelitten, viele Wochen verbrachte er zu Hause im Bett. Was ihm allerdings half, die Krankheitstage halbwegs durchzustehen, war der Anblick eines großen Kieferbaums, den er durch sein Fenster sehen konnte. [127]

Und so kam ihm später als junger Wissenschaftler folgende Idee: Er verglich die Krankenhausdaten von zwei Gruppen von stationär aufgenommenen Patienten, denen man die Gallenblase entfernt hatte. Je nachdem, welches Zimmer gerade frei war, hatten einige Patienten einen Raum mit Sicht auf eine braune Hausmauer zugeordnet bekommen, während andere sich über ein Zimmer mit Blick auf Laubbäume freuen durften. Ansonsten waren sowohl die Zimmer als auch die Behandlung so gut wie identisch.

Die Analyse der Patientendaten ergab ein bemerkenswertes Ergebnis. Bei jenen Patienten, die eine Aussicht auf etwas Natur genossen, schritt die Heilung schneller voran. Ihren Krankenschwestern zufolge waren sie körperlich wie psychisch in besserer Verfassung, brauchten weniger starke Schmerzmittel und konnten früher wieder nach Hause entlassen werden. [128] Und das alles nur aufgrund eines Fensterblicks!

Der Forscher Ulrich vermutete vor allem Stress beziehungsweise Stressreduktion hinter dem Effekt, und sicher spielt die Tatsache, dass der Blick auf Natur uns entspannt, eine Rolle. Bei näherer Betrachtung jedoch – und wie viele weitere Studien offenbaren – stellt sich heraus, dass auch unser Aufmerksamkeitssystem beteiligt ist.

In einem Fall interviewten zwei US -Forscher 145 Frauen einer sozial benachteiligten Bevölkerungsschicht in Chicago. Die Frauen im Alter von durchschnittlich Mitte 30 hatten Unterkunft in einem Sozialbau der Stadt bekommen, die jeweilige Wohnung war ihnen per Zufall zugewiesen worden.

Auch hier blickten manche Frauen vorwiegend auf Beton und Asphalt, während sich bei anderen eine Sicht auf eine Rasenfläche mit Bäumen eröffnete. Mit Fragebögen versuchten die Wissenschaftler die Aggressionsneigung der Teilnehmerinnen zu ergründen, etwa wie oft man auf Familienmitglieder (Kind, Partner) schimpfte oder diese ignorierte – bis hin zu regelrechten Prügeleien oder sogar Waffendrohungen.

Wie sich herausstellte, neigten die Frauen ohne Naturblick erheblich häufiger zu Aggressionen und Gewalt. Die Forscher fahndeten in diesem Fall auch nach einem möglichen Mechanismus, der den Zusammenhang zwischen dem Blick aufs Grüne und der Gewaltbereitschaft erklären könnte. So testeten sie zusätzlich die Aufmerksamkeitsspanne der Frauen mit einer simplen Übung. Dabei liest der Versuchsleiter eine Reihe von Zahlen laut vor, etwa »2, 5, 1 …«, und die Aufgabe besteht darin, diese Zahlen in umgekehrter Reihenfolge wiederzugeben (»1, 5, 2 …«). Je mehr Zahlen man fehlerfrei hinbekommt, desto besser die Aufmerksamkeitsspanne.

Es zeigte sich: Jene Frauen mit Wohnungen, die einen Blick auf Rasen und Bäume boten, neigten nicht bloß weniger zur Gewalt, sie verfügten auch über eine größere Aufmerksamkeitsspanne. Mehr noch, je besser die Aufmerksamkeitsspanne war, desto geringer fiel die Tendenz zur Gewalt aus. Statistische Analysen legten dabei nahe, dass sich die mehr oder weniger starke Aggressionsneigung der Frauen komplett mit Hilfe ihrer mehr oder weniger gut ausgeprägten Aufmerksamkeitsspanne erklären ließ. Anders gesagt, je geschwächter unser Aufmerksamkeitssystem ist, desto aggressiver werden wir, oder vielleicht genauer: Desto mehr lassen wir unseren Aggressionen freien Lauf. Wir haben uns nicht mehr im Griff. [129]

Ich fasse zusammen: Unsere Aufmerksamkeit wird vom zunehmend geistig fordernden Charakter unserer Arbeit, vom Multitasking-Leben – und verstärkt noch vom Leben in der Großstadt, fern der Natur – dermaßen strapaziert, dass wir chronisch unter einer »mentalen Müdigkeit« leiden, wie es die Forscher der Chicago-Studie formulieren. Das wiederum führt dazu, dass wir keine mentale Kraft mehr übrig haben, um innere Impulsen, die wir lieber noch einmal überdenken sollten bevor wir ihnen hemmungslos nachgeben, zu kontrollieren.

Wir kommen also erschöpft nach Hause, und der Nachbar lärmt mal wieder, woraufhin wir sofort ausrasten. Oder die (gemeinsame) Bude ist ein Chaos, und im Nu sind wir auf 180: »Schon wieder hat er den Müll nicht weggeräumt!« Mit einer frisch aufgeladenen inneren Batterie kann man diese Art von Wutgedanken, die in jedem von uns immer mal wiederauftauchen, erst einmal in Ruhe sacken lassen und die Aufmerksamkeit dann vielleicht auf eine, mit Blick auf das langfristige Liebesglück, diplomatischere Reaktion lenken. Nicht so an einem Tag, an dem jegliche geistige Bremskraft verbraucht ist. So betrachtet, können Bäume sogar unsere Beziehung retten!

Eine Wanderung im Grünen hilft gegen Grübeln

An dieser Stelle könnte man sich fragen: Aber wieso gerade Bäume? Weshalb Natur? Warum nicht einfach den Fernseher oder die Playstation einschalten? Wenn ich fernsehe, sauge ich auch alle Reize in mich hinein! Ich muss nicht auf die mentale Bremse treten und kann mich herrlich entspannen …

Das stimmt zwar, und nichts gegen einen gemütlichen Fernseh- oder Spieleabend, allerdings gibt es da einen fundamentalen Unterschied zum Ausflug in die Natur: Fernsehbilder sind meist extrem hektisch. Wir nehmen die flimmernden Bilder in uns auf, ja, aber üblicherweise haben wir es auch hier wieder mit einer krassen Reizüberflutung zu tun, die so in der Realität kaum vorkommt.

Die Natur dagegen übt eine »sanfte Faszination« auf unser Gehirn aus, wie der US -Psychologe Stephen Kaplan von der University of Michigan in Ann Arbor sagt, der diese Theorie von der Natur als »aufmerksamkeitsrestaurierende« Kraft entwickelt hat. Ein Park, ein See, in dem die Sonne glitzert, das Meer: All das stimuliert die Sinne, ist aber nicht überstimulierend wie ein Actionfilm oder Videospiel.

Die Reize der Natur bleiben oft gleich oder wiederholen sich mit leicht spielerischen Variationen wie zitternde Laubblätter im Wind oder Meereswellen. Die sanfte Berieselung wirkt wie eine Massage auf unseren Aufmerksamkeitsmuskel, der alles andere als überfordert, sondern geradezu verwöhnt wird. Es tut sich was, und das ist auch angenehm, es tut sich aber nicht so viel, dass es auch nur im Geringsten anstrengend wirken würde.

In einer Studie schickte man eine Gruppe von Testpersonen für ein paar Tage in einen Backpacker-Wilderness-Urlaub, während andere Gruppen Urlaub fernab der Wildnis oder gar keinen Urlaub machten. Davor und danach mussten alle Teilnehmer einen Text Korrektur lesen. Es zeigte sich: Die Backpacker schnitten am Ende besser ab als zuvor – sie fanden nach dem Ausflug mehr Fehler, während die anderen sich sogar verschlechtert hatten. Anscheinend hatte die Naturerfahrung einmal mehr die Aufmerksamkeit geschärft. [130]

Dieser Effekt stellt sich selbst dann noch ein, wenn man den Testpersonen lediglich Bilder mit Naturszenen zeigt: Schon allein das Betrachten solcher Fotos steigert anschließend ihre Fähigkeit, eine Zahlenfolge in umgekehrter Reihenfolge wiederzugeben, während sich nach der Präsentation von urbanen Fotos in der Hinsicht nichts tut. [131] Ein Film mit ruhigen Naturszenen dürfte somit, im Gegensatz zum hektischen Spielfilm, ebenfalls einigermaßen erholsam für unser Aufmerksamkeitssystem sein.

Wenn unsere Aufmerksamkeit nachlässt, wenn wir mental müder und müder werden, heißt das verhängnisvollerweise nicht, dass unsere Gedanken oder Gefühle schwächer werden würden. Nein, sie sprudeln weiter aus dem Unbewussten hervor. Das, was nachlässt, ist unsere Fähigkeit, diese Impulse frühzeitig zu erkennen und dann so aufmerksam zu sein, dass wir ihnen nicht ungehemmt nachgeben. Sind wir geistig erschöpft , folgt auf einen Reiz (die Bude ist ein Chaos) fast zwangsläufig die entsprechende Reaktion (Wutausbruch). Nur wenn man selbst so geistesgegenwärtig ist, dass man seinen Ärger in sich aufkeimen spürt, bekommt man die Chance, diesem Impuls nicht sklavisch zu folgen, sondern ihn verrauchen zu lassen.

In einer geistig erschöpften Verfassung dagegen werden wir – nicht zuletzt aufgrund des geschwächten Präfrontalcortex  – schnell zu einem nicht mehr sehr wehrhaften »Opfer« unserer Gedanken und Gefühle. Indem die Natur unser Aufmerksamkeitssystem regeneriert, erhöht sie unsere Geistesgegenwart, und damit stärkt sie zum Beispiel auch die Kontrolle über unsere Sorgen und Ängste . Eine Sorge führt jetzt nicht mehr automatisch gleich zur nächsten, bis wir uns vollends in ein Stimmungstief hineingegrübelt haben.

Tatsächlich erweisen sich Spaziergänge in der Natur damit auch als gutes Mittel gegen jenes gedankliche Wiederkäuen namens Rumination , das so kennzeichnend ist für Depressionen , wie ein Forscherteam der Stanford -Universität herausgefunden hat. Die Wissenschaftler teilten ihre Versuchskaninchen wie üblich in zwei Gruppen. Die einen sollten anderthalb Stunden durch die Stadt spazieren, die anderen machten in dieser Zeit eine Naturwanderung.

Vorher und nachher legte man den Teilnehmern einen »Ruminationsfragebogen « vor, mit Statements wie »meine Aufmerksamkeit ist häufig auf Gedanken von mir fokussiert, von denen ich mir wünschte, dass ich sie auch mal abschalten könnte«. Außerdem schob man sämtliche Testpersonen nach dem Spaziergang in einen Kernspintomographen, um die Effekte des Spaziergangs auf ihren Gehirnzustand auch bildlich auszuloten.

Der Befund: Jene Teilnehmer, die kurz zuvor anderthalb Stunden in der Natur verbracht hatten, litten nach eigener Auskunft – erfasst mit dem Ruminationsfragebogen  – weniger unter unangenehmer Grübelei. Zugleich war bei ihnen die Aktivität in einem Areal im frontalen Hirn heruntergefahren, den man mit gedanklichem Wiederkäuen in Verbindung bringt. [132]

Unterm Sternenhimmel schrumpft unser Ego

Bisher bin ich vor allem auf den Aspekt der Aufmerksamkeitsregeneration eingegangen, dabei ist die Natur bekanntlich mehr als eine Tankstelle für mentalen Treibstoff. Ein Grund, weshalb wir in der Natur seelisch aufatmen, rührt ja auch daher, dass wir beim Anblick des Atlantiks oder auf einer Bergspitze inmitten der Alpen mit unserem ganzen Organismus spüren, dass wir »nur« ein winziger Teil von etwas unfassbar Großem sind.

Unsere Probleme werden in Relation gerückt, unsere Sorgen abgeschwächt. Unter einem Sternenhimmel gerät man typischerweise weniger in ein gedankliches Wiederkäuen, eher in ein philosophisches Staunen und Reflektieren. Unser Tunnelblick weitet sich. Das Ego mit seinen Problemchen und Kränkungen schrumpft. Angesichts des unermesslichen Kosmos, der uns umgibt, fühlt sich unser eigenes Ich weniger gewichtig, weniger schwer an, und es kann sogar sein, dass diese nagende Stimme in unserem Kopf, die uns normalerweise ständig nervt, für einen Moment verstummt vor lauter Ehrfurcht: Es ist, als würde es uns mental den Atem verschlagen, und das hat etwas Entlastendes.

Auch wenn es schwierig sein mag, ein derart komplexes Phänomen wissenschaftlich zu erfassen, ohne es zu verflachen, so gibt es doch einige Erkenntnisse, die diese Überlegungen untermauern und noch etwas konkretisieren. Zeigt man zum Beispiel Testpersonen im Kernspintomographen Videos von imposanten Landschaften, von Bergen, Ozeanen, Zugvögeln oder Wasserfällen, lässt sich eine relative Aktivitätsabnahme in einem Gehirnnetzwerk namens »Default Mode Network « oder »Ruhenetzwerk« beobachten (im Vergleich zu anderen Videos, wie beispielsweise von einem Traktor). [133]

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Abb. 5.1 Das Bild zeigt einen Längsschnitt durch Kopf und Gehirn, links ist das Gesicht, rechts der Hinterkopf. Die beiden grün markierten Bereiche stellen zwei wichtige Regionen des sogenannten Default Mode Network oder Ruhenetzwerks dar. Die Region links vorne ist der Teil des Präfrontalcortex , der mittig im Gehirn liegt und deshalb als medialer Präfrontalcortex bezeichnet wird. Beim Areal rechts handelt es sich um den sogenannten posterioren cingulären Cortex. Das Ruhenetzwerk wird vor allem dann aktiv, wenn wir unsere Aufmerksamkeit von der Außenwelt abziehen und uns unserer inneren Welt zuwenden, unseren Plänen, Fantasien oder Grübeleien. Versetzen uns Naturbilder in Ehrfurcht, scheint sich das Ruhenetzwerk, das manche mit unserem Ego in Verbindung bringen, herunterzufahren.

John Graner-Walter Reed National Military Medical Center/Wikimedia Commons (PD ). https://commons.wikimedia.org/wiki/File :
Default_mode_network-WRNMMC .jpg (19.12.2022)

Dieses Ruhenetzwerk , das sich aus mehreren Hirnregionen zusammensetzt, die in einem regen Austausch miteinander stehen, wurde vor Jahren entdeckt, als ein Forscher folgenden Geistesblitz hatte: Üblicherweise konfrontiert man Testpersonen im Kernspintomographen ja mit einer bestimmten Aufgabe, um dann zu ergründen, wie sich die Hirnaktivität dabei verändert. Was aber tut das Gehirn eigentlich, wenn die Aufgabe zu Ende ist? Was geschieht in unserem Kopf in den Pausen zwischen den Aufgaben?

Wie sich herausstellt, macht das Gehirn selbst dann keineswegs eine Pause. Stattdessen schlägt die Stunde des Default Mode Network : Unsere Fantasie blüht auf, wir schmieden Pläne oder machen uns Sorgen um etwas, das uns bevorsteht. Erst wenn uns die Außenwelt mit ihren Problemen in Ruhe lässt, können wir uns endlich wieder den Problemen im Kopf zuwenden! So geraten wir ins Grübeln und Ruminieren.

Wie man sich vorstellen kann, ist das Ruhenetzwerk bei depressiven Menschen hyperaktiv: [134] Die Gedanken kreisen beständig um das eigene Ich, darum, was man alles verbockt hat im Leben, wo man überall versagt hat und wie wertlos man doch ist.

Kurz und sehr vereinfachend gesprochen: Wenn sich so etwas wie ein Ego im Gehirn ausfindig machen lässt, dann kommt das Default Mode Network dem einigermaßen nahe. [135] Und ebendieses Hirnnetzwerk beruhigt sich beim Anblick von Ehrfurcht einflößenden Naturbildern. Es ist, als hätte Natur – wenn sie sich uns in ihrer ein-

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Abb. 5.2 Menschen malen sich selbst kleiner inmitten einer imposanten Naturlandschaft. Das Praktische am Rautenpapier, das die Forscher für ihre Studie benutzten, ist, dass man bei der Auswertung nur die Quadrate zählen muss, die mit der Zeichnung der Person (oder dem Wort »Ich«) gefüllt sind. So kann man leicht einen quantitativen Vergleich zwischen der Selbstzeichnung in der Stadt und in der Natur vornehmen. [136]

Bai et al. (2017). Awe, the diminished self, and collective engagement: Universals and cultural variations in the small self. Journal of Personality and Social Psychology, 113(2), 185–209. Fig. 3. doi: 10.1037/pspa0000087.

drucksvollen Größe präsentiert – die Kraft, unser Ich mitsamt seinen Alltagsängsten in den Hintergrund rücken zu lassen, was die Stimmung heben kann.

In einem Versuch baten Wissenschaftler eine Gruppe von Touristen, sich selbst zu zeichnen, wobei die Touristen sich einmal in einem Hafenviertel von San Francisco befanden, während andere sich im imponierenden Yosemite-Nationalpark in Kalifornien aufhielten, umringt von weitläufigen Waldflächen und gewaltigen Granitfelsen. Wie sich zeigte, zeichnen Menschen sich selbst in einer eindrucksvollen Naturlandschaft kleiner als in einer Stadt. Aufgefordert, die Zeichnung mit »Ich« zu kennzeichnen, schreiben sie auch das in kleinerer Schrift: Unser Ich fühlt sich in der Natur buchstäblich kleiner an – kleiner nicht im Sinne von wertlos, sondern als Teil eines großen Ganzen. [137]

Und da das Ich auch eine Last sein kann, insbesondere, wenn man sich selbst als negativ wahrnimmt (»ich bin ein Versager«), kann die Natur selbst Depressionen bis zu einem gewissen Grad lindern. Jedenfalls wirkt zum Beispiel eine Psychotherapie durchgeführt in einer Wald umgebung nachweisbar besser als in einem Krankenhaus. [138]

Fragt man depressive Patienten, was eine Therapie in der Natur für sie so angenehm macht, tauchen häufig Sätze auf wie: Die Natur ist, wie sie ist, sie urteilt nicht, sie lässt mich so sein, wie ich bin. [139] Gerade in depressiven Menschen tobt ja oft – wie in milderer Form in vielen von uns – ein Kampf mit sich selbst, mit diesem inneren Kritiker, der uns Schuldgefühle einredet oder ein Gefühl von Wertlosigkeit vermittelt. Es ist ein Kampf, den es in der Natur schlicht nicht gibt. Die Natur ist ruhig, robust, resilient . Man könnte sagen: Die Natur akzeptiert sich so, wie sie ist. Sie ist mit sich im Einklang und nimmt auch jeden Sturm stoisch hin. Diese »Haltung« der Stärke, Gelassenheit und Akzeptanz färbt womöglich auf uns ab, wenn wir uns in die Natur begeben.

Aber auch jenseits von Depressionen kann man sagen: Jeder von uns atmet im Freien auf, wir fühlen uns ausgeglichener, wohler. Ein britischer Forscher namens George MacKerron hat dies überzeugend nachgewiesen, und zwar anhand von Millionen von Datenpunkten, die er mit Hilfe einer Handy-App (»Mappiness-App«) sammelte. Wer die App installiert hat, der oder die bekommt einmal oder mehrmals täglich einen Ton zu hören, woraufhin man aufgefordert wird, ein paar Fragen zu beantworten, zum Beispiel, ob man sich momentan drinnen oder draußen aufhält und wie man sich gerade fühlt. Zugleich wird per GPS erfasst, wo man sich befindet.

Wie die Auswertung des immensen Datensatzes zeigt, sind wir Menschen nirgends so glücklich wie draußen in der Natur. Unser Glück hängt eben nicht nur davon ab, ob wir einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen oder ob wir mit guten Freunden zusammen und halbwegs gesund sind, sondern auch von der schlichten Frage, wo wir uns aktuell aufhalten. Sind wir von Natur umgeben, ist unser Wohlbefinden konsistent am größten, am allergrößten übrigens – MacKerrons App-Studien zufolge – in Küstenregionen. [140]

Ist das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ein Naturdefizit-Syndrom?

Wie bei der Bewegung tut sich allerdings auch beim Thema Natur eine Kluft auf zwischen dem, was wir wissen, und dem, wie wir handeln. Es ist, als würden wir die Erkenntnisse der Forschung im Alltag dann doch nicht so richtig ernst nehmen. Etwas in uns empfindet es als eine Art von Luxus oder Zeitverschwendung, wenn wir uns am helllichten Tag eine halbe Stunde auf eine Parkbank setzen, um dem Zwitschern der Vögel oder dem Rascheln der Blätter zu lauschen. Lieber verbringen wir unsere gesamte Zeit in (nicht selten schlecht beleuchteten) Büros oder den vier Wänden unserer Wohnung.

Vor allem für Kinder ist diese Entwicklung verhängnisvoll. Es gibt Regionen in Asien, wo Kinder und junge Menschen so wenig an die frische Luft kommen, dass bereits mehr als 90 Prozent der Teenager unter Kurzsichtigkeit leiden. In Seoul zum Beispiel, der Hauptstadt Südkoreas, sind sage und schreibe 96,5 Prozent der 19-jährigen Männer kurzsichtig. [141] Die Netzhaut braucht eine Mindestmenge Sonnenlicht als Stimulation, damit das Auge – unter dem Einfluss des Botenstoffs Dopamin  – nicht unkontrolliert wächst und sich im Laufe der Entwicklung richtig formen kann (Kurzsichtigkeit beschleunigt sich im Winter). Aber viele Kinder und Jugendliche in einigen asiatischen Ländern sehen die Sonne so gut wie nie, aus Sicht ihrer Augen herrscht ewiger Winter. [142] Hinzu kommt, dass sie über Stunden hinweg auf Bücher, Texte, Smartphones, iPads und andere Bildschirme starren. Ihren Augen fehlt nicht nur das helle Sonnenlicht, sondern auch der Blick ins Weite. Die künstliche Lebenswelt, die wir erschaffen und in die wir uns zunehmend zurückgezogen haben, zieht eine Störung nach sich, die wir dann mit Brillen künstlich wieder korrigieren müssen.

Etwas Vergleichbares triff auf die Psyche zu. Wir halten unsere Kinder in beträchtlichem Maße von der Natur fern und haben sie in Klassen- und Kinderzimmer hineinversetzt, wo sie möglichst stillsitzen und sich auf geistigen »Stoff« konzentrieren sollen. Selbstverständlich hat all das seinen Sinn und Zweck, und doch ist sonderbar, dass wir uns angesichts der künstlichen Welt, in der sich unsere Kinder tagein, tagaus befinden, über so etwas wie Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität wundern und dann im Grunde so tun, als seien es die Kinder, die »gestört« sind.

Der Umstand, dass Aufmerksamkeitsdefizit-Störungen in den vergangenen Jahrzehnten um sich gegriffen haben, [143] ist in Zusammenhang mit unserer Entfernung und Entfremdung von der Natur vermutlich besonders relevant. Denn Kinder mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) haben vor allem ein Problem mit der aktiven Steuerung ihrer Aufmerksamkeit auf für sie eher langweilige oder anstrengende Materie wie eben Lernstoff. Drückt man denselben Kindern ein Tablett mit Minecraft in die Hand, können sie sich plötzlich phänomenal gut konzentrieren. Es ist, als sei bei diesen Kindern jener innere Akku, dessen Energie wir für das mühevolle Umlenken der Aufmerksamkeit auf das »Wesentliche« brauchen, von Anfang an nur halbvoll. Interessanterweise haben ADHS -Kinder nicht selten auch Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle und neigen vermehrt zu Aggressionen. Wie also wäre es mit etwas mehr Natur? Würde das nicht gerade diesen Kindern guttun?

Doch, würde es. In einer Studie untersuchte man Kinder zwischen 7 und 12 Jahren mit einer ADHS -Diagnose. Mal ging man 20 Minuten mit ihnen durch einen Park, mal (eine Woche später) durch die Innenstadt oder die Gegend, in der die Kinder wohnten. Das Resultat: Nur der Spaziergang durch den Park führte dazu, dass auch die ADHS -Kinder bei der bereits mehrfach erwähnten Zahlenaufgabe besser abschnitten. Der Effekt war so ausgeprägt, dass die Kinder nach dem Parkspaziergang nicht mehr von anderen, »normalen« Kindern zu unterscheiden waren. Er glich von der Größenordnung jenem, den man auch bei der Gabe des gängigen Medikaments Ritalin sieht, dessen Wirkstoff Methylphenidat ist, eine den Amphetaminen chemisch verwandte Substanz. [144]

Es ist wie bei den kurzsichtigen Kindern in Teilen Asiens: Aus Sicht unserer Entwicklungsgeschichte betrachtet, haben wir unsere Kinder von der Savanne in eine artifizielle Umgebung fern der Natur umgesiedelt, was zu einer »Störung« führt, die wir mit Hilfe eines Medikaments wieder ins Lot zu bringen versuchen. Wir doktern an den Symptomen herum, ohne die wahre Ursache zu beheben.

Tatsächlich werfen die Befunde den Verdacht auf, dass es sich bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung zumindest teils auch um eine »Naturdefizit-Störung« handelt. [145] Wir verabreichen Ritalin , obwohl der Grund für mangelnde Konzentrationsfähigkeit ja wohl kaum auf ein allgemeines, plötzlich aufgetauchtes Ritalindefizit in den Köpfen unserer Kinder zurückzuführen ist. Statt Sonnenlicht gibt es relative Dunkelheit und Brillen. Statt Natur Innenräume und Ritalin . Es geht mir nicht darum, Ritalin oder die »böse« Pharmaindustrie in Bausch und Bogen zu verteufeln. Natürlich ist eine Brille praktisch, und Ritalin hilft zweifellos vielen Kindern. Eventuell wäre es jedoch auch eine Überlegung wert, bei alledem die eigentliche Ursache der Probleme nicht ganz aus dem Auge zu verlieren.

Konkret heißt das: Wir sollten mehr rausgehen. Wieder Verbindung aufnehmen mit jener Welt, die uns einst hervorgebracht hat. Die Natur ist kein Luxus, wie nicht zuletzt die oben genannten Beispiele nahelegen. Nein, die Natur ist eher umgekehrt das Elementarste überhaupt. Auf Wiesen spielen, auf Bäume klettern, Natur erfahren, den Wald erleben mit Haut und Haar (shinrin-yoku , wie man in Japan sagt, »Waldbaden « oder »die Atmosphäre des Walds in sich aufnehmen«) – das ist nicht entbehrlich. Es ist lebensnotwendig.

Für Kinder sowieso, doch auch für uns Erwachsene. Man könnte nämlich sagen, dass wir Online-Stadtneurotiker uns im Laufe des Tages nach und nach in nichts anderes verwandeln als in vorübergehende ADHS -Patienten. Wir brauchen zwar (meist) kein Ritalin , dafür aber unser Koffein . Und klar steigert Koffein kurzfristig unsere Konzentration, sie bringt unsere ausgelaugte Aufmerksamkeit für ein paar Stunden auf Trab und hilft uns zu fokussieren. So richtig entgiften und erholen aber tut sich unser strapaziertes Gehirn davon nicht. Im Gegenteil, am Ende des Tages fühlen wir uns nur noch erschöpfter . Irgendwann können wir uns trotz Kaffee nicht mehr konzentrieren, lassen uns von allem ablenken und werden zunehmend gereizt und irritiert.

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Peter Palm

Wir sollten also rausgehen, wann auch immer es die Situation zulässt. Wie bei der Bewegung ist dabei die Frage nach der exakten Naturdosis, die optimal für unser körperliches und seelisches Wohlbefinden wäre, schwer und vielleicht gar nicht zu beantworten. Es hängt ja sehr von der persönlichen Situation ab: Ist meine Aufmerksamkeit gerade besonders gefordert und erschöpft ? Gehöre ich zu den eher Hyperaktiven? Befinde ich mich in einem Stimmungstief? Dennoch: In einer Studie kam ein internationales Forscherteam anhand der Daten von fast 20 000 (erwachsenen) Menschen zu dem Schluss, dass zwei Stunden Draußensein die Woche eine gute, grobe Minimaldosis darstellt. [146]

Es gibt aber auch differenziertere Empfehlungen. So haben einige Forscher damit angefangen, so etwas wie »Naturpyramiden « zu erstellen – in Anlehnung an die bekannten Ernährungspyramiden . [147] Ganz unten, im Sockel einer solchen Pyramide , landet das, was man im Alltag häufig »zu sich nehmen« sollte: Also jeden Tag sollte man einfach mal in den Garten, in einen Park oder auf eine Wiese gehen, wahrscheinlich reicht auch schon ein Platz mit einem Springbrunnen. Es geht darum, in Kontakt mit den Elementen zu treten, Verbindung zur Natur aufzunehmen und unserem Aufmerksamkeitssystem eine kurze Verschnaufpause zu genehmigen.

Auf der nächsthöheren Stufe kommen die wöchentlichen Aktivitäten wie ein Ausflug zum See, oder man gönnt sich ein längeres Waldbad . Ganz an der Spitze der Pyramide kämen dann die großen Urlaube: ein- oder zweimal im Jahr der Reizüberflutung mal so richtig den Rücken kehren und sich in die Berge, in den Wald oder ans Meer zurückziehen. Herrlich!

Ich weiß, all das ist wie immer einfacher gesagt als getan. Ich denke, letztlich hängt die Frage, ob wir im Alltag wirklich ins Handeln kommen, davon ab, wie überzeugt wir davon sind, dass wir uns mit dem, was wir uns da vornehmen, auch wirklich etwas Gutes tun. Was mich betrifft, scheint das in diesem Fall recht klar zu sein.

Ich habe durch die Beschäftigung mit dem Thema die Natur neu wertschätzen gelernt – zum Beispiel die große, mächtige Linde, die ich von meinem Arbeitszimmer aus sehen kann, oder die Waldabschnitte auf dem Fußweg zur Schule meines Sohns. Ich nehme die Natur aufmerksamer wahr, nehme mir mehr Zeit, in sie »einzutauchen«, und bin fasziniert von ihrer Schönheit und Stille. Wahrscheinlich spielt dabei auch eine Rolle, dass mir, wie den meisten von uns, gerade in den vergangenen Jahren noch einmal eindringlicher als je zuvor bewusst geworden ist, wie sehr wir die Natur mit Füßen treten und sehenden Auges zerstören, als sei sie nichts wert oder selbstverständlich. Und rührt diese verhängnisvolle Geringschätzung nicht auch daher, dass wir uns im modernen Leben so weit von den Elementen entfernt haben? Würde es uns gelingen, wieder mehr Nähe zur Natur herzustellen, würden wir täglich mit ihr in Kontakt treten, dann würden wir wohl auch unmittelbarer spüren, dass wir mit unserer Rücksichtslosigkeit nicht bloß etwas »da draußen«, sondern einen Teil von uns selbst, von unserem eigenen seelischen Wohlbefinden zerstören. [148]

In der Natur erholt sich unsere strapazierte Aufmerksamkeit, regeneriert und schöpft frische Energie. Wie wir gesehen haben, rührt der Erholungs- und Erfrischungseffekt dabei nicht zuletzt daher, dass die übliche Reizbombardierung, mit der uns die Großstadt und das multimediale Leben konfrontiert, in der Natur verschwindet.

Noch radikaler wird die Reizreduzierung bei jenem wohl effizientesten Erholungsmittel überhaupt, mit dem wir unseren Körper und Geist jede Nacht eine regenerierende Verschnaufpause gönnen: dem Schlaf . Gerade wenn wir uns im Schlaf gegenüber den Reizen der Außenwelt in hohem Maße abschotten, kann die Innenwelt im Kopf aufblühen, wie es im Traum geschieht. Beides, sowohl der Schlaf wie auch der Traum, können tatsächlich so heilsam für unser Seelenleben sein, dass sie einer Art Psychotherapie über Nacht gleichkommen – Thema des nächsten Kapitels.