Ich steige am Bahnhof von Westerland aus dem verspäteten Intercity.
Anderthalb Stunden sind wir mindestens zu spät und alles nur wegen eines einzigen Halts auf völlig freier Strecke, zu dessen Ursache sich das Zugpersonal fast schon beneidenswert dickfellig ausschwieg.
Wir standen einfach so still, grund- und ahnungslos, mitten auf dem Hindenburgdamm, und ich bildete mir ein, beobachten zu können, wie das Wasser um uns herum langsam anstieg.
Die anderen Passagiere in meinem Abteil waren schnell ziemlich wütend geworden, mir wurde ein bisschen schlecht von der allgemeinen Ungehaltenheit. Zorn und gekochte Eier sollten per Grundgesetz in Zügen verboten werden.
Ohne diese beiden Luftverpester ist für mich jede Verzögerung im Betriebsablauf ein kleines bisschen Wellness. Das Reisen meist noch mehr als das Ankommen, meine ich, selbst oder vielleicht sogar genau dann, wenn es aus gänzlich unnachvollziehbaren Gründen wieder einmal etwas länger dauert. Die Reise ist für mich immer ein Raum der absoluten Unantastbarkeit, vor allem, wenn ich mit dem Zug unterwegs bin. Schon mit dem Einstieg gebe ich alle Verantwortung ab, Minuten später verabschiedet sich der Handyempfang und schließlich, im finalen Akt, löst sich irgendwo zwischen Elmshorn und Itzehoe die eigene ewige Zuverlässigkeit endgültig in Luft auf. Jede Minute Verspätung ist für mich also keine Strafe, sondern nicht weniger als die großzügige Verlängerung meines kurzzeitig ewigen Lebens.
Außerdem bin ich fest davon überzeugt, dass Essen unterwegs, so teuer und ungesund es auch sein mag, weder echtes Geld kostet noch echte Kalorien hat. Der Bahnhof als flackerndes Tor zum Raum-Zeit-Vakuum. Ich mit zwei Ditsch -Pizzen und einem 7 Euro teuren Saft von Dean&David unter dem Arm. Unverwundbar.
Oma Lore muss ich mit so was natürlich nicht kommen. Die friert gerade einfach nur. Es ist immerhin schon Ende September, gerade auf der Kante von Haupt- zu Nebensaison, weil die Ferienwohnung in einem der hässlichen Betonklötze direkt am Strand dann 20 Euro günstiger die Nacht ist. Eigentlich natürlich immer noch viel zu teuer für meine erzsparsame Großmutter, aber mit Meerblick, immerhin.
Ich habe mehrmals versucht, sie anzurufen, während ich mir vorstellte, wie der Zug auf dem Hindenburgdamm überschwemmt und sich in ein rot-weißes U-Boot verwandeln würde. Das Bordpersonal würde Ölspuren an den Händen und tiefe Augenringe im käsigen Gesicht haben, wie die Besatzung der legendären U 96, und im Bistro würde Essen serviert, von dem man mit der Zeit Skorbut bekäme. Was das anging, würde sich eigentlich gar nicht so viel ändern.
Sie war nicht ans Telefon gegangen, auch nicht beim fünften Versuch, und das, obwohl es sehr wahrscheinlich war, dass meine Großmutter mittlerweile die Hände gegen Wind und Kälte in die Jackentasche gesteckt hatte, gleich neben das Handy, das so alt ist, dass die Vibration wahrscheinlich immerhin etwas Wärme erzeugt.
Der Intercity war nicht untergegangen, aus mir war kein Leutnant Werner wider Willen geworden und ich musste nicht bis an mein Lebensende Pommes frites aus der Mikrowelle essen, also steige ich am Bahnhof von Westerland aus dem verspäteten Intercity.
Der Bahnsteig ist so überfüllt mit Rentnern und Rentnerinnen in bunter Outdoorausrüstung, dass ich meine Großmutter nicht gleich unter ihnen ausfindig machen kann. Ich frage mich ernsthaft, wofür man in Westerland Bergschuhe braucht, als mir ein verträumter Expeditionsteilnehmer fast auf die Füße tritt. Auf Dünen steht kein Gipfelkreuz.
Ich stelle mir Oma Lores Gesicht vor. Die ohnehin schon strengen Züge eingefroren von Wut und Septemberwind, die immer wachsamen Schakalsaugen suchend zusammengekniffen. Ihr Unterkiefer ist, wahrscheinlich vom jahrzehntelangen Zähneknirschen, leicht verschoben, was ihr etwas Verschlagenes gibt, in ihren winzigen Ohrläppchen hängen standesgemäß dicke goldene Creolen. Ihr Haar ist, seit ich denken kann, kurz und hochtoupiert. Obwohl sie nicht uneitel ist, färbt sie es schon immer lieber selbst, anstatt zum Friseur zu gehen. Wahrscheinlich trägt sie, dem maritimen Motto der Insel angepasst, ihren blau-weiß gestreiften Pullover, darüber die violette Fleecejacke, die sie im Türkeiurlaub so günstig gekauft hat, dass sie nicht aufhören kann, davon zu erzählen. Sparen ist ihr Elixier, Anekdoten über die allerneuesten Schnäppchen wichtige Talkingpoints in beinahe jedem Gespräch, dem sie ohnehin unweigerlich ihren ganz eigenen Takt gibt. Das Sparbuch ist ihr Gotteslob.
Was sie allerdings eisern für sich behält, ist das Geheimnis ihrer immerjungen Seidenhaut. Oma Lore ist vielleicht eine harte Frau, aber sie hat die weichsten Wangen der Welt.
Den linken Arm hält sie immer leicht angewinkelt, konnte ihn nie ausstrecken, weil ein unkonzentrierter Arzt ihn schon bei der ersten Möglichkeit mit einer Zange zerquetscht hatte. Noch bevor sie überhaupt auf der Welt war, zeigte diese sich ihr schon von ihrer schmerzhaftesten Seite. Und sie machte ja auch so weiter mit ihr, die Welt. Doch meine Großmutter blieb beinah unverwüstlich stehen, ein Hafenpoller im Windkanal. Einzig die Erwähnung zweier Namen schafft es, sie wirklich aus der Fassung zu bringen, weswegen ich mich bemühe, den einen selten und den zweiten nie auszusprechen. Der Schmerz, der in ihren Augen aufsteigt, wenn sie selbst diese Namen nennt, schöne zweisilbige Namen, ist selbst für mich schon kaum auszuhalten, auch wenn ich nur einen der beiden kannte. Auch ich vermisse ihn.
Jetzt aber vermisse ich erst einmal Oma Lore, die ich noch immer nirgendwo entdecken kann. Nicht auf dem Gleis, nicht vor der kleinen verklinkerten Empfangshalle. Keine lila Fleecejacke, kein tadelnder Blick, nichts.
Sie hat mich schon oft hier abgeholt. In den fast 20 Jahren, in denen wir gemeinsam aus dem Westerländer Parkhaus auf den Wenningstedter Campingplatz fuhren, veränderte sich zwischen uns wenig. Ich war der Enkel, sie die Oma, die Dynamik war einfach und zuverlässig. Das Konzept wurde auch dann nur sehr leicht überarbeitet, als ich irgendwann volljährig war, Enkel bleibt man für immer. Allein die verschiedenen Generationen ihres unvermeidbaren Opel Vectras zeigten pflichtschuldig an, wie um uns herum wohl doch die Zeit verging. Es war erst ein blauer, dann ein grüner und zuletzt ein weißer Wagen gewesen, in dem es ewig gleich nach Haarwasser und sauren Apfelringen roch.
Mir wurde bei Autofahrten schon immer sehr leicht übel, und die zuckrig grünen, mit weißem Schaum gestärkten Süßigkeiten machten es nicht wirklich besser. Trotzdem lehnte ich sie nie ab, wenn meine Großmutter die halbdurchsichtige Verpackung mit geübter Geste und gespielter Beiläufigkeit aus dem Handschuhfach zog. Wenn ich Glück hatte, war es eine bereits angefangene Tüte, die Lore mit einem dicken roten Gummiband nur notdürftig verschlossen hatte.
Das führte dazu, dass die meisten Ringe noch deutlich zäher waren als sonst schon und manche besonders kostbare Exemplare sogar steinhart.
Meine Oma wusste, wie sehr ich diese seltene Kostbarkeit eines solchen beinahe unzerstörbaren Apfelrings liebte.
Dabei war diese auf den ersten Blick recht unschuldige Leckerei in der Vergangenheit einer der Gründe dafür gewesen, dass meine Mutter und Großmutter doch für einige Jahre nicht oder nur mit still leidenden Mienen miteinander gesprochen hatten. Meine Mutter achtete damals recht streng auf meine Ernährung. Vor allem Zucker war absolut tabu, weil er mich als Kind derart aufkratzte, dass ich am ersten Tag nicht schlafen konnte und den zweiten Tag ohne Pause weinte. Meine Oma aber wollte das nicht einsehen. Die Firma Ferrero hatte einen Großteil ihrer Schokoladenprodukte doch wohl nicht ohne Grund mit dem Schlagwort »Kinder« beschriftet, und Fruchtzwerge waren irgendwie doch auch Obst. Und so kam ich regelmäßig mit braunen Mundwinkeln und blank liegenden Nervenenden von großelterlichen Wochenendbesuchen nach Hause, was immer in einen Streit mündete, den ich nie ganz verstand und oft unbeholfen zu schlichten versuchte. Was es aber stets nur noch schlimmer zu machen schien.
Aber auch in der Zeit, in der die Gräben zwischen den beiden Frauen am tiefsten waren, verging keine Opel-Vectra-Autofahrt ohne diese herrlich verbotene süßsaure Übelkeit.
Mit der gleichen Sturheit, mit der Oma Lore auch nach zwei Krebserkrankungen und unzähligen Schicksalsschlägen nicht nur am Leben bleibt, sondern auch jeden Morgen immer wieder aufsteht, verteidigte sie schon damals ihr Königreich aus Industriezucker und Maggi Fondor gegen meine gesundheitsbewusste Mutter. Meine Mutter ist eine sture Frau. Aber Oma Lore ist nun einmal sturer.
Und jetzt, wo ich erwachsen bin, holt sie mich plötzlich nicht mehr mit dem Auto ab, sondern zu Fuß. Keine Apfelringe mehr für mich. Es wäre natürlich ein Leichtes, mir einfach selbst welche zu kaufen, aber das käme mir wie ein Verrat an unserer gemeinsamen Sache vor. Ich will keine Apfelringe essen, ohne dass meine Großmutter und ich damit gemeinsam den Familienfrieden riskieren. Ich will keine Apfelringe essen, ohne dass Oma Lore sich hinter ihrer strengen Miene darüber freut, wie gut es mir schmeckt.
Dieses Spiel aber bleibt uns nun also versagt, weil meine Großeltern nicht mehr mit ihrem Wohnwagen in den Urlaub fahren. Dabei hat das Campen in meiner Familie eine lange und äußerst stolze Tradition. Als mein Vater und seine Brüder noch klein waren, war die Familie noch mit einem riesigen Zelt unterwegs gewesen, das sie sich mit anderen Nützlichkeiten umständlich auf das Dach ihres damaligen Opels schnallten. Erst als die Kinder aus dem Haus waren, konnten meine Großeltern sich schließlich einen Wohnwagen leisten. Nicht irgendeinen, sondern DEN Wohnwagen, der auch mich nun schon mein ganzes Leben begleitete, als wäre er selbst ein zugegebenermaßen recht schweigsames, aber immer fürsorgliches Familienmitglied. Sie machten, Stand heute, fast 60 Jahre lang Campingurlaub. 30 Jahre davon in diesem schmutzig weißen Kugelblitz der Firma Hymer mit einem braun-roten Streifen an der Seite.
Als meine Großmutter den damals nigelnagelneuen Wohnwagen vom Autohändler aus der nächstgrößeren Stadt abholte, sei sie so selig gewesen, dass sie auf dem ganzen Heimweg sang, so der Mythos. Opa Ludwig war damals noch schwer berufstätig und konnte auch bei diesem familiären Meilenstein nicht dabei sein.
Im Innenraum des Wohnwagens, der aus zwei winzigen Räumen, einer Kochnische und einer Toilette bestand, roch es immer etwas nach Gas und der mysteriösen blauen Substanz im Tank der Toilette. Trotzdem liebte ich diesen Ort. Ich liebte es, mit Wasser in den Ohren im Vorzelt zu sitzen und Grillgut oder halbe Hähnchen zu essen. Oder morgens zähe Campingplatzbrötchen mit Opa Ludwigs eigenem Bienenhonig. Der Wohnwagen war, egal, wo er gerade stand, immer ein Zuhause für mich, wobei meine Großmutter hier wohl schnippisch angemerkt hätte, dass er ja dafür schließlich auch gebaut worden war, das wäre ja noch schöner.
Ausgerechnet bei ihrer letzten großen Campingfahrt nach Wenningstedt war ich dann aber nicht dabei gewesen, ich erinnere mich nicht einmal mehr daran, warum. Als ich dann später hörte, dass sie den TÜV des alten Wagens nicht mehr erneuern wollten und schließlich sogar das Kennzeichen abmeldeten, war ich so wütend auf mich selbst geworden, dass ich heulte.
Die Campingfahrten dokumentierte Opa Ludwig fein säuberlich in einem schmalen Heft, 80 waren es insgesamt zwischen 1969 und 2017. Von all den Tagebüchern und Notizen, die mein Großvater seit den Fünfzigerjahren anfertigt, sei dieses Heft das einzig brauchbare, findet meine Oma. Ich blätterte es am braun gefliesten Küchentisch durch und tippte mit dem Finger auf die Fahrten, bei denen ich sie begleitet oder besucht hatte. Das erste Mal war 1994 am Bodensee, kurz nach meiner Beschneidung. Meine Großmutter stellte mir jeden Abend einen Eierbecher voll Kamillentee hin, in dem ich dann meinen Penis baden sollte. Mein letzter Besuch in Wenningstedt war fünf Jahre her, im darauffolgenden Jahr hatten die beiden ihre letzte Wohnwagenfahrt gemacht, und ich war zu beschäftigt gewesen, sie dabei zu besuchen. Wahrscheinlich hatte ich auch deshalb dieses Mal sofort einen Zug gebucht, als Oma Lore mir am Telefon erzählte, einmal wollten sie nun doch noch nach Sylt. Und wegen der Sache mit Opa Ludwigs letztem Tagebuch.
»Du glaubst es nicht. Wir alten Leute sind bald nichts mehr wert.«
Oma Lore hat anscheinend aufgehört, sich die Haare zu färben. Es steht ihr ziemlich gut. Sie wirkt plötzlich deutlich verletzlicher, gleichzeitig strahlt sie so noch mehr Strenge aus als ohnehin schon. Sie umarmt mich. Einarmig und beiläufig, aber nicht ohne Herzlichkeit, keine Ahnung, wie sie das hinbekommt, aber wenn das jemand schafft, dann sie.
Bevor ich mich fragen kann, was sie so auf die Palme bringt, breitet sie den Sachverhalt auch schon in ihrer unvergleichlichen Art der Empörung vor mir aus. Meine Großmutter, die, wie erwartet, frierend, aber eisern die anderthalb Stunden am Bahnhof gewartet hatte, war irgendwann müde und durstig geworden und wollte sich ausnahmsweise auswärts einen Cappuccino gönnen. Diesen aber verwehrte man ihr mitleidlos, solange sie sich nicht mit der Luca-App als Kundin registrierte.
Und mit ihrem alten Nokia-Knochen hätte sich nun selbst beim besten Willen kaum eine Verbindung zum App Store aufbauen können.
»Nichts mehr wert«, wiederholt sie kopfschüttelnd, während wir den Bahnhofsvorplatz passieren.
Wieder fällt mir auf, wie sehr die Sylter Luft nicht nur nach Salz, sondern auch nach Sand riecht. Von Wind und Trekkingsandalen in jeden Winkel der Insel getragen, verströmt er überall seinen sehr eigenwilligen Duft, der sich irgendwo zwischen Regenwurm und Nasenbluten einordnen lässt.
Ich kann leider nicht wirklich sagen, dass ich ihn mag. Weder den Duft noch den Sand selbst eigentlich.
Ich wuchs in Husum an der Nordsee und mit dem heimischen Dockkoog an einem Strand aus Rasen und Asphalt auf. Und das machte mich in diesem Fall, und auch wirklich nur in diesem, sehr pragmatisch. Sand zwischen den Zehen ist zwar ein schönes Gefühl, aber kühler Rasen und heißer Asphalt sind auch nicht so schlecht und machen viel weniger Umstände. Sand wird man nicht mehr los. Ich jedenfalls finde nach nur einem einzigen Strandspaziergang noch Wochen später kleine farblose Steine in Hosentaschen und Schuhen und schlafe auch nach intensivem Abklopfen und dreimaligem Umbeziehen immer noch in sandigen Laken ein. Die spitzen Körnchen bohren sich dann in meine Haut wie ein aggressives Peeling und machen Schlaf für immer undenkbar.
Aber eigentlich ist ein anständiger Strandspaziergang mir diese anschließenden Qualen schon auch wert. So pragmatisch bin ich dann doch wieder nicht.
Ich frage mich aber, was meine Großmutter wohl von Sand hält. Wie sie das aushält, von so vielen potenziellen minikleinen Eindringlingen in ihrer penibel reinlichen Routine umgeben zu sein. Eigentlich wäre der grüne Asphaltstrand meiner Husumer Heimat mehr ihr Ding.
Am Husumer Dockkoog, den sie schon immer mit ansteckender Ignoranz »Hotdog« nennt, haben Ludwig und sie auch einige Male gecampt. Etwa bei der Taufe meiner Schwester oder anderen Familienfeiern. Wenn sie frei wählen konnte, ist es dann aber immer wieder die Insel geworden, Sand hin oder her. Vielleicht ist sie ja doch romantischer veranlagt, als ich bis dato dachte.
Die riesenhaften grünen Figuren, die sich prustend gegen den Westwind stemmen, mochte ich schon immer. Und ich fühle ihren Schmerz. Jeder Mensch, der einmal versucht hat, in Nordfriesland Fahrrad zu fahren oder eine Zeitung auszutragen, tut das. Auch, dass einige der Figuren den Kopf verkehrtherum auf den Schultern tragen, sorgt da nicht unbedingt für Verwunderung.
Ich würde gerne kurz stehen bleiben und sie mir endlich mal wieder genauer ansehen, aber meine Oma hat sich mittlerweile mit ihrem guten Arm bei mir eingehakt und zieht mich fest entschlossen in Richtung Westerländer Kauf- und Amüsiermeile. Vielleicht hätte ich sonst sogar ein giftgrünes Riesenbein mit beiden Armen fest umschlossen, so wie mein Vater damals als Jugendlicher regelmäßig im Arheimer Holz uralte Bäume umarmte. Sehr zur Irritation meiner Großmutter natürlich. Dabei hätten sie es eigentlich schon wissen müssen. Bergmanns Uli, eine Freundin aus dem Kegelklub, die meinen Vater ihr Leben lang vergötterte, hatte bereits einen Tag nach seiner Geburt zu meiner Großmutter gesagt: »Lore, das ist ein anderer.« Und sie sollte recht behalten. Wenn ich an meinen Vater denke, fällt es mir wirklich schwer, Spuren meiner Großeltern an und in ihm zu entdecken.
Weder die Härte meiner Großmutter noch den tänzelnden Leichtsinn von Opa Ludwig scheint er geerbt zu haben. Schon immer nimmt mein Vater jede noch so kleine Erschütterung der Welt und gleichzeitig irgendwie doch auch überhaupt nichts um sich herum wahr.
Als ich ihm nach einem Besuch bei meinen Großeltern etwa erzählte, dass fahrlässige Forstarbeiter wegen eines Missverständnisses eine mindestens 500 Jahre alte Eiche in der Nähe seines Heimatdorfes gefällt hatten, sprach er zwei Tage lang fast kein Wort und ging nach jedem Essen gleich in sein Arbeitszimmer, wo ich ihn leise Gitarre spielen und dazu singen hörte. Das war seine Art, mit diesem Verlust umzugehen. Er hatte diesen Baum geliebt, wahrscheinlich mehr, als ich das je werde begreifen können.
Auch einen gezogenen Backenzahn betrauerte er ungefähr eine Woche lang und schrieb ihm einen herzzerreißenden Abschiedsbrief. Kurzzeitig hörte er dieses Mal sogar ganz auf zu sprechen, weil das fast unhörbar leise Pfeifen der Atemluft durch die neu entstandene Lücke ihn zu sehr an seinen nun für immer verlorenen Wegbegleiter erinnerte. Die Endlichkeit macht ihn einfach fertig. Vor allem dann, wenn sie so stumpfsinnig von Menschenhand beschleunigt wird, wie etwa durch eine Kettensäge oder eine Zange.
Mein Vater hatte früh angefangen zu zeichnen und malte später Tausende Aquarelle seiner Heimatlandschaft, die heute wie ein Erkennungszeichen in jeder Wohnung, in jedem Haus zu hängen scheinen, in dem jemand aus unserer Familie wohnt. Eigentlich war er schon immer zu zart und zu fein, um mit der knallharten Bodenständigkeit meiner dickfelligen Großeltern klarzukommen. Aber weil er schon als Kind meistens schwieg und das Seltsame an sich nur im Verborgenen preisgab, stand er bei meiner Großmutter trotzdem stets hoch im Kurs. »Er war immer so schön artig«, sagt sie heute noch, fast schwelgerisch. In Wirklichkeit aber ist er die meiste Zeit gar nicht anwesend, »wohl hier, aber nicht ganz da«, wie mein Großvater sagen würde. Und was wirklich in ihm vorgeht, kann keiner von uns wissen, was natürlich auf eine Art ein Allgemeinplatz ist, aber bei niemandem stimmt es so sehr wie bei meinem Vater. Auch für mich ist er irgendwie immer »ein anderer« geblieben.
»Mein Gott«, sagt Lore, der jetzt erst wieder einfällt, weshalb sie so gefroren hat. Ich bin natürlich schuld daran, dass ihr die Idee mit dem blöden Cappuccino überhaupt erst gekommen ist. Eine wirkliche Unverschämtheit. Dabei trinkt sie doch eigentlich eh am allerliebsten Instantkaffee. Wiener Melange der Marke Krüger.
Als Kinder schütteten mein Cousin Felix und ich uns den Inhalt aus den dünnen blauen Tütchen am liebsten gleich direkt und völlig unverdünnt in den Mund und prügelten uns anschließend im Zucker- und Koffein-Rausch auf der mit Waschbeton gefliesten Terrasse meiner Großeltern mit großen Stöcken. Wenn man dort hinfiel, rissen einem die großen, mit Zement gebundenen Steine tiefe Löcher in die Kinderknie, und von meiner Oma konnte man in diesem Fall eher einen Anschiss als ein Pflaster erwarten.
Jedenfalls könnte kein Bahnhofskaffee der Welt mit diesem wirren Traum aus Puderzucker und Kakao, aus Vanillearoma und sofort löslichem Kaffeestaub mithalten. In diesem Sinn haben der verspätete Intercity, die unnachgiebige Verkäuferin und ich meine Großmutter sogar gemeinschaftlich vor einer ziemlich herben Enttäuschung bewahrt. Aber das behalte ich vorsorglich lieber für mich.
»Du hättest ja wenigstens mal anrufen können.«
»Hab ich doch«, sage ich.
»Was?«, sagt meine Großmutter böse.
»Stimmt«, sage ich. »Tut mir leid.«
Die Innenstadt von Westerland ist wirklich schwer auszuhalten. Es kommt mir fast so vor, als hätten sich findige Städteplaner das alles genau so ausgedacht, damit der Strand und das Meer noch schöner, noch erhabener wirken. Die ursprünglich raue Schönheit der Natur im harten Kontrast zu den architektonischen Schandflecken, in denen man dringend Segelschuhe oder Softeis mit roter Grütze kaufen muss, um sich die wenigen Schritte bis zur rettenden See doch noch irgendwie erträglich zu machen. Der alte Gosch, ewiger Pate der Insel, hat sich gerade das einzig schöne Gebäude in der gesamten Hauptstraße gesichert und baut es kostspielig um. Meine Großmutter erzählt mir davon, als wäre der Sylter Meeresfrüchte-Godfather ein lieber alter Freund von ihr. Wenn sie von seinem neuen Wenningstedter Dünenbungalow mit begrüntem Flachdach schwärmt, klingt sie sogar fast ein bisschen stolz. Oma Lore hat immer an ihn geglaubt. Selbst dass die Krabbenbrötchen in Krisenzeiten einmal beinahe 15 Euro kosteten, verzieh sie ihm schnell und großmütig. Wir anderen mussten indes vor ihrer internen Kartei erzittern, in der sie präzise all unsere Verfehlungen aufbewahrte und gerne in größerer Runde zum Besten gab.
Meine Liste ist da natürlich besonders lang, mir wird ein bisschen heiß, wenn ich nur daran denke.
Aber auch mit sich selbst geht sie durchaus hart ins Gericht. Auf dem Weg zur Ferienwohnung erzählt sie mir, wie sie gestern die falschen Kartoffeln gekauft hat, mehligkochende nämlich statt der festen, und die sind für Bratkartoffeln völlig unbrauchbar. Kartoffeln sind in meiner Familie schon immer eine ziemlich große Sache. Immerhin sind sie für meinen Opa Ludwig wichtiger Bestandteil jeder warmen Mahlzeit. Die anderen beiden Säulen seiner allmittäglichen Dreifaltigkeit heißen Fleisch und Soße.
Bei einem seiner obligatorischen Geburtstagsanrufe riet er mir einmal in sehr ernstem Ton, unbedingt noch ein Kotelett mit Pommes frites zu essen und eine Flasche Sekt zu öffnen. Als ich dem nicht gleich zustimmte, fügte er, nun ehrlich besorgt, hinzu:
»Mensch, Lerge, sonst weißt du doch gar nicht, dass heute ein besonderer Tag ist.«
Ohnehin ist ihm kaum etwas so wichtig wie das tägliche Mittagessen, das Lore, egal, unter welchen Umständen, pünktlich um 12 Uhr serviert, ohne Ausnahme. Das hält ihn, das hält die Beziehung am Leben, das betont er bei jeder Gelegenheit. Und warm muss das Essen sein, warm und »erquickend«. Auf »Butterbrote mit Margarine«, genau so sagt er das, könne man schließlich kein Leben aufbauen.
Opa Ludwig hat gehungert. Damals auf der Flucht aus seinem schlesischen Heimatdorf. Wenn überhaupt, dann hat es trockenes Brot, alte Kartoffeln oder Graupen gegeben. Als er meine Großmutter heiratete, hatte sie ihm versprechen müssen, dass in ihrem gemeinsamen Haus niemals Graupen auf den Tisch kommen würden, egal, wie schlecht es ihnen ginge. Er spricht sehr wenig von der Flucht, und nur manchmal traut sich einer von uns, nachzufragen.
Eine Geschichte erzählt er aber doch sehr gerne:
Wenn der Treck für ein paar wenige Tage in der Nähe eines Dorfes haltmachte, schickte man die Kinder los, um zu betteln. Mein Großvater war zehn Jahre alt und völlig frei von jeglicher Scham. Wenn der Hunger einigermaßen erträglich war, dann machte ihm das Betteln sogar ein wenig Spaß. Er begriff es als Spiel, zwar eines um Leben und Tod, aber er hatte die Regeln schnell verstanden und auch ein paar Tricks und Kniffe entwickelt, die er den anderen Kindern beibringen konnte. Zum Beispiel ließ er sich nicht gleich abwimmeln, wenn man ihm am Vordereingang eines Hauses die kalte Schulter zeigte, sondern ging immer noch hinters Haus. Dort traf er oft auf ältere Frauen, die Kartoffeln schälten oder im Zuber Wäsche wuschen. Und die hatten immer Mitleid mit ihm. Von einer alten Frau, sagte er, sei er beim Betteln nie abgewiesen worden. Und an jenem Nachmittag gab es für ihn neben einem halben Laib Brot und etwas Milch sogar eine Feldflasche voll Rotwein. Stolz trug mein Großvater die Schätze zurück zum Treck, doch es waren fast fünf Kilometer, die er zurücklegen musste, seine Beine waren kurz, die Sonne verbrannte sein Gesicht, und seine Zunge klebte vor Durst am Gaumen. Die Milch war tabu, weil im Treck auch zwei Kleinkinder mitreisten, also trank er einen einzigen winzigen Schluck Rotwein. Dann noch einen und noch einen, dann tanzte er über den Feldweg und sang Pfadfinderlieder, bis irgendwann die ganze Flasche leer war. Er wachte erst wieder auf, als sein Vater ihn am Ohr aus dem Graben zog, in dem er volltrunken das Bewusstsein verloren hatte. Die Milchkanne lag umgestoßen da, und das Brot hatte sich mit dem brackigen Grabenwasser vollgesogen. Sein Vater, »der alte Zickelschuster«, wartete nicht bis zu seiner Ausnüchterung und verprügelte ihn noch vor Ort derart, dass er erneut das Bewusstsein verlor. Als er das nächste Mal erwachte, war es nicht mein Urgroßvater, der ihn weckte, sondern das Fieber. Er bekam Typhus, und, so endet die Geschichte jedes Mal: »… fast hätten wir alle nicht hier gesessen.«
Weil Graupen tabu waren, das Geld aber trotzdem knapp, begannen meine Großeltern früh damit, sich selbst zu versorgen. Sie bauten Kohl in allen Formen und Farben an, hatten Brombeerbüsche und Apfelbäume und setzten Kartoffelpflanzen. Dass meine Großmutter erst jetzt, zum ersten Mal seit fast 60 Jahren, wieder Kartoffeln aus dem Supermarkt kaufen musste, lag daran, dass es ihr nach all den Jahren schließlich doch zu lästig wurde, mehrere Kilo Erdäpfel in Reisekoffern quer durch die Republik oder sogar weit darüber hinaus zu schleppen. Oma Lore und Opa Ludwig hatten ihre eigenen Kartoffeln sogar mit nach Kroatien genommen. Dazu eingekochtes Gulasch und Stachelbeeren aus dem Glas. Damals, in einem Opel vor meiner Zeit mit braunem Dach und ockergelbem Lack. Auf den Fotos, die ich aus dieser Zeit kenne, sieht man meinen Großvater in Tigerbadehose und meinen Vater und meine beiden Onkel in einem großen orangen Gummiboot sitzen, und wenn man ganz genau hinsieht, kann man all die Köstlichkeiten in ihren glücklich gespannten Bäuchen erkennen. Selbst nach Fuerteventura, also auf ihre erste Flugreise, haben sie Schmackhaftes aus dem eigenen Garten über die Landesgrenzen geschmuggelt. Man konnte ja nie wissen. Auch hier gibt es ein Foto: Mein Großvater, wie er mit Schlaghosen und im Gegenlicht einen Koffer in die Gepäckablage hievt, mit einem solch verstohlenen Gesichtsausdruck, als hätte er Narcos anstatt Nachtschattengewächse geladen.
Selbstverständlich lag auch bei jeder ihrer Syltreisen ein großer Kartoffelsack im Kofferraum des jeweiligen Opel Vectras. Die tollen Knollen nährten uns täglich, als Pellkartoffeln, Salzkartoffeln, Pfannkuchen oder Pickert. Pickert ist eine ostwestfälische Spezialität, ein Gemisch aus Kartoffeln und Hefeteig mit reichlich Rosinen, in siedendem Schmalz ausgebacken. Diese Köstlichkeit verkauften meine Großeltern in einem eigens zusammengezimmerten Stand sogar auf dem Weihnachtsmarkt ihres Dorfes. Es schmeckt köstlich und liegt wie Zement im Magen, vor allem im Sommer, auf Sylt, mit Salz in den Haaren und Wasser im Ohr. »Lembas-Brot«, sagte mein Cousin Felix, wenn meine Großmutter einen dampfenden Teller mit den fettigen Fladen vor uns abstellte. Benannt nach dem Elbenbrot aus Herr der Ringe, dem man nachsagte, ein Bissen könne einen erwachsenen Mann einen Tag lang satt machen. Was Lembas betrifft, bin ich mir nicht sicher, ob das wirklich stimmt, was Pickert angeht, allerdings schon.
Die einzigen Kartoffeln, die meine Großmutter also in der Zwischenzeit kaufte, waren Pommes. »Heute Abend hole ich von Wonnemeyer«, sagte sie schon beim Frühstück, und diese Verheißung trug mich durch den ganzen Tag, während ich mich von Wellen überrollen und von der Sonne verbrennen ließ. Meine Großmutter glaubte noch nie an das Prinzip Sonnencreme, heute genauso wenig wie vor fast 50 Jahren, als mein Vater und seine beiden Brüder unter ihren Augen zu goldbraunen Backfischen verbrutzelten. Mein Onkel Jacob, der jüngste der drei, hat einmal fünf Mark bekommen, damit meine Großmutter in der Badewanne ein Foto von seinem kalkweißen Hintern machen durfte, der den Knusperurlaub sicher und unversehrt in einer etwas zu engen Badehose überstanden hatte. Im Kontrast zu seinem sonst großflächig und sorgfältig ausgebackenen Kinderkörper sah der Abdruck wirklich so aus, als wäre jemand mit einer weißen Farbrolle an einer sehr braunen Wand vorbeigelaufen. Wenn man genau hinsah, dann konnte man auf dem Foto, was mit Sicherheit eines der großartigsten unserer Familiengeschichte ist, den blitzblanken Heiermann in der Seifenablage erkennen.
So braun war ich nie, auch in den schönsten Sylter Sommern nicht, ich wurde immer gleich rot. Aber wenn ich dann abends mit heißen Ohren im Vorzelt saß und gemeinsam mit meinem Großvater fast andächtig darauf wartete, dass meine Großmutter aus dem gelobten Land reich mit Frittiertem beladen zurückkehren würde, kümmerte mich das recht wenig. In dem Moment, in dem meine Oma ihr lila Damenrad an den Wohnwagen schloss, stieg uns schon der Geruch aus ihrem Fahrradkorb in die Nasen, der für mich für immer »Wonnemeyer« sein wird: etwas zu altes Frittierfett, Pommessalz und hart gegrillte Hühnerhaut. »Fein«, sagte mein Großvater, als er das fettige Papier auseinanderfaltete, »fein.« Und das war es.
Was Brathähnchen angeht, so teilen meine Großeltern eine gemeinsame Passion, das sogenannte Absuchen. Kein Knochen wandert in die dafür vorgesehene Schale, ohne dass er von einem der beiden oder im Zweifel von beiden noch akribisch nach Fleischresten abgesucht wird. Wenn ich mir schon sicher bin, einen Knochen blitzblank abgenagt zu haben, und ihn selbstbewusst in die Schale werfen will, sieht meine Oma mich halb tadelnd, halb mitleidvoll an und fragt: »Magst du nicht absuchen?« Und noch bevor ich antworten kann, streckt sie auch schon ihre Hand aus. »Gib her«, sagt sie. »Oppa und ich suchen gerne ab.« Eigentlich bin ich bei solchen Dingen oft angeekelt, aber meine leidenschaftlich nagenden Großeltern faszinieren und rühren mich jedes Mal. Die Zähne gebleckt, die Wangen bis zu den Augen nach oben geschoben, zwei Rentner mit Raubtierlächeln. Jedes Mal nehme ich mir vor, im Absuchen besser zu werden. Immer dann, wenn der letzte Knochen säuberlich abgenagt in die Schale gewandert ist, schiebt mein Großvater demonstrativ den Teller weit von sich. Das tut er immer, ob es nun Hähnchen gab oder nicht. Er seufzt tief und kneift die Augen zusammen. Dann seufzt er erneut und sagt: »Lore, mich überkommt eine sagenhafte Müdigkeit.«
Als Kind hat Opa Ludwig mir das Schnarchen beigebracht. Das waren die wenigen Momente meiner Kindheit, in denen wir uns wirklich gut verstanden, in denen er nicht ständig darüber schimpfte, wie »unkontrolliert« ich sei. Ich war ihr erster Enkel, der erste von mittlerweile acht, und dementsprechend enttäuscht war man darüber, dass ich doch auf den ersten Blick recht wenig von meinem braven Vater hatte und umso mehr von meiner hitzköpfigen Mutter. Ich kann mich nicht daran erinnern, von meiner Großmutter als Kind jemals gelobt worden zu sein. Am nächsten an ein Lob kam ich eines Tages, als mein Cousin Felix übermütig eine große Schale Grießpudding mit Erdbeeren fallen ließ. Während meine Großmutter Grieß und Beeren vom grauen PVC -Boden der Küche kratzte, schimpfte sie: »Ich dachte immer, Max wäre der Schlimmste, jetzt weiß ich, du bist der Schlimmste.« Und so war ich ungefähr einen halben Tag lang aus dem Schneider, bis ich wieder zu laut sprach oder schief auf dem Stuhl saß oder irgendetwas anderes »Unkontrolliertes« tat. Nur in diesen Dingen war ich wirklich schon immer äußerst zuverlässig.
Zur Verteidigung meiner Großeltern muss ich aber einräumen, dass ich durchaus meine exzentrischen Momente hatte. Es folgt ein exemplarischer Auszug aus Oma Lores bereits erwähntem Katalog meiner bisherigen Verfehlungen:
Als meine Großmutter mich als etwa Fünfjährigen mit in das Krankenhaus nahm, in dem sie putzte, setzte sie mich in eines der Wartezimmer und drückte mir ein Bilderbuch in die Hand. Stolz wollte sie am Ende ihrer Schicht einer Kollegin ihren ersten Enkel, nun endlich im sprechfähigen Alter, vorstellen. Die ältere Dame roch nach Puder und Zigaretten, das weiß ich noch genau. »Du bist aber ein Süßer«, säuselte sie. »Was liest du denn da Feines?«
Ohne von meiner Lektüre aufzusehen, antwortete ich ihr kalt und tonlos: »Ich werfe dich gleich aus dem Fenster raus.«
Es war unfair, meinen Zorn an dieser armen Frau auszulassen. Heute bin ich mir sicher, dass nicht sie, sondern die drückende Langeweile in den sterilen Krankenhausfluren und das fürchterliche Deckenlicht mich so unglaublich kalt und wütend machten. Immer noch bekomme ich von alldem in Sekundenschnelle Migräne, damals aber bekam vor allem die nette alte Dame einen Schreck fürs Leben. Ich sah sie nie wieder. Meine Oma hatte zum Glück gerade noch genug Angst vor meiner Mutter, um mich in dieser Situation nicht zu schlagen, aber um ein Haar wäre ich es selbst gewesen, der an diesem Tag aus dem Fenster geflogen wäre.
Einen ähnlichen Zwischenfall hat es auch mit meiner wirklich sehr herzlichen Großtante Gerti gegeben. Nachdem ich sie ungefähr ein Jahr lang nicht gesehen hatte, begrüßte sie mich um meinen sechsten Geburtstag herum recht überschwänglich mit: »Ach, der kleine Max, du bist aber groß geworden.« Worauf ich entgegnete: »Ich haue dir gleich mit der Bratpfanne auf den Kopf.«
Wenn meine Großmutter diese Geschichte erzählt, und das tut sie wirklich zuverlässig mindestens einmal, wenn wir uns sehen, verwechselt sie immer ein entscheidendes Detail. Statt »Bratpfanne« dichtet sie mir an, ich hätte Tante Gerti mit einer Bierflasche gedroht. Was wiederum daran liegt, dass ich tatsächlich einmal mit einer Bierflasche zugeschlagen habe. Meinem armen Onkel Jacob habe ich mit ungefähr sieben eine übergezogen, als der gerade arglos im Vorgarten meiner Großeltern einen Mittagsschlaf machte. Ich war mir sicher, er würde den Witz verstehen. Von allen in meiner Familie fühlte ich mich ihm, den meine Eltern nicht ohne Grund auch zu meinem Paten gemacht hatten, irgendwie immer am nächsten. Dass der Witz nicht besonders gut war, dämmerte mir erst, als Jacob, statt in schallendes Lachen auszubrechen, einen markerschütternden Schmerzensschrei absetzte.
Die beachtliche Beule, die er anschließend für den Rest des Urlaubs mit sich herumtragen musste, tat ihr Übriges. Wütend war er zwar nur sehr kurzfristig gewesen, wirklich witzig fand er die Aktion nun aber leider auch nicht. Ich war wohl doch anders als die anderen. Selbst als die, die auch anders waren.
Mein Name spielte dabei auch irgendwie die Rolle einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Mein Vater hatte ihn ausgesucht und mich so nach der Hauptfigur des Buches benannt, das er und seine Brüder als Kinder am meisten geliebt hatten. Sie liehen es so oft aus der örtlichen Bibliothek aus, bis die Bibliothekarin es ihnen schließlich schenkte, weil es sowieso völlig zerfleddert und zerlesen war.
Wo die wilden Kerle wohnen von Maurice Sendak ist die Geschichte eines Jungen, der so über die Stränge schlägt, dass seine Mutter ihn ohne Abendessen ins Bett schickt. Daraufhin geschehen auf einmal völlig fantastische Dinge. Ein Urwald wächst in seinem Zimmer, dahinter ein Meer, das ihn zu einer Insel bringt, auf der schreckliche Monster leben, die ihn aber schließlich als ihren Anführer akzeptieren. Weil er nämlich der wildeste Kerl von ihnen allen ist. Das Ende der Geschichte bot für mich aber das größte Identifikationspotenzial. Irgendwann fühlt sich Max auf der Monsterinsel doch fremd und reist zurück in sein Zuhause, wo dann schließlich doch noch ein warmes Essen auf ihn wartet. Denn egal, wie angespannt das Verhältnis zwischen mir und meinen Großeltern war, am Ende des Tages aßen wir immer zusammen. Und wer absuchen kann, der ist niemals einsam.
Nach dem Abendessen also, wenn Opa Ludwig gute Laune hatte und ich nicht allzu unkontrolliert gewesen war, brachte er mir das Schnarchen bei.
Dafür legte er den Kopf in den Nacken, nahm einen tiefen schnarrenden Atemzug durch die Nase, gefolgt von einem »Pitschepü« beim Ausatmen und abgerundet mit zwei Seufzern, »Ah« und »Ü«. Ich machte ihm das nach, und er machte immer weiter, ganz geduldig und bis wir beide rote Wangen vom Lachen hatten. Dann nahm er meinen Kopf in seine gigantischen Maulwurfspranken, sah mich fest an und sagte: »Ambrosius, du bist eine fetzige Lerge.«
»Lerge« ist Opa Ludwigs liebstes Universalwort. Er bezeichnet damit alles und jeden, auch sich selbst nennt er gerne eine »Oppa Lerge«. Er nutzt es in Momenten des Ärgers (»Verdammte Lerge!«), der Überraschung (»Lerge-box!«) und der Anerkennung (»Lerge, Lerge, ich staune!«) sowie in allen weiteren irgendwie erdenklichen Lebenslagen. Was dem Schlumpf sein »Schlumpf«, ist Opa Ludwig seine Lerge.
Wenn man dem Internet glauben darf, dann stammt das Wort »Lerge« aus dem Niederschlesischen und ist Schimpf- und Kosewort in einem, besser könnte es gar nicht zu ihm passen. Warum er mich schon seit meiner frühesten Kindheit »Ambrosius« oder gesteigert »Ambrosius Karl Otto« nennt, ist mir allerdings ein Rätsel, das sogar das Internet in die Knie zwingt. Ihn selbst habe ich nie danach gefragt.
Die Hände meines Großvaters, oder besser: die Hände meiner Oppa Lerge, sind mindestens zweimal so groß wie normale Hände, seine Gicht hat die Gelenke außerdem so verdickt, dass die Finger wie knorrige Äste aussehen, dazu die spitzen, von ewiger Arbeit immer schmutzigen Fingernägel. Eine gruselige Mischung aus dem krumm gezüchteten Zierbambus von IKEA und den kalten Mörderfingern von Lord Voldemort. Als Kind ekelte ich mich, wenn er mit diesen Händen Butterbrote schmierte, sie mit einem Kartoffelmesser klein schnitt und dann in rasender Geschwindigkeit aufaß, sodass ihm je nach Tageszeit Marmelade oder Leberwurst am Mund und an den Händen klebte. Mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt. Der Ekel ist nie ganz verflogen, aber er wurde schlicht zur Normalität, und ich liebe meinen Großvater trotz der Essensreste und seiner gruseligen Tatzen.
Trotzdem fällt es mir heute noch schwer, Brote mit etwas anderem als Butter und Salz zu essen. Schuld ist wohl auch der Geruch der Tupperboxen, in denen meine Großeltern seit jeher Wurst (rot) und Käse (gelb) aufbewahren. Mein Großvater öffnet sie bei jedem Abendessen mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Ungeduld, wie ein Kind, das unter dem Weihnachtsbaum Geschenke auspackt. Schon früh hielt ich das kaum aus, fürchtete mich vor jedem Abendessen und schämte mich gleichzeitig für meinen Ekel.
Am schlimmsten kulminierte all das, als ich ungefähr sechs oder sieben Jahre alt war und wir meine Großeltern auf einem Campingplatz an der Ostsee besuchten. Als meine Mutter meine Schwester und mich großflächig mit Sonnenschutz einschmierte, konnte Oma Lore ihre spitzen Bemerkungen gerade so für sich behalten. Als es dann aber um die Margarine ging, war es aus mit ihrer Geduld. Die Margarine war bei jedem Abendbrot mein wahrer Endgegner. Ein unappetitlich gelblicher Plastiknapf mit aufgedruckten Sonnenblumen, die in ihrer kindlichen Unschuld aber nicht über den grauenhaften Inhalt hinwegtäuschen konnten. Die Essensreste, die mein Großvater am Kinn und an den Fingern sammelte, waren nämlich nur die Spitze des Eisbergs. Die Margarine war der Eisberg selbst. So durchzogen von Marmeladen in allen Farben des Regenbogens, Tee- und Leberwurst und Nuss-Nougat-Creme, dass es mir vorkam, als würde die unheilvolle Packung niemals leer werden, weil jeder schmutzige Messerstreich ebenso viel dort ließ, wie er mitnahm. Meine einzige Hoffnung, die einzige Rettung vor diesem schleimigen Golem, dem Geist vergangener Brotzeiten, war die gute Butter. Unschuldige geschmacksneutrale zauberhafte Butter, die noch keinen Kummer gesehen, noch kein Leid erlebt hatte, die farblos auf dem getoasteten Graubrot schmolz. Auf die gute Butter konnte ich mich verlassen. Und eigentlich gab es sie auch bei jedem Abendbrot. Sie war meine ewige Insel, mein fettiger Luftschutzbunker zwischen all den visuellen und olfaktorischen Explosionen, nur an diesem Abend war sie plötzlich genau dann aufgebraucht, als ich sie gerade am dringendsten brauchte.
Meine Obsession mit der Reinheit von Trägerfett hatte nicht nur mit der Albtraummargarine zu tun, sondern auch mit meinen Großeltern mütterlicherseits, die ihre eigene perfide Methode entwickelt hatten, um wunderbar schmackhafte Lebensmittel völlig ungenießbar zu machen.
Meine Großeltern mütterlicherseits wohnen in einem kleinen, eher hässlichen Haus in einer kleinen, eher hässlichen Stadt in Westfalen. Sie haben einen Keller voll mit Einmachgläsern und einen Hund, der Leo heißt, und sind eigentlich ganz in Ordnung. Wenn man am Schusterschuppen vorbei durch die Waschküche geht, fängt der freundliche Jack Russell an zu bellen und hört erst Minuten später wieder auf, wenn man längst am Küchentisch und beim Abendbrot sitzt. Und erst wenn man genau dort sitzt, nichts ahnend, vielleicht sogar vorfreudig ob des gemeinsamen Mahls und trotz familiärer Zwistigkeiten fast einträchtig, riecht man sie plötzlich, die Minze. Die fürchterliche Minze. Und dann schmeckt man sie. Man mochte sich fast einbilden, über allen Dingen, die auf dem reich gedeckten Tisch standen, einen schwachen grünen Film zu entdecken. Der Herd dieser subtilen Folter ist ein alter Küchenschrank. Der alte Küchenschrank der ersten und wohl auch letzten Einbauküche meiner Großeltern. Man kann sich fast vorstellen, wie freudig dieses Möbelstück einst empfangen wurde, als es zum ersten Mal so dastand, noch fabrikneu, und noch nach Holz und PVC riechen durfte.
Und dann kam der Pfefferminztee. Er kam in kleinen rechteckigen Schachteln zu 50 Pfennig aus dem Gemischtwarenladen der Gebrüder Albrecht in das kleine Haus und durch Großmutterhand in den großen Schrank. Wohl vom ersten Tag an steht die Schachtel, die zwar einige gestalterische Wandel erlebte, aber doch immer das Gleiche barg, an derselben Stelle und dampft unbarmherzig Pfefferminzöl ab. Und wie von einem gewissenhaften Rasensprenger verteilt, legt sich der Duft auf alles, was die Schachtel umgibt. Er legt sich auf die Brötchen und den Kakao. Er legt sich auf das Knäckebrot und den Hagebuttentee. Er legt sich auf die bunte Auswahl an Tabletten, die mein Großvater Wolfgang bei jedem Frühstück und Abendessen als Aperitif einnimmt. Und er legt sich auf die Butter. Umschlingt sie, umklammert sie, drückt ihr feuchtminzige Küsse auf, nimmt ihr jede Unschuld. Aus einer Kochsendung habe ich gelernt, Butter sei der allerbeste Geschmacksträger, aber das wusste ich längst intuitiv, hatte längst schmerzhaft gespürt, was dieser Fakt im negativen Sinne bedeuten konnte. Die Butter trägt die Minze, und ich ertrage das kaum.
Doch anders als ich, der nur etwa dreimal im Jahr in den zweifelhaften Genuss der vielgesichtigen Minze kommt, musste meine Mutter fast ihr halbes Leben unter einer Minzglocke verbringen. Immer hatte sie sich geekelt. Nur einmal etwas gesagt. Da gab es einen großen Eklat, und die Minze blieb.
Ich weiß, dass man sich nicht am Leid anderer Leute erfreuen soll, doch manchmal bin ich wirklich froh, dass meine Mutter in dieser grünen Hölle aufwuchs. So wusste ich, dass ich in diesen Dingen immer auf sie zählen konnte. Die Helge-Schneider-Zeile »Hast du eine Mutter, hast du immer Butter« ist für mich mehr als Klamauk, sie enthält eine tiefe Wahrheit, ist Ausdruck eines unausgesprochenen und doch ewigen Pakts.
Bei meinem Vater hatte das Aufwachsen mit der Terrormargarine den gegenteiligen Effekt. Er ist völlig abgestumpft, und kein leberwurstverschmierter Abgrund hat ihm je wieder mehr als ein Schulterzucken abgerungen. Meine Großeltern haben durch ihre schaurige Abendbrotroutine aus meinem sonst so feinfühligen und sanftmütigen Vater einen kulinarischen Psychopathen gemacht. Von ihm war also keine Hilfe zu erwarten, meine Schwester war noch zu klein, um zu kämpfen. Meine Mutter und ich waren allein.
Als der Tisch an besagtem Abend vollständig gedeckt war, bestand kein Zweifel mehr. Die gute Butter hatte durch mein eigenes Zutun bereits am Vorabend das Vorzelt verlassen, wahrscheinlich für immer, und wir saßen hier fest mit dem fett gewordenen Monster, das mir meine Großmutter jetzt zu allem Überfluss auch noch auffordernd hinhielt.
»Ich hätte lieber Butter«, sagte ich und weiß bis heute nicht, wo ich den Mut hernahm.
»Wie bitte?«, sagte meine Großmutter, und das Blut wich schon aus ihren schmalen Lippen.
»Ich hätte lieber …«, setzte ich schon etwas eingeschüchterter an.
»Also!«, sagte meine Großmutter laut. Der Ausdruck ultimativer Empörung, mehr ein Bellen als ein Wort. Das war meine letzte Chance, mein Verhalten zu überdenken, zu Kreuze zu kriechen und mich ihrem stählernen Willen zu beugen. Meine Mutter jedoch dachte gar nicht daran, das so hinzunehmen. Zum einen aus Mitgefühl mir gegenüber, zum anderen aus Sturheit und Trotz und nicht zuletzt wegen ihres eigenen pfefferminzgetränkten Traumas war sie schon vom Tisch aufgestanden und kramte ihr Portemonnaie aus der sandigen Strandtasche.
»Was denkst du, was du da tust?« Meine Großmutter hatte keinen Tropfen Blut mehr in beiden Lippen.
»Ich kaufe schnell Butter, ist ja kein Problem.«
»Also!« Letzte Warnung, allerletzte Warnung.
»Braucht sonst noch jemand irgendwas?«
Explosion.
»Wir haben ja wohl alles da, was wir brauchen. Und der Junge isst jetzt gefälligst die Margarine. Das wäre ja noch schöner. Weißt du eigentlich, wie teuer die Butter hier ist? Es ist doch nicht zu glauben. Du setzt dich sofort wieder hin!«
Ich erinnere mich nicht, was meine Mutter darauf entgegnete, aber sie hatte nicht vor, meine Großmutter zu besänftigen. Die beiden schrien sich an, meine Schwester begann zu weinen, mein Großvater aß unbeirrt weiter, und mein Vater versuchte etwas hilflos, Techniken aus dem Streitschlichtungsseminar anzuwenden, das er am Wochenende zuvor besucht hatte. Ohne Erfolg. Er konnte beide Seiten »auf ihre Art und Weise« verstehen, und das machte beide Seiten »auf ihre Art und Weise« nur noch wahnsinniger.
Und plötzlich hatte ich ein Messer in der Hand. Kein Butter- oder, passender, Margarinemesser, sondern ein spitzes, scharfes Messer mit geriffelter Klinge und schwarz-weiß marmoriertem Horngriff. Ich schrie. Keine Worte, ich hatte keine Botschaft, ich hatte nur Wut und Verzweiflung. Und ich hatte dieses Messer. Eine halbe Sekunde lang erstarrten alle Anwesenden, meine Schwester und ich schrien wie am Spieß, dann hatte mich mein Vater plötzlich mit einem sicheren Griff entwaffnet und legte mir eine warme Hand auf den Rücken. »Es ist okay«, sagte er.
»So was Unkontrolliertes«, sagte mein Großvater.
»Das mit dem Jungen wird noch mal ein schlimmes Ende nehmen«, sagte meine Großmutter, und langsam wurden ihre Lippen wieder rot. Wir reisten ohne Abendessen ab.
Wir sprachen nie wieder über diesen Zwischenfall, doch wann immer meine Großmutter später auf ihre abschließende unheilvolle Sentenz angesprochen wurde, sagte sie mit bebender Stimme: »Und da stehe ich auch zu.«
Auch viele Jahre nach dem Margarinenfiasko regt sich meine Mutter beinahe täglich über meine Großmutter auf. Wenn es gerade keinen aktuellen Anlass gibt, dann achtet sie darauf, ihr Handeln bei jeder sich bietenden Gelegenheit klar von dem meiner Großmutter abzugrenzen. Analog zu dem von christlichen Fundamentalisten propagierten »What would Jesus do?« ist »Ich bin ja nicht Oma Lore« wahrscheinlich ihr wichtigster Leitsatz. Oft setzt dann bei mir ein Automatismus ein, und ich verteidige meine Großmutter gegen die verbalen Tiefschläge meiner Mutter, während mein Vater und meine Schwester nur stoisch schweigen. Im Nachhinein tut mir das leid. Es ist doch so, dass Großeltern oft den Ruf genießen, ihren Enkeln Dinge zu gestatten, die sie bei ihren Kindern nie hätten durchgehen lassen, und ich glaube, das funktioniert andersherum genauso. Ich springe für meine Großmutter nach beinahe jedem Eklat in die Bresche, während in meiner Hochpubertät meist nur ein einziger dahergesagter Satz meiner Mutter reichte, um in mir genug Zorn für eine ganze Woche zügellosen Streits zu entfachen.
Vielleicht ist auch das einer der Gründe, warum meine Mutter in so quälender Regelmäßigkeit gegen meine Oma wettert. Wie die einzig Sehende unter lauter Blinden hatte sie schon am ersten Tag, als sie diese Familie kennenlernte, die fortan auch die ihre werden sollte, eine entscheidende Erkenntnis gehabt. Sie bemerkte gleich, wie hörig vor allem mein Vater, und später auch ich, dieser einarmigen Matriarchin waren. Wir zogen sie zwar auch auf, zum Beispiel mit der Fetischisierung ihrer Sparsamkeit oder ihren slapstickhaften Schlagabtauschen mit meinem Großvater, aber in Wahrheit hatte sie uns alle im Griff, und selbst mein beizeiten doch sehr cholerischer Onkel Andreas, der sich oberflächlich gesehen noch am meisten gegen sie auflehnt, vollführt bei genauerem Hinsehen nur einen Schaukampf mit meiner Großmutter. Denn auch wenn bei jedem Besuch zwischen ihnen die Fetzen fliegen und mein Onkel sich wohl auch nicht selten am Ende eines solchen Disputs als Sieger fühlt, dominiert Oma Lore auch ihn in der ewigen Streitrangliste unserer Familie mit Leichtigkeit, so wie jeden anderen von uns. Die Statistik lügt nicht.
Wenn meine Großmutter nun also als Feldherrin unsere ganze Familie unter ihrer Kontrolle hat, dann ist meine heißblütige Mutter ebendieses eine unbeugsame gallische Dorf. Nur dass sie leider kein Wildschwein und sowieso überhaupt gar kein Fleisch isst, was der episch langen Liste an Streitpunkten einen weiteren ewigen Klassiker hinzufügt.
Anstatt sie in ihrem Widerstand zu unterstützen, trat ich schon im frühesten Kindesalter der römischen Legion bei. Auch ich litt unter der schroffen und oft lähmend dogmatischen Art meiner Großeltern, die in all ihrem Tun stets einem eigenen heiligen Gesetzbuch zu folgen schienen. Tausende und Abertausende eng beschriebene Seiten auf hauchdünnem Bibelpapier, in Oma- und Opa-Hirn fest abgespeichert. Und jede davon immer mit der fetten Überschrift »Das macht man aber nicht«.
Das Problem war nur, dass ich nicht merkte, wie sehr ich litt. Und meine arme Mutter, der es auffiel, die mich davor beschützen wollte, verwickelte ich jedes Mal in einen völlig irren Streit.
Weil meine Großmutter eine praktische Frau ist, neigt sie auch dazu, unnötige Wörter ganz einfach wegzurationalisieren. Bei jedem Frühstück, das einer Reise vorausgeht, sagt sie deshalb streng: »Jetzt mach dir doch noch ein Butter für den Weg.« Und es ist jedes Mal schwer für mich, sie abzuwiegeln. Das mit dem 7-Euro-Saft kann ich ihr deswegen auch wirklich nicht zumuten. Beziehungsweise mir.
Manchmal mache ich mir dann also unter ihren wachsamen Augen doch noch ein »Butter«, werfe es dann aber im letzten Moment meinem immer hungrigen Großvater zum Fraß vor, der das stets mit einem zufriedenen »Gäben se, ich bin Flichtling« quittiert.
Eine alte Frau im Bus hatte das gesagt, kurze Zeit nachdem mein Großvater mit seiner Familie am Ende ihrer Flucht im Dorf meiner Großmutter angekommen war, die natürlich damals noch keine Großmutter war, nicht mal eine Mutter, sondern einfach nur ein Kind. Sie war das mittlere von drei Geschwistern, eingerahmt von ihren Brüdern Harald und Klaus-Peter, bei denen es mir wirklich ausgesprochen schwerfällt, sie mir ohne Glatze (Harald) oder Schnurrbart (Klaus-Peter) vorzustellen. Aber auch sie waren noch Kinder gewesen, als Ludwig mit seinen sechs Geschwistern, »dem alten Zickelschuster« und seiner Mutter in den Verschlag hinter ihrem Elternhaus gezogen waren. Schlimme Winter hatten sie da durchlebt, in den verkalkten, schlecht isolierten Wänden, aber die Sommer, die waren schön gewesen. In der Nacht hatten sie dann durch die Löcher im Dach die Sterne zählen können.
Meine Großeltern haben erst viel später angefangen, sich zu treffen, als Ludwigs Familie längst in eine etwas besser isolierte Behausung gezogen war.
Jede dieser ersten Verabredungen musste geheim gehalten werden, was vor allem an Ludwigs Eltern lag. Er kam aus einer streng katholischen Familie, die der Familie meiner Großmutter für ihre Gastfreundschaft durchaus dankbar war, ansonsten aber wurde Protestanten prinzipiell misstraut, da konnte man nicht einmal in diesem sehr besonderen Fall eine Ausnahme machen. Nur Ludwig machte eben doch eine. Obwohl er stolzer Messdiener war und leidenschaftlich im Kirchenchor sang, verliebte er sich versehentlich ausgerechnet in seine natürliche religiöse Nemesis. Wenn Gott wirklich Liebe ist, hätte er diese Verbindung natürlich mehr als gutgeheißen, aber für so eine sprachliche Spitzfindigkeit hätte »der Zickelschuster« wahrscheinlich umso erbarmungsloser mit dem Spannriemen zugeschlagen. Mein Opa sagt dazu »mit dem Sponnriemen geschnickt«. »Schnicke« als schlesisches Wort für Prügel scheint geradezu dafür gemacht zu sein, die erfahrenen Misshandlungen nachträglich zu verklären. Ein Schnicken kann doch wirklich nicht so schlimm sein. »Oh, was hat er mich da geschnickt«, sagt mein Opa oft, wenn es um irgendeine frühkindliche Verfehlung und die Reaktion seines jähzornigen Vaters geht. Und dann lacht er und wir auch, während sich hinter dem harmlosen, spielerischen Wort Angst, Tränen und blutige Striemen verstecken.
Wir nähern uns dem Strand, ich kann das Meer noch nicht sehen, aber ich spüre schon seinen Sog. Immer wenn ich meinen Schritt aber etwas beschleunigen will, hält mich meine eingehakte Großmutter zurück. Sie kann oder will nicht mehr so schnell. Ich hoffe intern inständig auf Zweiteres. Wir biegen auf Höhe der Sylter Welle links ab und steuern eine der Bettenburgen an, die den gleichen Namen trägt. Die Sylter Welle ist ein Schwimmbad, inklusive Wellenbad. Direkt am Strand. Die Menschheit ist wirklich genial.
»Morgen fahren wir aber schon noch zur Kupferkanne, das hast du ja wohl noch auf dem Zettel.« Bei jedem Telefonat, das meinem Besuch voranging, ließ sie mich das versprechen, und auch jetzt duldet ihr drohender Finger keine Widerrede. Dabei muss sie, was die geplanten Aktivitäten angeht, eigentlich keinen besonderen Druck auf mich ausüben. Ich freue mich auf den Ausflug mit ihr und ohnehin über jeden Anlass, Apfel- oder Streusel- oder Apfelstreuselkuchen zu essen.
Laut Google essen Menschen in Deutschland durchschnittlich fünf Kilo süßes Gebäck im Jahr. Und auch wenn ich in meinem Alltag eigentlich nie Kuchen esse und erst recht keine Torte, schaffe ich es allein durch die wenigen Besuche bei meinen Großeltern mit Leichtigkeit über diese lächerlich kleine Grenze. Bei meiner Großmutter gibt es immer die exakt gleichen Kuchen. Neben dem traditionellen Erdbeerboden und der Stachelbeersahnetorte stehen immer noch saftige Buttermilch-Kokos-Schnitten und Zuckerkuchen auf der weiß gestärkten Tischdecke mit den alten und neuen Kaffeeflecken. Außerdem bringt mein Onkel Andreas immer eine sehr gute Donauwelle mit, die allerdings ihre Seele verloren hat, seitdem er sie mit einem Thermomix zubereitet.
Wir sitzen also zusammen und essen, bis uns übel wird und dann noch darüber hinaus, und dann, wenn selbst meine Großmutter genug hat und beginnt, die Reste einzusammeln, schiebe ich mir immer noch ein letztes Gnadenstück zwischen die Zähne, bevor ich auf dem Sofa zusammenbreche.
Zu besonderen Anlässen, und nur, wenn man meine Großmutter ganz lieb darum bittet, gibt es außerdem: Expertentorte. Wenn unsere Familie ein Land wäre, wäre die Expertentorte das Nationalgericht. Diese Köstlichkeit, die sicherlich irgendwann einmal ganz anders hieß, ist ein kompliziertes Bauwerk aus Biskuitrollen und Weincreme und eine wirklich ausgewachsene Perversion. Und sie ist das Einzige, was zumindest kurzzeitig gegen diese ganz besondere Einsamkeit hilft, die man nur empfinden kann, wenn man zwischen all den Menschen sitzt, die man am meisten liebt.
Ludwig würde nicht mit zur Kupferkanne kommen.
»Den brauchste gar nicht erst zu fragen«, faucht meine Großmutter mich an, als wir in den Aufzug des Ferienkomplexes steigen. Ich traue mich um ein Haar sogar zu fragen, warum nicht, dann verlässt mich aber doch der Mut und wir verlassen den Aufzug nach kurzer, zügiger Fahrt in der elften Etage. Der Gang, der uns zum Apartment führt, das meine Großeltern für zwölf Tage gemietet haben, sieht eher aus wie aus einem Verwaltungsgebäude. Der in die Jahre gekommene Teppichboden lädt mich leicht elektrisch auf, während ich mit Turnschuhen über ihn hinwegschlurfe, deren Preis Oma Lore niemals erfahren darf.
Sie würde den Schreck nicht überleben. Und wenn doch, dann ich nicht.
»Da ziehst du dir aber dann was Ordentliches an«, sagt sie, droht erneut mit dem Finger ihrer schlechten Hand, nur etwa hüfthoch und doch erstaunlich einschüchternd. Ich bejahe das also brav, obwohl in meinem kleinen silbernen Rimowa-Koffer lediglich exakt der gleiche Trainingsanzug von Nike liegt, den ich aktuell am Leib trage. Nur in zwei anderen Farben.
Kleidung ist meiner Großmutter sehr wichtig. Ihre eigene, als textile Beute von Flugreisen und Kaffeefahrten mitgebrachte Garderobe besteht zu einem großen Teil aus Seide oder Seidenimitaten mit grauen und violetten Animal-Prints, dazu Fleecejacken und Sommerkleider in der gleichen Farbpalette. Meinem Großvater, der es liebt, wenn sie gepunktete Blusen, Kleider oder Schuhe trägt, tut sie nur sehr selten diesen Gefallen. Als mich aber meine ersten Freundinnen fragten, was sie zum Einstandsbesuch bei meinen Großeltern anziehen sollten, war die Antwort klar. Wer Pünktchen trägt, hat einen Stein im Brett bei Opa Ludwig. Die Begrüßung meines Großvaters, wenn ein weibliches potenzielles Familienmitglied das erste Mal seine heiligen Hallen betritt, folgt stets dem gleichen kuriosen Protokoll, ohne Abweichung, ganz gleich ob ich es bin, der sie vorstellt, mein Cousin Felix oder mein Onkel Andreas, der die Fähigkeit, sich zu verlieben, auch im höheren Alter nicht verlernt hat.
Wir betreten das großelterliche Haus immer über die angelehnte Terrassentür, die ins große Wohnzimmer führt, dort, wo Jacobs erstes Klavier stand und einige Kakteen seit Jahrhunderten vor sich hinsterben. Das große Wohnzimmer ist immer der kälteste Raum im ganzen Haus, und wer bei voller Besetzung aller Zimmer hier schlafen muss, der hat verloren. Selbst im Wohnwagen ist es sogar im Dezember noch angenehmer, was natürlich auch an der größeren Auswahl an Heizdecken liegt, die ebenfalls von diversen Kaffeefahrten stammen und einem von meiner Großmutter in diesem Fall großzügig zur Verfügung gestellt werden. Wer im großen Wohnzimmer schläft, braucht gar nicht erst danach zu fragen, das wird ja schließlich geheizt. Nur dass es eben nicht geheizt wird. Trotz meiner generellen Abneigung gegen diesen Raum beherbergt er, auch nachdem Onkel Jacob sein Klavier aus dem Elternhaus abzog, noch einige Schätze. Ein großformatiges Familienfoto, das uns alle auf dem Gipfel eines kleinen bayerischen Berges zeigt, mit roten Wangen und albernen Hüten, Felix’ erster Freundin Helene und meiner ersten Freundin Alex, mit der ich heute nicht mehr spreche. »Mit zwei Leuten haben wir angefangen«, hat Ludwig auch mit Blick auf dieses Bild oft gesagt. »Und am Ende bleibt keiner mehr übrig«, antwortete Jacob dann manchmal, verschmitzt und lakonisch zugleich. Er war gut darin, solche Sachen zu sagen, klug, düster und mit einer Spur fast schmerzhafter Selbstironie, aber nie ohne Witz sabotierte er lustvoll und manchmal nur für sich selbst die Verklärungsversuche meines Großvaters. Ebender bewahrt im großen Wohnzimmer außerdem alle drei seiner beachtlichen Sammlungen auf: Münzen, Schnaps und Tagebücher.
Die Tagebücher stehen chronologisch aufgereiht im obersten Regal über die gesamte Länge der erdrückenden Schrankwand. Der Schnaps hat seinen eigenen verspiegelten Schrein, den ich als Kind vor allem deswegen so gerne öffnete, weil ich davon beeindruckt war, dass genau in dem Moment der Öffnung im Inneren ein Licht anging. Der Spaß war mir allerdings vergällt worden, als meine Großmutter mir klarmachte, dass es ja wohl das gleiche Prinzip wie bei jedem handelsüblichen Kühlschrank sei. Den durfte ich dann aber auch nicht auf- und zumachen, wie ich wollte, weshalb ich schließlich versuchte, bei der dritten Leidenschaft meines Großvaters einzusteigen. Als knapp Zehnjähriger begann ich also damit, Münzen zu sammeln.
Das war nach dem Schnarchen das zweite Mal, dass mein Großvater und ich uns etwas näherkamen. Mit einer Engelsgeduld erklärte er mir die Bedeutung der verschiedenen Kürzel, die Zustandsbeschreibung und Prägeanstalten und gab mir einen kurzen geschichtlichen Abriss darüber, zum Gedenken an welches weltpolitische Ereignis bestimmte Münzen geprägt worden waren. Außerdem hielt er mich mit aufgeregter Stimme über die Wertsteigerung besonders seltener Exemplare auf dem Laufenden, bis meine Großmutter ihm mit einem niederschmetternden »Da musst du erst mal einen finden, der dir das dafür gibt« den Euphoriehahn zudrehte. Wenn mein Opa mir von alldem erzählte, lief mir verlässlich irgendwann ein wohliger Schauer über den Nacken. Und auch wenn meine eigene Sammlung bei zehn Münzen ihr abruptes Ende fand, bringe ich es nicht übers Herz, sie einzutauschen. Immer wenn sie mir in meinem alten Kinderzimmer in die Hände fallen, überkommt mich ein unerträglich schlechtes Gewissen meinem Opa gegenüber. Ich hatte versucht, ihm auf seinem eigenen Spielfeld zu begegnen, er hatte mir die Augenhöhe angeboten, und ich hatte diese Chance in pubertärem Leichtsinn einfach verschenkt. Vielleicht würden mein Großvater und ich uns heute näherstehen, wenn ich damals einfach mal die verdammten Prägeanstalten auswendig gelernt hätte, die er selbst im Halbschlaf immer völlig fehlerfrei hatte herunterbeten können.
Es gibt im großen Wohnzimmer dazu noch einen Plattenspieler mit Platten von Engelbert Humperdinck und Ivan Rebroff, einen Schwan aus grünem Glas und ein Siebzigerjahre-Sitzkissen aus rotem Kunstleder mit eingesticktem Stern, das mich immer ganz sehnsuchtsvoll werden lässt, ohne dass ich genau sagen könnte, warum.
Der letzte dieser Wohnzimmer-Schätze ist ein gigantisches Straußenei, das mein Vater seinen Eltern zur goldenen Hochzeit geschenkt hat. In Aquarellfarben sind sie darauf abgebildet, Arm in Arm, so vertraut, wie ich sie in all den Jahren nur selten gesehen habe. Darunter steht auf einem wehenden Banner in der grotesk schönen Handschrift meines Vaters: »Camper für immer«.
Wenn man also mit seiner neuen Freundin diese eisige Schatzkammer passiert hat, kommt man in den Flur und von da aus ins Arbeitszimmer meines Großvaters, obwohl mir lange nicht wirklich klar war, was er da überhaupt arbeiten sollte.
Später fand ich heraus, dass seine Hauptarbeit daraus bestand, die unzähligen Notizen zum Tagesablauf zu ordnen, die er etwa nach jeder Mahlzeit und ohnehin in jeder freien Sekunde auf kleine quadratische Zettel kritzelte, um sie anschließend in seiner Hemdtasche zu verstauen. Er wandelte die Stichpunkte auf einem größeren Blatt in einen Fließtext um, nur um diesen dann im finalen Schritt in Schönschrift in sein aktuelles Tagebuch zu übertragen. Der ganze Prozess nahm an manchen Tagen so viel Zeit in Anspruch, dass mein Onkel Andreas einmal im Spaß anmerkte, er hielte es für möglich, dass in den mittlerweile weit über 60 Bänden in Wahrheit nur verschiedene Iterationen des immer gleichen Satzes stünden, der in etwa lauten müsste: »Habe heute Tagebuch geschrieben.«
Das Arbeits- oder besser Tagebuchzimmer ist außerdem auch der drittkälteste Raum im Haus, weswegen meine Großmutter ihn als erweiterten Kühlschrank nutzt, vor allem, wenn viel Besuch da ist und sie uns alle über Tage verköstigen muss. Oft stehe ich dann spät in der Nacht oder früh am Morgen allein in diesem winzigen Raum, die Wände über und über mit Urkunden, Auszeichnungen und gerahmten Dankesbriefen bedeckt, und drücke verstohlen Zuckerkuchen oder kalte Hähnchenschenkel in mich hinein.
Wenn nun also mit einer der Familie noch neuen Frau dieses Zimmer betreten wird, das übrigens keine eigene Tür besitzt und eigentlich nur der Vorraum zum Schlafgemach meiner Großeltern ist (der zweitkälteste Raum im Haus), bemerkt mein Großvater uns meistens nicht, erst ein freudiges »Oppa!« reißt ihn dann schließlich aus seiner eifrigen Chronistenpflicht und setzt das folgende Schauspiel in Gang, vor dem ich jede meiner Freundinnen natürlich vorher warne, was aber keine von ihnen je wirklich ernst nahm. Mit weit aufgerissenen Augen fährt mein Großvater auf dem Stuhl herum, erblickt den weiblichen Neuankömmling und springt im selben Moment auf. Er packt die Frau, ohne ein Wort zu sagen, am Arm und zieht sie nicht gerade zimperlich zurück in den Flur, wo er sie unter der großen Deckenlampe platziert. So steht dann der winzige Mann vor der meist deutlich größeren Frau, je ein schlanker Arm mit einer riesigen Pranke umklammert, und mustert sie im gnadenlosen Flurlicht von oben bis unten und von allen Seiten. Um zu signalisieren, dass die eingehende Kontrolle abgeschlossen ist, klatscht er ohrenbetäubend laut in die Hände und ruft: »Mägdelein!« Erst dann begrüßt er uns Drumherumstehende, und danach kommt er überhaupt erst auf den Gedanken, nach einem Namen zu fragen, den er dann auf dem Weg zurück zu seinem Schreibtisch gedankenverloren vor sich hinmurmelt. Dann setzt er sich neben die zu diesem Zeitpunkt noch jungfräuliche Stachelbeersahnetorte und geht weiter seiner Arbeit nach. Diese Prozedur wiederholt sich ausnahmslos bei jeder Frau, die kurz- oder langfristig zu unserer Familie dazustößt, mit der einzigen Abweichung, dass nach dem obligatorischen »Mägdelein« etwaige gepunktete Kleidungsstücke mit einem ehrlich ergriffenen »Das hast du doch nur für mich angezogen« geadelt werden.
Obwohl sie mit alldem nun wirklich am allerwenigsten zu tun hat, entschuldigt sich meine Mutter meist schon im Vorfeld für meinen Großvater, und auch danach schenkt sie der entsprechenden Frau oft noch genau die herzliche Umarmung, die im streng choreografierten Ablauf meines Großvaters schmerzlich fehlt.
Mich dagegen begrüßt er deutlich herzlicher, vor allem wenn ich wie jetzt allein reise und er nicht erst anderweitig tätig werden muss. Er hat meine Oma und mich wohl an der Tür gehört und steht, als wir die Ferienwohnung betreten, bereits parat. Sie ist schöner, als ich dachte, die Wohnung, schöner als der Betonklotz, in dem sie beherbergt ist, und schöner, als der holprige Lastenaufzug und der mit grün verfilztem Behördenteppich ausgelegte Flur haben vermuten lassen. Und der Meerblick ist wirklich berauschend.
Ich hatte ein wenig Angst, meinen Großvater zu treffen. In unserer Familiengruppe auf WhatsApp hieß es, er hätte im letzten halben Jahr mental wirklich abgebaut, und ich traute mich auch hier nicht, nachzufragen, was das konkret bedeutete. In meiner Wahrnehmung haben sich meine Großeltern in den letzten 30 Jahren überhaupt nicht verändert, weder optisch noch in ihren zahllosen Eigenarten. Ich weiß natürlich, dass diese Wahrnehmung verzerrt ist, aber es ist die einzige, die ich habe, und sie gibt mir Sicherheit. Dass sie nun droht, von der Wirklichkeit zerstört zu werden, macht mir Angst.
Richtige Panik bekam ich, als Felix mir in einem privaten Chatfenster eine Nachricht schrieb, die ich einige Male lesen musste, um sie auch nur im Ansatz glauben zu können.
»Max. Oppa hat mit den Tagebüchern aufgehört.«
Als ich auch nach zehn Minuten noch nicht darauf reagierte, schickte Felix eine ausführliche Sprachnachricht hinterher, in der er mir den Sachverhalt erläuterte. Er sei gerade übers Wochenende bei Lore und Ludwig zu Besuch und erst vor wenigen Stunden angereist. Als er Ludwig in seinem Arbeitszimmer überraschen wollte, schien der gerade so vertieft, dass Felix abwartend im Türrahmen stehen geblieben war, um ihn nicht zu erschrecken. Als er also dem sich ungestört wähnenden Ludwig über die Schulter sah, erkannte er, dass dieser keineswegs schrieb. Er hatte sich im Gegenteil darangemacht, scheinbar alle noch unausgefüllten Seiten des Jahres fein säuberlich mit einem roten Stift durchzustreichen. Am 31.12. angekommen, holte er zu einer letzten Notiz aus und unterstrich sie dreimal. Dann bemerkte er Felix im Zimmer und begrüßte ihn gewohnt überschwänglich, bevor dieser den letzten Vermerk hatte lesen können.
Erst als Ludwig später Mittagsschlaf machte, beging Felix beschämt ein absolutes Sakrileg und öffnete das Tagebuch, das noch immer auf Ludwigs Schreibtisch lag. Auf der letzten Seite dieses Jahres stand in Opa Ludwigs unverkennbarer Schönschrift:
»Es reicht jetzt. Ich habe keine Lust mehr.«
Unterstrichen hatte er nur den zweiten Teil.
Diese Nachricht kam für mich in etwa der einer geplatzten Fruchtblase gleich.
Nur eben umgekehrt.
Ich freue mich also umso mehr, zu sehen, dass es ihm hier in der Sylter Welle augenscheinlich gut geht. Seine Wangen sehen rosig aus, das macht wahrscheinlich die jodhaltige Luft, und als er auf mich zukommt, geht er trotz der ramponierten Hüfte einigermaßen aufrecht.
Er klatscht laut in die Hände, denn das tut er nicht nur für Frauen, dann packt er mich mit seiner Eisbärenpranke im Nacken und zieht mich ergriffen zu sich hinunter.
»Ambrosius«, sagt er. »Schön, dass du da bist.«
»Mensch«, stöhnt meine Großmutter. »Er hatte doch gesagt, dass er kommt.«
Er prüft den Stoff meines Jogginganzugs zwischen zwei Fingern und stöhnt anerkennend. »Mensch, Lerge, der ist ja richtig stabil, damit kannst du ja Expeditionen machen, über die Alpen kannst du damit machen. Hier, Lore! So einen brauch ich auch!«
»Bloß nicht! Du hast wohl zu heiß gebadet. So ein dummes Zeug.«
Er sieht mich verschwörerisch an, und ich überlege schon, wie ich ihm einen besorgen kann, ohne dass meine Großmutter ihn gleich wieder aussortiert und auf den großen Berg ausrangierter Klamotten im Keller wirft, der mich als Kind immer so faszinierte.
Gleich neben diesem Kleiderberg nämlich, im Kartoffelkeller meiner Großeltern, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Leiche. Ich war vier, vielleicht fünf Jahre alt und hatte schon meine Hand nach der toten Spitzmaus ausgestreckt, als Oma Lore mir mahnend auf die Finger schlug. Ich weiß bis heute nicht, wie sich ihr Fell angefühlt haben mag, genauso wenig wie ihr kalter grauer Schwanz, der langsam seinen leichten Rotstich verlor. Am meisten aber faszinierten mich die Schneidezähne, die vorne aus der spitzen Schnauze hervorschauten. Sie hatten eine so ungesunde braunorange Farbe, dass man vom Hinsehen fast schon Zahnweh bekam, aber ich konnte meinen Blick nicht von ihnen losreißen. Auch dann nicht, als meine Großmutter die Schaufel, mit der sie die Maus erst erschlagen und dann vom Kellerboden gekratzt hatte, mit der Miene einer triumphalen Kriegerin zum Komposthaufen trug und deren Inhalt mit einer für meinen Geschmack etwas zu geübten Bewegung auf das frisch gemähte Gras vom Vortag fallen ließ. Obwohl damals schon kein Zweifel daran bestand, mit welcher Härte meine Oma imstande war, zuzuschlagen, vor allem dann, wenn es um die Verteidigung der heimischen Vorräte ging, fand ich an der ganzen Maus keinen einzigen Tropfen Blut. Auch nicht, als ich später heimlich noch einmal zum Komposthaufen geschlichen war, um die Maus vielleicht doch noch zu berühren, was ich mich in letzter Konsequenz dann aber nicht traute. Keine der vielen toten Mäuse, die ich in den Jahren auf diesem Komposthaufen zwischen Eier-, Apfel- und ironischerweise auch Kartoffelschalen gesehen habe, ist mir so im Gedächtnis geblieben wie diese. Platt von Großmutters Schippe, blutlos, mit erstaunlich schlecht gepflegten Schneidezähnen.
Für ihre Kartoffeln ist meine Oma bereit zu morden. Obwohl meine Mutter das eigentlich hatte wissen müssen, legte sie sich in ihrer wohl todesmutigsten Fehde ausgerechnet mit diesen Kronjuwelen meiner Großmutter an.
Aber eigentlich muss ich anders beginnen. Um den ewigen Kleinkrieg zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter zu erklären, muss ich bei meiner Geburt beginnen. Mein erster Tag auf dieser Welt wäre nämlich beinahe ihr letzter gewesen, also der meiner Mutter. Ich hatte mich bitten lassen, die Wehen dauerten dementsprechend eine quälende Ewigkeit lang, und als ich mich dann endlich bequemte, diesen Erdball doch noch zu betreten, stand das anwesende Personal entnervt kurz vor dem Schichtwechsel. Eine Hebamme riss beim Warten auf die Plazenta so ungeduldig an der Nabelschnur, dass die Gebärmutter einriss und meine Mutter beinah an Ort und Stelle verblutet wäre, noch bevor wir uns richtig begrüßen konnten.
Ich war gesund und am Leben, meine Mutter schaffte es währenddessen mit ein paar Blutkonserven, dem Tod gerade noch so eben von der Schippe zu springen. In den Wochen danach fiel sie völlig geschwächt in eine Wochenbettdepression, die sich dadurch noch zuspitzte, dass kaum einer der Freunde oder Familienmitglieder sich aufrichtig nach ihrem Befinden erkundigte. Ich war die größere Sensation, sie hatte in erster Linie gefälligst glücklich zu sein. Gekrönt wurde das Spektakel von den Kontrollanrufen meiner Großmutter, und das auch noch mehrmals täglich. Ob ich denn endlich durchschlafe, wollte sie wissen. Ob ich jetzt gerade wach sei, ob ich trank, wie viel ich trank und wann ich trank. Die einzige Nachfrage meine Mutter betreffend war, ob sie denn auch genug Milch gebe.
Mein stoischer Vater zuckte nach jedem dieser Anrufe nur leicht gequält mit den Schultern, meine arme Mutter aber fing bald schon an zu weinen, wenn nur das Telefon klingelte.
Es wurde ein Familienrat einberufen, der aus meiner müden bleichen Mutter, meinem kurzzeitig nicht mehr ganz so entspannten Vater und meiner stolzen Großmutter bestand, die natürlich während des ganzen Gesprächs unbeirrt Kartoffeln schälte. Mein Großvater fühlte sich nicht dazu berufen, an dieser Runde teilzunehmen, war gerade im Heimat- oder Gesangverein oder fuhr sich im Garten mit dem Rasenmäher über den Fuß, was er Erzählungen nach in mindestens ähnlicher Regelmäßigkeit tat. Meine Mutter, der es weniger an Mut als schlicht an Kraft fehlte, hatte alle irgendwie verfügbare Energie für dieses Gespräch mobilisiert und meiner Großmutter ehrlich ihre Meinung gesagt. Sie erklärte ruhig, dass sie sich verletzt fühlte, übersehen, zur Gebär- und Säugungsmaschine degradiert, ohne Anspruch auf ein eigenes, vom Kind unabhängiges Gefühls- und Seelenleben. Als sie fertig war, klingelte es, und meine Großmutter strich sich Wasser und Stärke an ihrem Kittel ab, stand auf, ohne ein Wort zu sagen, und öffnete meiner Urgroßmutter Gretchen, ihrer Mutter, die Tür. Diese brachte einen alten Mayonnaiseeimer voller Milchreis für das Mittagessen vorbei. Lore nahm den Eimer in Empfang, schleppte ihn mit ihrem guten Arm zum Küchentisch und stellte ihn mit einer solchen Wucht ab, dass meinem Vater ein einzelnes milchiges Reiskorn auf die Brille spritzte. Dann sah sie meine Mutter an, das erste Mal an diesem Tag übrigens, und sagte: »Ich wusste ja gar nicht, dass du so empfindlich bist.«
Nie wieder wurde über dieses Thema gesprochen.
Der Konflikt aber setzte sich in den nächsten Jahren größtenteils nonverbal fort. Meine Großmutter brachte bei jedem Besuch Ausrangiertes aus der Dorfgemeinschaft mit, nichts davon konnten meine Eltern wirklich gebrauchen. Mit ihrem zu diesem Zeitpunkt roten Opel kutschierte sie fröhlich Staubsauger, Raclettesets und grotesk hässliche Sommerkleider in unsere winzige Stadtwohnung, als würde sie sich nebenbei vom Bürgermeister als Sperrmüllentsorgerin bezahlen lassen. Hätte meine Mutter nicht schon im Moment, da meine Oma wieder in ihr Auto gestiegen war, die gesammelten Schrecklichkeiten beherzt in die Mietshauscontainer geworfen, die Wohnung wäre schon nach einem Monat zu klein gewesen.
In diesem Machtspiel konnten also beide Strateginnen auf ihre eigene Art gewinnen (oder verlieren, je nachdem, wie man es betrachtet). Bewusst oder unbewusst holte meine Großmutter aber bald zu einem besonders perfiden Schachzug aus. Statt weiter nur ausrangierte Schlagerplatten und das vierte, fünfte und sechste Bügeleisen hatte ihr unheilvolles rotes Frachtschiff nun immer auch mindestens fünf Kilo Kartoffeln geladen.
Die natürlich konnte meine ökobewusste Mutter nicht einfach so der Tonne übergeben wie ein vergilbtes Schachbrett, dem alle Springer fehlten. Essen aber, zumindest mit Genuss, konnte sie sie auch nicht, da die Kartoffeln meiner Großeltern seit jeher in manchen Jahren voll mit unappetitlich schwarzen und braunen Geschwüren waren, vor allem im Inneren. Immer wenn man nicht damit rechnete und gerade hungrig einen großen Bissen nehmen wollte, hatte man ein solches Karzinom im Mund.
Indem sie meine Eltern zwang, Woche um Woche ihre teils ungenießbaren Erdäpfel irgendwie in etwas Essbares zu verwandeln, übte Oma Lore die absolute Dominanz aus.
Bis meine Mutter bei einem gemeinsamen Essen der Kragen platzte und sie vor versammelter Mannschaft verkündete, nie wieder auch nur ein einziges dieser verwucherten Dinger essen zu wollen. Dann war Kartoffelstopp. Und Funkstille.
Zum Glück hatte meine Großmutter am Esstisch ihre Plattschüppe nicht griffbereit gehabt. Sonst »würden wir jetzt vielleicht alle nicht hier sitzen«, wie mein Opa sagen würde.
Aber jetzt sitzen wir hier, auf Sylt, die Balkontür leicht angelehnt, sodass wir vom Sofa aus die Wellen hören können. Und wir unterhalten uns. Mein Opa nennt das »Gedanken austauschen«. Ein Großteil dieser Gedanken besteht für ihn in diesen Momenten immer aus den genausten Details meiner Reise. Er will wissen, wo in Berlin ich gestartet, wo ich in den Fernzug gestiegen bin, alle Zwischenstationen und -halte werden abgefragt und aus dem Gedächtnis geografisch eingeordnet. Wenn das nicht reicht, wird der unvermeidbare ADAC -Atlas hervorgezaubert, und mein Großvater zeichnet die Strecke mit zwei Fingern seiner Bärenpranke nach, nicht ohne nebenbei auch noch umliegende Orte, Seen und Flüsse zu benennen, von denen ich noch nie in meinem Leben gehört habe. »Aha«, sagt er, wenn ich mich doch wieder schemenhaft an den Namen eines Kaffs erinnere, in dem der Zug außerplanmäßig haltgemacht hat, »dann seid ihr also von da dann hier rübergemacht, und dann, psssst«, er stößt einen hellen Luftstoß aus und pikst mich dabei mit einem Finger, der sich zwischen meinen Rippen wie ein Schraubendreher anfühlt, »dann hast du hier zu uns gemacht.« »Habe ich«, sage ich und drücke den riesigen Kopf meines winzigen Großvaters an meine Brust, was er zum Anlass für einen liebevollen Leberhaken nimmt. »Fein«, sagt er, »fein.«
Mein Cousin Felix hatte die Tradition des In-die-Rippen-Piksens ins neue Jahrtausend geholt. Vor allem seinen jüngeren Geschwistern rückte er gerne mit seiner »Fingerpistole« auf den Leib, auch mich riss er damit oft ein wenig ungemütlich aus meinen Tagträumen.
Das alles ging so lange gut, bis Felix eines Tages mit solchen Schmerzen in seinem rechten Zeigefinger aufwachte, dass sogar er, der sich sonst in medizinischen Fragen selbst für die höchste Instanz hielt, zum Arzt ging. Nach eingehender Untersuchung und Röntgenaufnahmen stellte dieser fest, dass sich um das mittlere Fingergelenk eine harte Kapsel gebildet hatte, die bei jedem Anwinkeln des Fingers eben entsprechend wehtat. Der Arzt sagte, so etwas würde üblicherweise nur auftreten, wenn ein Gelenk in hoher Regelmäßigkeit kleinere Stauchungen erfuhr, und ob Felix sich das irgendwie erklären könne. Ob er seinen Zeigefinger für irgendetwas Besonderes einsetzte, ihn in irgendeiner Weise speziell beanspruchen würde. Er könne sich das überhaupt nicht erklären, sagte Felix und holte die Fingerpistole fortan nur noch zu ganz besonderen Anlässen aus der Schatulle.
Die zärtliche Gewalt zwischen Opa Ludwig und mir läutet laut Protokoll offiziell den nächsten Teil des Gedankenaustauschs ein, der für gewöhnlich aus der Abfrage meiner beruflichen und vor allem finanziellen Situation besteht. Was diese Nachfragen angeht, habe ich meiner Erfahrung nach nur zwei Optionen: Ich kann wie ein absoluter Verlierer wirken, am Leben grandios gescheitert, ohne Ausbildung, Geld oder Perspektive. Oder ich bin ein Angeber aus der Großstadt. Beides empfinde ich eher als nur so mittel verlockend.
Es fällt mir auch nach Jahren noch schwer, meinen Job großelterngerecht zu erklären, aber wie unseriös muss einem Mitte Achtzigjährigen technischen Zeichner ein Beruf vorkommen, für den es nicht einmal einen wirklichen deutschen Begriff gibt. »Das ist so ähnlich wie …«, sage ich, und allein das sagt für meine Großmutter schon alles.
Mehr als »so was Ähnliches wie ein Beruf« kann diese Arbeit, die zu großen Teilen aus Telefonieren besteht, nun auch wirklich nicht sein. Und das ist schon großzügig. Bei meinem letzten Besuch auf dem Wenningstedter Campingplatz hatte Oma Lore mir nach drei Tagen verboten, mein Handy zu laden, weswegen ich mich nachts wie ein Dieb aus dem Vorzelt schlich, um im Waschraum etwas kostbaren Strom zu ergattern. Wenn sie mich dabei erwischt hätte, hätte sie mich wohl, ohne zu zögern, bei der Campingplatzleitung angezeigt. Nicht, dass das nächtliche Energieschmarotzen illegal gewesen wäre, nein, ich selbst war es.
Bei keinem meiner unzähligen Besuche nämlich wurde ich offiziell angemeldet, als Besucher registriert und mein Aufenthalt entsprechend bezahlt. Ich flog immer unter dem Radar. Und jedes Mal eröffnete sie mir ihren Plan zur Unterwanderung der Zeltplatzsatzung erst im letzten Moment und mit einer Beiläufigkeit, als wäre diese Praxis tatsächlich die Ausnahme, als die sie sie vor mir maskierte, während ich mir gerade den restlichen Zucker aus der Packung saurer Apfelringe in den Schlund regnen ließ.
»Wir melden dich dieses Mal nicht an, für die eine Woche lohnt sich das auch gar nicht.«
Als ich noch jünger war, gefiel mir dieses Versteckspiel, doch bald bekam ich Gewissensbisse. Je älter ich wurde, desto schwerer fiel es mir, aus der Reihe zu tanzen oder in irgendeiner Art und Weise für Probleme zu sorgen oder, noch schlimmer, selbst eines zu sein. Wenn wir an den Wochenenden als Freundesgruppe nach Hamburg fuhren, war ich der Einzige, der ein Ticket löste, während die anderen nach und nach immer nachlässiger wurden, als wir auch nach etwa drei Jahren kein einziges Mal kontrolliert worden waren. Und auch auf Sylt lag ich in manchen Nächten schlaflos im Vorzelt und fragte mich, ob ich mich nicht besser einfach stellen sollte. Mein Cousin Felix teilte diese moralischen Sorgen nicht. »Mein Gott«, sagte er schon in jungen Jahren und imitierte dabei sehr gekonnt den Ton meiner Großmutter, »jetzt lass doch das elende Simulieren sein.« Interessant daran ist zum einen der von meiner Oma grandios eingesetzte Begriff des »Simulierens«, denn was war dieses ewige Grübeln anderes als die Simulation möglicher Schreckensszenarien, 4-D mit schweißnassen Händen inklusive? Zum anderen finde ich es bemerkenswert, dass die Rollenverteilung unserer Väter einige Jahrzehnte zuvor genau die gleiche gewesen war.
Mein Onkel Andreas, der Älteste, sonst und bis heute um keine Diskussion mit meiner Großmutter verlegen, war in dieser Angelegenheit seltsamerweise sofort ihrer Meinung. Mein Vater indes spielte zwar ein paar Jahre lang gern den Geheimagenten, hatte jedoch bald moralische Bedenken, mit denen er aber natürlich völlig allein blieb. Jacob, der Jüngste der drei, wurde von den kriminellen Machenschaften ausgeklammert und stets als Alibikind offiziell angemeldet. Mein Großvater hatte nicht wirklich eine Meinung zu dem Schauspiel, das immer folgendermaßen ablief: Andreas und Martin, mein Vater, wurden etwa 200 Meter vor dem Campingplatz ausgesetzt. Sie zogen sich ihre Badehosen an, legten sich Handtücher über die noch unverbrannten Schultern und schütteten sich aus der Feldflasche meines Großvaters etwas lauwarmes Proviantwasser ins Haar. Dann schlenderten sie die letzten Schritte bis zur Schranke, grüßten die Angestellten wie alte Bekannte und betraten das Urlaubsparadies ganz ohne Eintritt.
»Wir sind Betrüger«, sagte mein Vater.
»Mein Gott«, sagte mein Onkel, und dann aßen sie Gulasch aus dem Glas und brieten in der meistens kroatischen Sonne.
Und wenn es Nacht wurde, schliefen sie tief und fest. Nur mein Vater nicht, zweifelnder Agent Ihrer Majestät, meiner Großmutter. Der lag oft noch lange wach. Und simulierte.
Auch jetzt denke ich wieder daran, während in der Sylter Ferienwohnung mit Meerblick die falschen Kartoffeln langsam gar werden. Auch in der Sylter Welle werde ich mich bedeckt halten müssen. Ich schrubbe mir den Rest der Reise mit einer Gästezahnbürste von der Zunge, übrigens benutze ich dazu exakt die gleiche Zahnpasta wie an dem Tag, an dem ich meine allererste Leiche sah. Das Zahnfleischbluten hat bis heute angehalten und meine Bewunderung für die Fähigkeit meiner Großeltern, jedes Badezimmer der Welt zu ihrem eigenen zu machen, genauso.
Die Duftmischung aus Fa-Seife, Dentagard und Harnstein, das rote Handtuch mit der weißen »Ludwig«-Stickerei, der immer einsatzbereite Lockenstab meiner Großmutter, all das war für mich schon immer ikonisch, und kein Gemeinschaftswaschraum der zahllosen Campingplätze, kein Hotelbadezimmer und nicht einmal die Gästetoilette meiner Eltern in Husum hatte dem je etwas entgegenzusetzen.
Meine Großmutter hatte mir im Vorhinein nicht erlaubt, ein eigenes Zimmer in der Sylter Welle zu mieten, »Das wäre ja noch schöner«, sagte sie, und jetzt denke ich über diesen Satz nach. Wahrscheinlich ist es wirklich schöner, hier auf dem harten Boden zu schlafen, wenn ich dafür meinem Opa beim Schnarchen zuhören darf.
Ich spucke Blut und Schaum ins Waschbecken und betrachte mich selbst im Spiegel.
Ich habe in den letzten Monaten zugenommen, sicher zehn Kilo, und ich bin mir nicht ganz sicher, ob mir das steht.
»Sag doch mal, Lerge. Was hast du auf dem Konto?« Mein Großvater hat anscheinend vor der Badezimmertür gelauert, um den Gedankenaustausch fortzuführen.
»Tausend Euro?«, fragt er mit weit aufgerissenen Augen. »Zweitausend?«
»Jetzt lass den Jungen in Frieden, wir essen jetzt.«
Mein Opa springt auf, salutiert und schreit freudig: »Melde gehorsamst! Dass: Ja!«
Sie hat Würstchen zu den falschen Kartoffeln gekocht.
Der Geruch in der Ferienwohnung hat mich das schon befürchten lassen, ich habe mich aber weder getraut, nachzufragen, noch habe ich es gewagt, einen kritischen Blick in den Kochtopf zu werfen. Würstchen machen mich krank. Ich meine das nicht nur sprichwörtlich. Der Anblick einer Bock-, Wiener oder Heißmacherwurst, oder wie man sie auch immer nennen will, reicht aus, um mich völlig aus der Bahn zu werfen. Selbst dieses Wort nur auszusprechen oder hier aufzuschreiben, sorgt dafür, dass ich mit meinem äußerst schwachen Magen in Kampf treten muss. Und dass er schwach ist, heißt nicht, dass ich eine Chance gegen ihn hätte. Im Schwachsein ist mein Magen der stärkste. Ich habe mich selbst schon in den unangenehmsten Momenten übergeben, in der Bahn, im Supermarkt. Auf der ersten gemeinsamen Reise mit meiner Ex-Freundin in Prag, als unser romantischer Spaziergang von einer mobilen Hotdogbude gestört wurde.
Daneben, auf einer Bank, saß ein kleiner Junge neben seinen Eltern und aß selig einen Hotdog. Sein Gesicht war bis zur Stirn mit Senf und Ketchup verschmiert, an seinem linken Knie klebte in meiner vagen Erinnerung wahrscheinlich sogar eine Gurkenscheibe. Hätte es sich stattdessen bloß um einen Hamburger gehandelt, die Szene hätte mich wahrscheinlich mehr gerührt als geekelt. Doch in seinen klebrigen Jungenhänden mit vor Dreck starrenden Fingernägeln hielt er eine völlig massakrierte Wurst, die wirklich aussah, als hätte er sie mit einem kleinkalibrigen Chinaböller in die Luft gejagt und mit dem Mund wieder aufgefangen. Mir wurde heiß und kalt, als ich sah, dass das, was ich aus der Ferne für Sommersprossen gehalten hatte, in Wahrheit kleine Wurstflocken waren, die sein Gesicht sprenkelten, so als hätte er mitten im Kauen plötzlich unkontrolliert Niesen müssen und den Inhalt seines Mundes in einem feinen Sprühregen überall und auf sich selbst verteilt.
Bevor ich es überhaupt realisierte, hatte ich diesem völlig perversen Arschloch auch schon mitten vor die Füße gekotzt. Wir fuhren nie wieder nach Prag und sprechen heute nur noch selten.
Wann das mit den Würsten anfing, weiß ich nicht mehr, nur, dass es in meiner frühsten Kindheit gewesen sein muss. Ich glaube, es hängt vor allem mit der Form dieses äußerst fragwürdigen Lebensmittels zusammen. Wie man freiwillig etwas in den Mund stecken kann, das offensichtlich optisch so nah an einer Kackwurst ist, wird mir für immer ein Rätsel bleiben. Die Natur meint es nicht gut mit mir, denn mich überfällt leider schon beim bloßen Anblick von Bananen oder Gewürzgurken ein stechender Brechreiz, den ich nur mit Mühe und aus der blanken Angst vor sozialer Ächtung notdürftig unterdrücken kann. Trotzdem habe ich es irgendwie geschafft, im großmütterlichen Bonusmeilenprogramm den goldenen Status eines »Essers« zu erreichen.
»Er ist ein Esser«, sagt sie zufrieden zu sich selbst, wenn ich mir unter ihren immer wachsamen Augen die dritte Portion Gulasch auftue oder spätnachts in der Geschirrschublade nach einer Puddingschüssel krame. Ich kann nicht mit akademischen Titeln glänzen, aber »Esser« bin ich summa cum laude, und das ist in der Welt meiner Großeltern mindestens genauso viel, wenn nicht gar mehr wert.
Oder anders: Wer kein Esser ist, kann auch alle anderen Auszeichnungen, Preise und Titel stecken lassen. Ein gesunder oder im besten Falle sogar etwas ungesunder Appetit ist die Grundvoraussetzung, um von meiner Großmutter auch nur einen heiligen Hauch ihrer sparsam dosierten Anerkennung zu erhalten.
Ich schaffe es, diesen Status aufrechtzuerhalten, weil Dinge, die mir andernorts unerträglich scheinen, bei meinen Großeltern zumindest gerade so eben aushaltbar waren.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ist das eine ziemlich präzise Definition von Liebe.
Als ich mich an den Tisch setze, liegt schon eine Wurst auf meinem Teller. Meine Großmutter hat nie von meiner ausgeprägten Abneigung erfahren, ich habe es in den ganzen Jahren geschafft, sie vor ihr geheim zu halten, aus Angst vor dem Donnerwetter, das ziemlich sicher auf mich niederfahren würde. Ganz zu schweigen vom Entziehen meines mühsam erfressenen Status, den ich zwischenzeitlich schon einmal verloren habe, weil ich fast zehn Jahre lang an einer Magenerkrankung litt.
Trotz all meiner jugendlichen Verfehlungen habe ich meine Großmutter nie so enttäuscht gesehen wie in dem Moment, als ihr Golden Boy zum ersten Mal ihren Eintopf stehen ließ, um stattdessen nur zwei Zwieback und einen Becher abgekühlten Kamillentee zu sich zu nehmen. Da ich in dieser Zeit auch aufhörte, mit meinem Opa Herrengedecke zu trinken, war dies in der Beziehung zwischen mir und meinen Großeltern wirklich ein dunkles Jahrzehnt.
Ich starre die Wurst auf meinem Teller an und bemühe mich sehr um flüssige Bewegungen und eine einigermaßen entspannte Gesichtsmuskulatur. Oma Lores Gastgeberinnenradar ist unglaublich fein eingestellt, kleinste Irritationen würde sie sofort bemerken.
Mit einer möglichst beiläufigen Geste nehme ich meine Gabel und spieße das teuflische Teil auf, wobei das knackende Geräusch der durchstoßenen Wurstpelle mich beinahe aus der Fassung bringt. Dieses Geräusch ist schuld, dass ich es nicht ertragen kann, wenn Menschen schnipsen, zu nah dran ist es an dem einer knackenden Knackwurst.
Mit Gänsehaut an den Innenseiten meiner Oberschenkel und schmerzhaft angespanntem Kiefer hieve ich das dämonische Ding mit letzter Kraft auf den Teller meines Großvaters, der es glücklicherweise schon verspeist hat, bevor es das gute Gästehaus-Porzellan überhaupt berührt.
»Fein«, sagt er und wischt sich mit seinem gigantischen Handrücken über die dünnen Lippen.
»Das war nun wirklich nicht erforderlich«, sagt meine Großmutter, »der alte Kerl ist schon dick genug.«
»Lore«, entgegnet mein Opa entrüstet. »Lore! Ey, Mama! Ey! Aber ich ernähre mich doch davon.«
Dieser Sketch ist einer ihrer absoluten Klassiker, einer aus ihrem persönlichen Best-of. Ich habe ihn bestimmt schon tausendmal miterlebt, aber für mich funktioniert er trotzdem noch jedes Mal. Und so lachen wir drei, während ich mich an die schmale Küchenzeile schleiche, um Teller und Besteck von jeder noch so kleinen Wurstspur zu befreien. Außer dem Unaussprechlichen und den falschen Kartoffeln gibt es noch Gyros aus der Mikrowelle und Apfelbrei, eine Kombination, die ich überall sonst nicht ausgehalten hätte, die mir hier aber besonders gut schmeckt.
Für meine Großmutter besteht Urlaub neben einem Tapetenwechsel und Spaziergängen am Strand vor allem daraus, vermehrt auf Fertiggerichte zurückzugreifen. Mit dem immer hungrigen Ludwig an ihrer Seite, der kaum in der Lage ist, sich selbst ein Spiegelei zu braten, ist das für sie regelrecht Wellness. Die heimische Tiefkühltruhe ist indes meist ihren eigenen Kreationen vorbehalten. Es kam mir schon manchmal so vor, als hätte sie wirklich mindestens vier Portionen jedes möglichen Gerichts eingefroren und wir wären immer nur eine knappe halbe Stunde davon entfernt, unsere Leibspeise serviert zu bekommen. Früher allerdings war das mit Sicherheit anders. Als mein Onkel Andreas noch im Haus meiner Großeltern lebte, nahm er mindestens die Hälfte der verfügbaren Kühleinheiten in Anspruch. Und das nicht unbedingt für Essbares, obwohl man sich ziemlich sicher auch darüber mit ihm hätte streiten können. Mein Onkel Andreas sammelte nämlich Aas. Jeden Tag nach der Schule durchstrich er das Dorf, die Nachbargärten und die umliegenden Weiden und Wälder nach Roadkill, altersschwachen Vögeln und Blindschleichen, deren Zeit abgelaufen war. Manchmal fand er auch Marder oder größere Raubvögel. Sein stolzester Fund aber war ein ausgewachsener männlicher Dachs. Er schleppte das gigantische Tier fast eine Stunde nach Hause und warf es, dort angekommen, direkt zu seinen anderen Schätzen in die Truhe, wo er ihn zunächst wieder vergaß. Als meine Großmutter am nächsten Tag gefrorene Erbsen für das Mittagessen auftauen wollte, bekam sie erst den Schreck ihres Lebens und dann einen Tobsuchtsanfall. Doch Andreas setzte sich durch, und der Dachs blieb. Fast zwei Jahre lag er starr am Boden der Kühltruhe, heimelig zugedeckt von Kassler und Graubrot, bis mein Onkel ihn schließlich aus seinem kalten Grab befreite und ausstopfte. Er hatte schon früh ein erstaunliches Talent dafür gehabt. Die unzähligen Exponate, die vor allem das Obergeschoss und den Keller des großelterlichen Hauses bevölkern, haben nichts mit den gruseligen Fratzen zu tun, die eine Zeit lang als Memes das Internet überschwemmten. Die Tiere, die Andreas ausstopfte, wirkten erstaunlich lebensecht. Der Dachs, den er sich vielleicht auch deshalb extralang aufhob, um vorher ausreichend an kleineren Tieren zu üben, ist ihm besonders gut gelungen.
Es gibt ein Bild, darauf sieht man mich als ungefähr dreijährigen winzigen Menschen auf dem gigantischen Dachs sitzen. Ich sehe sehr glücklich aus. Dass ein toter, über Jahre tiefgefrorener Dachs irgendwann mal irgendwen so glücklich machen würde, das würde man ja auch nicht denken. Allein diese Erinnerung gibt meinem Onkel Andreas mit einigen Jahren Verspätung doch noch recht, der bis heute wirklich jedes tote Tier mitnimmt, das er irgendwo findet.
Auf einer längeren Reise durch Slowenien entdeckten wir auf einer Landstraße ein Hermelin mit gebrochenem Rückgrat, das seine Hinterbeine nutzlos hinter sich herschleifte. Erst dachte ich, Andreas hätte es übersehen, da trat dieser schon hart auf die Bremse und setzte den Wagen mit einem großen Satz zurück. Das Hermelin war nirgendwo zu entdecken. »Ausschwärmen«, sagte Andreas, der als Einziger aus der Familie in der Bundeswehr gedient hat und dem es manchmal gefiel, militärische Floskeln abzufeuern. Wie es ihm während seiner Grundausbildung wirklich gegangen war, erzählte er jedoch nicht. Ich mochte aber die Geschichte einer Übung, bei der er mit fünf seiner Kameraden ohne Proviant im Wald ausgesetzt wurde und sie alleine zur Basis zurückfinden mussten.
Nach fast drei Tagen erreichten sie ihr Ziel spät in der Nacht, schlammüberzogen und fast wahnsinnig vor Hunger. Als sie in der Küche aber nichts fanden außer einer halb vollen Großpackung Würfelzucker, setzten sie sich zu fünft um die Schachtel herum auf den Boden und aßen im Uhrzeigersinn je einen Würfel Zucker. Als nach einigen Runden die karge Beute aufgeteilt war, folgte eine kurze Stille, in der man lediglich den Protest der Magensäuren hören konnte. Sie schwiegen noch eine ganze Weile, dann sagte der dünnste und jüngste von ihnen: »Endlich mal wieder so richtig satt essen.«
Als wir also mitten im slowenischen Niemandsland ausströmten, um ein halb gelähmtes Hermelin zu fangen, waren wir nach der knapp siebenstündigen Autofahrt wohl nur etwas weniger hungrig als die unterzuckerten Rekruten. Wir freuten uns alle schon sehr auf die gegrillten Regenbogenforellen, die in der Penzion Kanonir auf uns warteten, wussten aber auch, dass es keinen Sinn hatte, das in diesem Moment anzubringen. Das schwer verletzte Tier hatte sowohl den Jagdinstinkt als auch das Mitleid in Andreas geweckt, und wie ein barmherziger Bluthund ging er gerade in großen Schritten den Straßengraben ab, als wir alle durch ein jämmerliches Quieken zusammenzuckten.
Beim Zurücksetzen des Wagens (wie meine Großeltern fuhr auch mein Onkel Andreas seit jeher den immer gleichen Opel in verschiedenen Farben, allerdings statt eines Vectras einen Astra) hatten wir das Hermelin offensichtlich erneut überfahren. Der linke Hinterreifen des Opels teilte das arme Tier in zwei Teile. Zu beiden Seiten stand der Körper nach oben ab wie ein Ballon, und als das Hermelin sah, dass wir es entdeckt hatten, stellte es das Quieken wieder ein und versuchte in seiner grotesk ausweglosen Lage unbeteiligt und beiläufig zu wirken.
»Das ist ja doll«, sagte Andreas mit leichter rheinischer Färbung und wartete mit weiteren Ausführungen, bis wir uns alle um ihn und das geschlagene Wiesel versammelt hatten. »Hier sieht man wunderbar, wie widerstandsfähig die Haut eines solchen Marders ist, kein Tropfen Blut, und das trotz der ungefähr vier Tonnen, die auf diesen kleinen Körper wirken. Erstaunlich!« Ein Quieken, wie nur ein Hermelin es von sich geben kann, das gerade einen wirklich beschissenen Tag hat, riss meinen Onkel aus seinen wissenschaftlichen Ausführungen und aktivierte erneut sein Mitleid. »Ach so«, sagte er und erlöste das Tier mit einem gezielten Tritt aus seinem Elend, genau mit dem richtigen Maß an Gewalt, um den Marder durch ein schweres Hirntrauma dahinzuraffen, ohne jedoch den schönen Schädel zu beschädigen, was das Ausstopfen unnötigerweise erschwert hätte.
Es war nicht das erste Mal, dass ich ihn töten sah. Wie schon meine erste Leiche bestaunte ich auch meinen ersten Mord auf dem Grundstück meiner Großeltern. Zwei Tage nach einer großen Familienfeier schlug mein Onkel Andreas vor, für die ganze Familie ein Schlachtfest zu organisieren. Ich war etwa zehn Jahre alt und redete mir ein, ich freute mich auf die Gelegenheit, endlich einmal einem Tier beim Sterben zusehen zu können. Bis auf wenige, bereits erwähnte Ausnahmen hatte ich schon immer gerne Fleisch gegessen, und das sollte mit einem Preis kommen, fand Andreas, nicht ganz zu Unrecht. Mein Cousin Felix gab sich indes abgeklärter, mit Andreas als Vater war das Blutbad für ihn wahrlich nichts Neues.
Mein Onkel, mein Cousin und ich fuhren also mit einem der unvermeidbaren Opel zu einem nahe gelegenen Bauernhof und kauften dort einen großen weißen Hahn und ein kleines graues Kaninchen. Im Kofferraum des Wagens machten beide Tiere keinen Mucks und erwarteten langmütig ihre Hinrichtung. Ich bildete mir aber ein, dass sich die Stimmung im Auto deutlich verändert hatte, seitdem wir zwei todgeweihte Passagiere kutschierten. Ich traute mich nicht, sie anzusehen. Den Hahn nicht, weil ich mich schon immer vor Vögeln und vor allem vor ihren Füßen gegruselt hatte. Und das Kaninchen nicht, weil es so zart, unschuldig und ängstlich aussah, dass mir bei jedem versehentlichen Blick in seine glasigen Augen etwas schwindelig wurde. Ich überlegte schon, wie ich das Tier vielleicht unauffällig aus dem fahrenden Wagen in einen Straßengraben werfen könnte, aber mir fehlte dann doch der Mut dazu.
Wieder im Haus meiner Großeltern, schärfte mein Onkel unter unseren Augen sorgfältig sein Schlachterbesteck. Für das Kaninchen schliff er ein kleines Küchenmesser mit schwerem rotem Plastikgriff, für den Hahn seine mächtige Machete. Er hatte diese Machete einige Jahre zuvor von einer Expedition aus Afrika mitgebracht. Seit diesem Tag hing sie stolz und einschüchternd über der Tür des Geräteschuppens meines Großvaters. Über seiner Werkbank hatte mein Großvater in einem komplizierten Muster große Nägel in die Wand geschlagen, an denen er all seine Werkzeuge griffbereit aufgehängt hatte. »Jedes Ding an seinen Ort erspart viel Müh und böse Wort« lautete sein Mantra, das er mit einiger Sicherheit von meinem jähzornigen Urgroßvater, »dem alten Zickelschuster«, übernommen hatte. Er war besessen davon, dass alles so gemacht werden musste, wie er es sich in seiner unendlichen Weisheit ausgedacht hatte. Dass dies nach der Flucht sogar noch exzessiver wurde, lag zum einen an dem Trauma, das Hunger und Todesangst auch bei ihm hinterlassen hatten. Zum anderen daran, dass er seiner ganzen Familie ausgerechnet mit dieser unliebsamen Eigenschaft, die jeder von ihnen gleichsam fürchtete und hasste, das Leben gerettet hatte. Kurz bevor der Treck sich in Gang setzte, hatte es am Wagen der Familie meines Großvaters einen Streit zwischen meinen Urgroßeltern gegeben, der durchaus auch handgreiflich geworden war. Es ging um die schwere und sperrige Schustermaschine, die meine Urgroßmutter in der Nacht zuvor mithilfe ihrer ältesten Söhne abgeladen hatte, um mehr Platz für Decken und Proviant zu schaffen. Mein Urgroßvater tobte und warf in blinder Wut die Säcke und Bündel in den Schlamm, bevor der winzige Mann mit bärenhafter Kraft die gigantische Maschine ganz allein wieder aus dem Schusterschuppen und auf den Wagen hievte. Die anderen dachten in den nächsten Wochen und Monaten oft an diesen Moment. Immer dann, wenn sie hungerten und froren, und das kam häufig vor. Doch als sie nach der schier unerträglichen Reise schließlich das kleine westfälische Dorf erreichten, in dem sich die Familie fortan niederlassen würde und in dem später auch mein Vater und seine Geschwister geboren wurden, erwies sich dieser eine Moment ihrer Flucht als der entscheidende. Die unliebsame Maschine, die sie während der zermürbenden Reise so oft für ihr Gewicht und ihre Sperrigkeit verflucht hatten, sicherte ihnen von nun an nicht nur täglich ihre spärlichen Essensrationen, es war auch ihre Eintrittskarte in die Dorfgemeinschaft. Die alteingesessenen Resident*innen waren den Neuankömmlingen gegenüber erst skeptisch und abweisend, aber sie alle hatten Schuhe und Stiefel, die nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren dringend einer Überholung bedurften, und »der alte Zickelschuster« verstand sein Handwerk.
Mein Vater hatte mir diese Geschichte erzählt, nicht mein Großvater. Wahrscheinlich fiel es ihm auch nach all den Jahren immer noch schwer, dem despotischen Patriarchen recht zu geben, der ihn so oft wegen Kleinigkeiten aufs Übelste verprügelt hatte. Oder eben geschnickt.
Mein Cousin und ich hatten in unserem Leben hingegen keinerlei Gewalt erfahren müssen und konnten darum uneingeschränkt begeistert und fasziniert von ihr sein. Kindliche Waffennarren, die wir deshalb waren, hatten wir oft zur Machete meines Onkels hinaufgeschaut und uns wilde Geschichten über sie ausgedacht. Wie scharf sie sei und wie gefährlich und wie vielen Menschen sie das Leben gerettet und wie viele sie es gekostet haben mochte. In unserer Fantasie waren die Forschungsreisen meines Onkels nur der Vorwand für halsbrecherische Missionen im Dienste irgendeiner mysteriösen Organisation, er selbst ein Geheimagent oder Auftragskiller, der erbarmungslose Stahl seiner Machete das Einzige, dem er jemals wirklich vertrauen konnte. Wir wagten es vor lauter Ehrfurcht nie, auf die rostige Malerleiter zu steigen, die dort an der weiß gekalkten Wand lehnte, und sie von ihrem Haken herunterzunehmen, obwohl es uns sonst an Übermut nie gefehlt hatte.
Dann sollten wir also dieses legendäre Artefakt zum allerersten Mal in Aktion und in seinem ursprünglichen Element sehen. Wie viel Blut würde wohl fließen? Wie weit würde es spritzen? Und würde die archaische Mischung aus der mächtigen Machete und der ungezähmten Onkel-Kraft den hölzernen Richtblock gleich mit spalten?
Mein Großvater und Onkel Jacob holten den Hahn aus der alten Voliere. Er wehrte sich, und so musste jeder einen Flügel halten, während sie ihn auf den Holzblock hievten, der gleich neben dem Kompost platziert worden war. Mein Onkel Andreas trat von hinten an den zappelnden Hahn heran und schlug ihm mit einem einzigen gezielten Machetenhieb den Kopf ab. Impulsartig ließen die beiden anderen Männer das Tier los. Scheinbar hatte sich jedoch noch nicht der ganze Hahn so schnell dazu durchringen können, wirklich und wahrhaftig tot zu sein. Blutüberströmt kam er auf dem Boden zu stehen und rannte kopflos in Richtung der Brombeersträucher. Das erinnerte mich schon damals an die Geschichte von Klaus Störtebeker, der noch nach seiner Hinrichtung ohne Kopf aufgestanden sein soll, um seine mitverurteilten Mannen zu retten. Der Hahn indes hatte nicht vor, irgendwen zu retten, nicht einmal mehr sich selbst. Wenn er denn jemals etwas gewollt hatte, so war ihm dieser Wille gemeinsam mit seinem stolzen weißen Kopf soeben abhandengekommen. Mein Onkel wartete kurz ab, bis sich auch der letzte Muskel endlich sicher war, tot zu sein, und sammelte dann den Hahn wieder ein, der es sich unter einem Brombeerstrauch den Umständen entsprechend einigermaßen gemütlich gemacht hatte.
Und da lag er nun, der Hahnenkopf, der praktischerweise gleich im Kompost gelandet war. Neben ihm die Leiche einer weiteren der unzähligen unglückseligen Spitzmäuse, die meine Großmutter im Kartoffelkeller erschlagen hatte. Ihr war kein so glorreicher Tod vergönnt gewesen. Auch dem Kaninchen nicht. Mein Onkel packte es im Nacken, gab ihm mit dem Griff des Messers einen Schlag auf den Hinterkopf, sodass es sich überschlug. In derselben Bewegung drehte er das Messer und schnitt dem Kaninchen die Kehle durch. Ich bin mir sicher, Hahn und Kaninchen haben uns allen hervorragend geschmeckt, so wie jedes Essen im Hause meiner Großeltern.
Schlimmer als die Erkenntnis, dass es keinen Weihnachtsmann gibt, war für mich die Antwort auf die Frage, warum genau es bei meiner Oma eigentlich immer so gut schmeckte.
In dem Moment, als ich erfuhr, dass Maggi Fondor, ihre Geheimzutat in jedem Essen, nichts anderes als reines Glutamat war, wurde ich schlagartig erwachsen.
Als Kind hatte ich es mir gerne direkt aufs Brot gestreut, auf Butter oder Frischkäse, aber immer nur nachts, als hätte ich heimlich schon geahnt, dass ich mir da gerade kulinarisches Kokain auf Toast einverleibte. Wenn die Sonne unterging, begann im Haus meiner Großeltern traditionell immer noch eine letzte große Fressetappe, die ausschließlich vor dem von Jahr zu Jahr immer lauter werdenden Fernseher eingenommen werden durfte.
Meine Großmutter, die im Laufe des Abends einfach irgendwann beiläufig aufstand, um Sekunden später mit drei Äpfeln und einem Kartoffelmesser zurückzukommen, war natürlich die Zeremonienmeisterin dieses finalen Akts. Den ersten Schritt, den mit den Äpfeln nämlich, versuchte ich immer irgendwie zu überspringen. Auch wenn meine Großmutter die Äpfel wirklich beeindruckend kunstvoll schälte, waren sie meistens von innen so mehlig, dass mir oft schon nach einem einzigen widerwilligen Bissen schlagartig schlecht wurde. Außerdem oxidierten sie in rasender Geschwindigkeit und wenn ein Apfelschnitz schließlich, von meiner Großmutter auf die Reise geschickt, bei mir ankam, war er meist schon so braun und eigenartig schuppig, dass ich es nicht einmal mehr schaffte, mich zu einem winzigen mitleidigen Nagen, zu einem einzigen Spitzmausbissen hinreißen zu lassen. Also versuchte ich mich rechtzeitig schlafend zu stellen, um dann ganz zufällig in dem Augenblick wieder zu erwachen, wenn meine Großmutter die wunderbar heilsamen Worte »Irgendjemand muss jetzt aber noch einen Joghurt essen« aussprach.
Und dieser Jemand war ich nur zu gerne. Meine Großmutter kaufte immer Naturjoghurt mit einer hauchdünnen Schicht Fruchtkompott am Boden, die man schon verheißungsvoll leuchtend durch die weiße Plastikverpackung sehen konnte. Es gab bei ihr nur zwei Sorten, Kirsche und Aprikose, wobei Kirsche mein klarer Favorit war. Und selbst wenn ich irgendwann einmal irgendwo gelesen hatte, die Frucht in solchen Joghurts wäre mit der Zeit durch wochenlang in Kirschsirup eingelegte Holzspäne ersetzt worden, schmeckte er mir fantastisch. Das krachende Geräusch der Sollbruchstellen, wenn man die einzelnen Becher voneinander trennte, gefolgt von der ewigen Diskussion über die richtige Verzehrtaktik (graben oder rühren), der Magen, der schon nach dem ersten Löffel damit beginnt, sich zu weiten, weil er genau weiß, was jetzt noch auf ihn zukommt.
Meine Großmutter leitete das ganze Spektakel als Stichwortgeberin weiter an, zauberte Chips und Schnapspralinen aus dem Hut und war erst zufrieden, wenn jeder Anwesende halb bewusstlos, aber glücklich auf dem Sofa hing und über die schlimmsten Bauchschmerzen seines Lebens klagte. Dann war sie selig. Dafür war sie gebaut. So zeigte sie uns ihre Liebe.
Und sie zeigte diese Liebe sogar denen, die sie gar nicht leiden konnte.
Ich muss oft daran denken, wie Oma Lore beinah einen Tobsuchtsanfall bekam, als meine Cousine Carla ihre riesige Kangal-Hündin Lady zu einem Familientreffen mitbrachte. Lore mochte keine Haustiere, zumindest behauptete sie das immer und wurde nicht müde, über die Anwesenheit des gigantischen Tieres zu schimpfen, das sie immer nur »fürchterliches Kratur« nannte. Meine Cousine hatte Lady aus der Verwahrlosung durch ihren gewalttätigen Ex-Freund gerettet. Kangals sind türkische Hirtenhunde, über die man sagt, sie würden in den anatolischen Gebirgen gegen Bären kämpfen. Und wer einmal eines dieser riesenhaften Geschöpfe gesehen hat, wird nicht eine Sekunde an diesem Fakt zweifeln.
Lady jedoch kämpfte nicht. Manchmal hatte sie jedoch leichte Schwierigkeiten damit, kleinere Kinder und Schafe auseinanderzuhalten, und knuffte sie bei Spaziergängen entsprechend an, wenn sie sich für ihren Geschmack zu weit von der Herde entfernten. Wenn ein Kind sich daraufhin erschreckte und zu schreien oder weinen begann, verlieh sie ihrer Aufforderung, gefälligst in Reih und Glied zu bleiben, weiteren Nachdruck. Leider manchmal auch indem sie zubiss. Ungefähr vier Mal kam das vor, immer mit blutigen Konsequenzen. Lady nahm ihren Job nun mal ernst, ob sie nun in den türkischen Bergen war oder nicht. Das musste auch ein stark angetrunkener Nachbar feststellen, der sie nach einem durchzechten Nachmittag auf dem Kölner Karneval beim Nachhausekommen über den Zaun hinweg triezte. Dabei hatte er jedoch drei entscheidende Fehler gemacht.
Erstens hatte er ein sehr territoriales Tier auf seinem eigenen Grundstück provoziert. Zweitens hatte er in der ganzen Zeit, in der er neben Carla und Lady wohnte, nie den Wikipedia-Artikel über Kangals gelesen. Sonst hätte er sich drittens in dieser Karnevalssaison bestimmt nicht für ein Bärenkostüm entschieden.
Carla fuhr den blutenden Bären anschließend ins Krankenhaus und zahlte ihm 400 Euro, damit er die Sache unter den Tisch fallen ließ.
Ansonsten aber war Lady ein feines und sanftmütiges Tier. Sie trug ein schweres schwarzes Halsband, auf das in Strasssteinen ihr Name eingelassen war, und aß am liebsten griechischen Joghurt mit Hackfleisch.
Als Carla am zweiten Morgen aufstand, um mit Lady ihre Morgenrunde zu gehen, lag der Hund nicht mehr bei ihr im Gästezimmer. Alle anderen schliefen noch, und so ging sie leise hinunter in die Küche, wo meine Großmutter alleine am Fliesentisch saß, Wiener Melange trank und ein Kreuzworträtsel löste. Lady lag ausgestreckt zu ihren Füßen. Neben ihr ein Suppenteller, sorgsam ausgeleckt, und doch konnte man erkennen, dass es Joghurt gewesen war. Meine Oma sah nicht auf, als Carla den Raum betrat. »Also Griechischen hatte ich jetzt keinen da, und dafür laufe ich jetzt nicht extra noch zu Köllers, damit das schon mal klar ist.«
»Omma«, wollte Carla gerade sagen, aber jetzt sah meine Großmutter doch von ihrem morgendlichen Rätsel auf und fiel ihr ins Wort. »Da kann ja das Kratur nichts dafür«, sagte sie. »Dass ich es nicht mag.«
Als Lady starb, vergrub Carla sie übrigens an einem geheimen Ort, um zu vermeiden, dass ihr Vater Andreas grabräuberisch tätig werden würde, um sich aus dem Fell der sanften Bärentöterin, wie zwischenzeitlich angedroht, einen schönen warmen Mantel zu nähen.
Den ganzen Tag hat sich der Sylter Himmel grau in grau gezeigt, aber jetzt, da es langsam Abend wird, färbt er sich plötzlich in den schönsten Farben und taucht die Ferienwohnung in ein geradezu schwelgerisches Licht. Andere hätten es vielleicht kitschig gefunden, aber so zynisch bin ich zu meinem Glück noch nicht. Auch meine Großeltern blinzeln, neben mir auf dem Balkon sitzend, in die Strahlen der untergehenden Sonne und wirken zufrieden.
Dieses Phänomen war mir schon in meiner Kindheit in Husum aufgefallen.
Ganz früh morgens und kurz vor Sonnenuntergang brach am Himmel plötzlich ein Feuerwerk der Farben los, alle Stufen Rot, sattes Violett, geradezu exzentrisches Pink, während tagsüber der kleinste Streifen Blau am schmutzig grauen Himmel mancher Herbst- und aller Wintertage die Seltenheit und den Eventcharakter einer dreischweifigen Sternschnuppe hatte.
Am späten Nachmittag kann man manchmal ein paar Töne Gelb abstauben, aber Vormittag, Mittag und Nachmittag sind schon allein wegen der stumpf und schwerfällig am Himmel klebenden Wolken immer total im Arsch. Da kann man auch nichts machen, das ist einfach so, auch wenn alle Bewohner des Landstrichs sicher bereit gewesen wären, jede Petition zu unterschreiben, die sich für eine gerechtere Aufteilung der Farben einsetzen würde.
In meiner Vorstellung war die nordfriesische Flagge in Bezug auf den Morgen- und Abendhimmel entstanden, auch wenn ich nicht weiß, ob so etwas wirklich so funktioniert.
Ich fand das irgendwie immer schon eine schöne Vorstellung, auch wenn das Blau, Rot und Gelb der Fahne wahrscheinlich in Wirklichkeit irgendein mittelalterliches Machtgefüge repräsentierten oder für irgendwelche degenerierten Fürstenhäuser und Adelsgeschlechter stehen. In verschiedenen Graustufen wäre sie zwar um einiges realistischer gewesen, aber man muss es ja auch nicht übertreiben, das Leben ist ja schon niederschmetternd genug. Gerade in Husum.
Ich habe mir fest vorgenommen, an diesem Abend noch schwimmen zu gehen, zum einen, weil ich mir selbst beweisen will, was für ein harter Hund ich bin, und zum anderen, weil ich es liebe, meine Großmutter mit diesen Dingen aus der Ruhe zu bringen. Es gibt festgelegte jahrhundertealte und gut belegte Regeln für die Nutzung der Nordsee, und die besagen laut meiner Großmutter unter anderem: »Außerhalb der Hauptsaison? Selbstmord und Unsinn!«
Ich warte einen Moment der absoluten Stille, des definitiven Urlaubsglücks, ab.
Wir drei haben mittlerweile Jacken übergezogen, weil die wenigen Sonnenstrahlen zwar hübsch, aber nicht wirklich wärmend sind und der Wind auf dem Balkon des Ferienapartments mit den Wellen jetzt doch schon recht ordentlich um die Wette rauscht.
Ich atme in angespannter Vorfreude noch einmal ein und aus, dann sage ich: »So. Ich gehe jetzt noch mal schwimmen.« Das »noch mal« ist eine norddeutsche Sprachfigur, die mir wirklich gut gefällt. Egal, was man so zu tun ankündigt, alles tut man immer »noch mal«, was sich aber nicht wie im Rest der Welt auf das peinlich enge Fenster eines einzelnen Tages beziehen muss, sondern auf nicht weniger als die gesamte verdammte Unendlichkeit.
»Noch mal?«, fragt meine Großmutter unnachahmlich entrüstet.
Sie würde es nie verstehen. Tue ich ja selbst auch nicht wirklich.
»Ja«, sage ich etwas dümmlich, weil mir nichts Besseres einfällt.
»Na dann, mach.« Die Entrüstung ist in Sekundenschnelle tiefer, ehrlicher Gleichgültigkeit gewichen. Ludwig schaut in den Himmel und schweigt.
Ich bin fast ein bisschen enttäuscht. Ich habe mir, zumindest von Lore, eine bissige Reaktion erhofft, aber vielleicht hat sie das ewige Warten am Bahnhof mürbe gemacht, und sie harrt jetzt einfach der Dinge, selbst wenn »die Dinge« bedeutet, dass ihr halsbrecherischer Enkel sich den Tod oder mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zumindest eine anständige Lungenentzündung einhandeln wird, nur um zu beweisen, was für ein toller Hecht er doch ist.
Von Ludwig erhoffe ich mir indes wahrscheinlich heimlich Anerkennung für diesen zutiefst maskulinen Akt. Das eigene Leben nur für sein Ego riskieren? Genial. Männlicher wird es wirklich nicht mehr.
In Berlin gehe ich selten schwimmen. Ich mache ohnehin kaum noch Sport, seitdem ich mir eine Mitgliedschaft im Urban Sports Club leiste, einem digitalen Fitnessklub, der verschiedene Sportstudios, Schwimmbäder und Wellnesstempel mit einem einfachen Abomodell vereint. Das Konzept geht insofern auf, als mich das unglaubliche Überangebot derart lähmt, dass ich außer kurzen und unregelmäßigen Ausflügen in die Kältesauna nichts, aber auch gar nichts davon nutze und stattdessen die 100 Euro im Monat lediglich als Bußgeld für meine eigene Faulheit verbuche.
Meine Hausärztin hat mir gegen Depressionen ein teures Hobby empfohlen.
Sie hat ein Pferd und geht golfen, der finanzielle Einsatz zwinge sie dazu, die Dinge dann auch wirklich zu machen, was ihr dann wiederum guttue.
Klingt für mich so weit erst einmal plausibel. Trotzdem schaffe ich es, das System wahnsinnig clever außer Gefecht zu setzen und jegliche Form von negativen Gefühlen durch stumpfe Untätigkeit und sinnlose Ausgaben noch zusätzlich zu befeuern. Ein tolles Hobby. Und teuer ist es auch.
Als Kind habe ich das Schwimmen auf Sylt geliebt.
Stundenlang habe ich mich von den Wellen zurück an den Strand spülen lassen, bis ich irgendwann müde und verbrannt mit den Badehosentaschen voller kostbarem Sand zurück zum heimischen Wohnwagen geschlurft war.
Je höher die Wellen, je gnadenloser der Wind, desto glücklicher war ich.
Meine Großmutter kam selten mit ins Wasser, saß meistens im knallheißen Sand und beobachtete mich, ohne eine Miene zu verziehen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Ludwig mal mit mir geschwommen wäre, ohnehin verließ er auch schon früher selten den Campingplatz, seine legendäre Tigerbadehose habe ich nie im Einsatz sehen dürfen. Warum sie trotzdem immer ans Meer fuhren, erschloss sich mir nicht wirklich, ich war aber gerne der wellenumspülte Nutznießer dieses Umstands.
Manchmal war ich mit meiner Großmutter auch den ganzen Weg von Wenningstedt nach Westerland am Strand entlanggelaufen. Wir liefen nebeneinander und wechselten uns ab, wer mit den Füßen im Wasser laufen durfte, da, wo die Wellen gerade noch hinreichten.
In Westerland aßen wir jeder ein großes Softeis, und zurück fuhren wir schwarz mit dem Bus.
Wir unterhielten uns auf diesen Reisen unverhältnismäßig viel und tauschten uns über tausend Dinge aus, von denen ich heute kaum noch etwas weiß.
Es ging viel darum, wer im Dorf plötzlich gestorben war und was aus ehemaligen Kegelbrüdern und -schwestern geworden war, die gar nicht mehr gut zurecht waren oder eben, wie sie sagte, »nichts mehr wert«.
Was mich aber wirklich interessierte, traute ich mich nicht zu fragen.
Sie dagegen war, was das anging, weniger zimperlich. Sie fragte mich, ob ich verliebt sei, ob ich schon eine Freundin habe, und natürlich durfte auch die unvermeidbare Frage nach der von mir angestrebten Karriere nicht fehlen.
Ich hatte immer Schauspieler werden wollen.
Wahrscheinlich weil ich mir vorstellte, dass mein ständiges Über-die-Stränge-Schlagen auf einer Bühne plötzlich doch irgendeinen, vielleicht sogar künstlerischen Wert bekommen und ich so der sicher scheinenden sozialen Ächtung und Isolation aufgrund von »zu laut, zu frech, zu viel« entgehen könnte.
Lore hatte darauf in wechselnden Abstufungen von niederschmetternder Ablehnung reagiert, sodass ich mich irgendwann zu der Bemerkung hinreißen ließ, sie würde »schon noch sehen«, und wenn sie es nicht sehen würde, dann würde ich ihr eine Autogrammkarte aufs Grab legen.
Dass sie mir an diesem Abend trotz meiner Bemerkung noch ein köstliches Abendessen servierte, erhebt sie in meinen Augen mindestens zu einer Heiligen.
Dass sie mir meine Worte jedoch fortan bei jeder weiteren, natürlich autogrammkartenfreien Begegnung aufs Butterbrot schmierte, machte sie dann doch wieder ziemlich menschlich. Und ich tat dann das, was ich nach Negativ-Auffallen am zweitbesten konnte: Ich schämte mich in Grund und Boden.
Für mich wiederum sprach dabei, dass ich bei der Anmerkung ungefähr sieben Jahre alt gewesen war. Doch das gleiche Argument konnte auch doppelt so hart gegen mich verwendet werden, denn was für ein Siebenjähriger sagt denn so etwas?
Bei meinem jetzigen Besuch ist sie noch nicht darauf zurückgekommen, aber auf Oma Lore ist in solchen Dingen Verlass. Sie würde niemals einen Menschen hungrig ins Bett gehen lassen, aber genauso wenig lässt sie jemanden jemals wieder von ihrem Haken, nachdem er oder sie sich durch sein oder ihr eigenes Fehlverhalten auch nur in seine Nähe bewegt hatte. Dabei scheint Oma Lore keinen echten Groll zu hegen, das Spiel mit der Vergangenheit macht ihr einfach teuflischen Spaß, und hinter ihrem meist eingefrorenen Pokerface tanzt in diesen Momenten nicht selten ein kaum sichtbares Grinsen, das zu erspähen zwar den absoluten Kennern vorbehalten ist, manchmal aber bricht es auch als Lachen aus ihr heraus, das im ersten Moment fast wie ein Niesen klingt, jedoch trotz seines seltsamen Klangs oder vielleicht auch gerade deswegen nicht weniger als herzerwärmend ist.
Ich habe schon als Kind so einiges getan, um dieses nasale Wiehern aus ihr herauszukitzeln, und immer wenn es mir gelang, war ich unglaublich glücklich.
Opa Ludwigs Gelächter ist deutlich einfacher abzufischen. Als ich noch klein war, konnte ich es vor allem mit zotigen Witzen provozieren, die ich irgendwo aufgeschnappt hatte und die ich im besten Fall selbst gerade so halb verstand. Trotzdem reichten der wacklige Aufbau und die verstolperte Pointe, um meinem Großvater ein gluckerndes Gackern abzuringen, gefolgt von einem, manchmal zwei Klatschern seiner Bärenpranken und einem anerkennenden »Mensch, Lerge« oder »Lore, hast du das gehört«. In diesen heiligen Momenten war ich kurz nicht nervig, nicht unkontrolliert, außer vielleicht für meine Eltern, die alle Witze schon mehrfach gehört und ergebnislos versucht hatten, mich davon abzubringen, sie auch nur noch ein einziges Mal zu erzählen.
Ich sammelte also weiter fleißig die unmöglichsten Zoten, um sie meinen Großeltern bei unseren Besuchen in einem schier endlosen Best-of der Geschmacklosigkeiten zu präsentieren. Solange Opa Ludwig lachte und Oma Lore vornehm mit der Oberlippe zuckte, war mir jedes Mittel recht.
Einmal nahm er mich bei dieser Gelegenheit sogar überschwänglich in den Arm, was im Alltag selten vorkam. Er sagte mit vor Lachen bebender Stimme: »Ambrosius, du bist eine fetzige Lerge.«
Ich versuchte alles, um das irgendwie zu reproduzieren, doch der größte Erfolg meiner humoristischen Karriere blieb leider ohne Fortsetzung.
Ich liebte es, wenn die See stürmisch war. Die höchsten Wellen machten mir keine Angst. Nicht, weil ich besonders mutig war, sondern schlicht, weil ich die Gefahr überhaupt gar nicht begriff.
Vielleicht ist aber auch genau das das wahre Geheimnis der allermeisten Mutigen.
Die Welle an sich, jede einzelne, aber auch die schier endlose Masse, die sich jeden Tag gigantisch groß vor mir aufbaute, um dann donnernd auf dem Wenningstedter Sand zu brechen, sie beherrschten mich nicht, ich konnte mühelos durch sie hindurchtauchen oder mich über die Kronen schwappen lassen.
Ihre wahre Gewalt entfaltet jede Welle erst im Zusammenbruch, wenn aus den dunkelblauen Wasserpranken ein eher unscheinbares und doch todbringendes fauchendes Schaumbad wird, das keinen Unterschied macht zwischen Treibholz, Mensch und Wattwurm.
Wie konnte etwas von so brachialer Schönheit und mit Spaßfaktor 3000 denn nicht einfach nur das Allergrößte für mich sein? Die Wellen rissen mich um, spülten mich weg, ich sprang wieder auf und schrie vor Glück. Das war die stille Abmachung zwischen dem Klabautermann und mir, ein unausgesprochenes unerschütterliches Vertrauen herrschte zwischen uns.
Diese Haltung stand übrigens im klaren Gegensatz zur von Zweifel durchzogenen Lebenseinstellung vieler meiner nordfriesischen Mitmenschen, denen die »Ohas« und »Denn man toos« schon in die Stimmbänder tätowiert zu sein scheinen, jederzeit und allerorts abspielbereit. Ich trotzte dem kleinstädtischen Leben und den beschränkten Horizonten mit grimmiger Zuversicht.
Und schließlich passierte mir ja auch in all den Jahren nie etwas. Außer dieses eine Mal, als meinem übermütigen vorpubertären Ich dann doch ein bisschen was passierte.
Ich hätte an diesem Tag vermutlich gar nicht schwimmen gehen dürfen, hatte mich aber nie mit der Bedeutung der Fahnen beschäftigt, die die gewissenhaften Rettungsschwimmer und Rettungsschwimmerinnen an dem Fahnenmast vor ihrem Häuschen aufhängten, um den Badenden anzuzeigen, wie gut die Chancen stünden, dass sie ihre kleine Urlaubserfrischung lebend würden hinter sich bringen können.
Ich bin kein herausragender Schwimmer, aber auch kein schlechter, hatte mich jedoch für die Schwimmbundesjugendspiele immer rechtzeitig mit der Grippe anstecken lassen und hatte auch sonst, außer dem Seepferdchen, kein schriftliches Zeugnis meiner Fähigkeiten.
Mein Onkel Jacob würde an dieser Stelle wahrscheinlich in seiner unnachahmlichen Art anmerken: »Wer nicht untergeht, kann schwimmen; wer nicht tot ist, weiß, wie leben geht.« Das kann man natürlich so sehen, aber die Wahrheit war dann doch ein bisschen komplexer. Zumal ich in all den Jahren meiner Sylter Ferien nie besonders weit hinausgeschwommen bin. Um ganz ehrlich zu sein, war es mir wichtig, immer noch stehen zu können.
Muss man schwimmen können, wenn man stehen kann?
Und hätte mich das goldene Totenkopf-Abzeichen an diesem einen Tag besser beschützt als das kleine niedliche Seepferdchen, das ungefähr zur gleichen Zeit wahrscheinlich gerade in irgendeinem Altkleidersack von Motten zerpflückt wurde?
Vielleicht hätte ich, wenn schon nicht von der warnenden roten Fahne, dann wenigstens davon Notiz nehmen sollen, dass selbst die sonst todesmutigen Kitesurfer und Kitesurferinnen, die ja vom Wind lebten wie Opa Ludwig von Kartoffeln, Fleisch und Soße, sich an diesem Tag nur recht vereinzelt hinausgewagt hatten. Aber ich war wellenwild, war ein Besessener, die Warnungen meiner Großmutter, zu oft in unpassenden Momenten ausgesprochen, hatten ohnehin lange durch Meckerinflation an Wert verloren, und der heftige Wind trug ihre Worte zusätzlich dazu noch schneller fort als ohnehin schon.
Wenn ich auf Sylt bin, dann trage ich immer eine Badehose unter meinen Klamotten, auch heute noch. Man kann schließlich nie wissen, in welchen Momenten der Sog der Wellen Besitz von mir ergreifen wird, und dann bin ich gerne gut vorbereitet.
Die Badeshorts, die ich üblicherweise trage (bei dieser Reise sind es rosa Shorts von Barbour, die ich zu meinem letzten Geburtstag geschenkt bekommen habe), sind durch ihre Seitentaschen dazu prädestiniert, kiloweise Sand in sich aufzunehmen und an einer möglichst unpassenden Stelle, am besten in Anwesenheit meiner Großmutter, wieder freizugeben. Noch tückischer aber, weil fast unmöglich zu reinigen, ist das innen eingenähte Netz, das mein Onkel Andreas gerne das »Gekrösenetz« nennt. Wenn sie also jemanden sehen, der auf Sylt oder sonst einem anderen sonnigen Fleck, an dem Sand und Wellen aufeinandertreffen, im halbhohen Wasser steht und sich etwas hektisch in die Hose greift, tut er mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts Unanständiges, sondern versucht sich nur umständlich von seinem sandigen Fluch zu befreien.
Außerdem neigt das Netz dazu, sich bei Nutzung außerhalb des Wassers und schon bei leichtem Schwitzen in meinen Oberschenkel zu fressen, um nach kurzer Zeit mehr zu jucken als die Pilzinfektionen, die ich üblicherweise durch die Einnahme von Antibiotika bekomme. Alles in allem ein völlig unpraktisches, wenn auch sehr hübsches Kleidungsstück, für Mode und Etikette nimmt man einiges an Schmerzen in Kauf, so ist der Mensch eben. Nackt zu schwimmen kommt für mich nicht infrage. Das immer etwas zu kühle Nordseewasser schrumpft meinen Penis stets in eine eher unansehnliche Form und Größe, außerdem ist der dünne Stoff der Shorts aus mir physikalisch nicht näher erklärbaren Gründen ein überlebenswichtiger Stoßdämpfer für meine Hoden, die im direkten Wellenkontakt sonst in Sekundenschnelle unerträglich zu schmerzen beginnen.
Ich erinnere mich nicht, was für eine Badehose ich an jenem Tag trug, angesichts dessen, was folgen sollte, wäre aber auch eine Eishockeyausrüstung vielleicht die bessere Wahl gewesen.
Meine Großmutter hatte sich zum Schutz vor dem elenden Wind in einen der offenen Strandkörbe gesetzt, die bei diesem Wetter sicher niemand mehr abkassieren kommen würde.
Ich schlüpfte so aufgeregt aus meiner Hose, dass diese fast von einer Böe mitgerissen wurde. In Husum am Dockkoog, direkt am Meer mit Blick auf die Husumer Bucht, steht seit einigen Jahren ein Kunstwerk mit dem Namen »Windhosen«, das aus etwa zehn Jeans besteht, die auf Fahnenmaste gespannt sind. Ich weiß nicht, wer es gemacht hat, bin mir aber ziemlich sicher, dass dem Künstler oder der Künstlerin die Inspiration zu diesem Werk in einem ganz ähnlichen Moment gekommen sein muss.
Ob diese Person aber auch eine Oma Lore hatte, die die Hose hastig entgegennahm, gekonnt faltete und unter einem vom Wind halb verschluckten »Mein Gott« das Gleiche noch mit etwaiger Oberbekleidung machte, ist zu bezweifeln.
Dank Oma Lore, so verächtlich sie mein Tun auch beäugte, konnte ich mir immerhin ziemlich sicher sein, nach meiner Rückkehr aus den Fluten noch beide meiner Socken zu besitzen und mit etwas mehr Glück wahrscheinlich sogar ein Handtuch.
Ohne diese Sorge und auch ansonsten recht sorglos rannte ich den Wellen entgegen. Beim Rennen musste ich mich tatsächlich etwas in den Wind legen, um voranzukommen, ich war schließlich auch gute 40 Kilo leichter als heute, beinahe etwas mager, was Oma Lore natürlich überhaupt nicht gefiel, sie aber in diesem Urlaub nicht mehr würde ändern können. Denn dieser stand aktuell, ohne dass wir beide es zu diesem Zeitpunkt ahnen konnten, kurz davor, ziemlich abrupt zu enden. Zumindest für mich. Die Rettungsschwimmer hatten nur den kleinen Streifen Strand zum Baden freigegeben, auf den sie von ihrem Häuschen aus freie Sicht hatten. Darauf achte ich schon. Ich bin vielleicht wahnsinnig, habe aber auch nur wenig Lust, mich gegen die Buhnen schleudern zu lassen. Denn das war mir tatsächlich einmal bei relativ seichtem Wellengang passiert, und ich sah den Rest des Sommers aus, als hätte ich knapp einen Tigerangriff überlebt.
Bei diesem Seegang würde mit hoher Wahrscheinlichkeit jeder Knochen in meinem schmalen Körper zermalmt werden, während von außen die Seepocken die Haut zerfetzten und das Fleisch ablösten. Ein herrliches Maxgulasch würde das geben, aber wie gesagt, wahnsinnig bin ich schon, Gulasch will ich aber doch lieber noch ein paar Jahre lang selber essen. Vor allem das von Oma Lore, die an diesem Tag seltsam aufrecht im Strandkorb saß und mich mit zusammengekniffenen Augen beobachtete. Sie schien sich wirklich keinen Zentimeter zu bewegen, warum auch, jedes noch so kleine Kopfschütteln wäre sowieso verschwendete Liebesmüh. Nichts konnte mich aufhalten.
Außer mir war nur ein einziger anderer Schwimmer im Wasser, zumindest zur selben Zeit, aber mir gefällt auch die Vorstellung, dass es wirklich den ganzen Tag über nur wir beide waren, und wer kann schon das Gegenteil beweisen.
Wir waren also die einzigen beiden Schwimmer des Tages, obwohl der andere gar nicht schwamm, sondern nur ungefähr kniehoch im schäumenden Wasser stand. Er war größer als ich und insgesamt ziemlich bullig; der Sturm, der mittlerweile ehrlicherweise tobte und mir beim Rennen immer mehr Sand in die halb offenen Augen wirbelte, schien ihm überhaupt nichts anzuhaben. Es war schon grotesk, wie stabil er zu stehen schien. Während ich inzwischen halb blind auf ihn zugaloppierte, dachte ich, dass er wohl ziemlich langweilig war, meine Technik hingegen, nämlich bei Wind und Wetter in ein Eins-zu-eins mit der unbarmherzigen Nordsee zu gehen, war zwar bescheuert, dafür dem Leben und der Lust deutlich zugewandter.
Was als Nächstes passierte, das werde ich wohl zeit meines Lebens nicht vergessen.
Ich erreichte den Saum des Wassers und überwand die erste Kälteschrecksekunde schnell. Übermut und Euphorie waren stärker als mein integriertes Thermometer. Erst viele Jahre später würde ich in einem Podcast einen kauzigen Holländer über den Wert der Kälte philosophieren hören und fortan einen ganzen Winter lang nur noch im äußersten blauen Bereich duschen, bis mich ein Massagetherapeut fragte, warum mein ganzer Oberkörper so wahnsinnig verkrampft war. Ich fuhr also die kalten Duschen herunter, liebte sie aber heimlich noch immer. Damals auf Sylt hingegen konnte ich mit dem etwas zu kühlen Nass eher wenig anfangen und musste mich anstrengen, um unbeteiligt zu wirken. Die Kälte war also noch nicht »my warm friend«, sie war einfach nur ziemlich kalt an diesem sonnenlosen Tag.
Das Ganze läuft ja für gewöhnlich so ab: Sobald die Füße das Wasser berühren, verlangsamen sich die Bewegungen. Je weiter man vordringt, desto alberner sieht es aus, ein bisschen so, als würde man gegen seine eigene Slow Motion anrennen, bis man schließlich unweigerlich das Gleichgewicht verliert, wenn man sich nicht vorher gerade noch rechtzeitig für einen beherzten Kopfsprung entschieden hat. Dazu blieb mir allerdings keine Zeit, als ich gerade ungefähr bauchnabeltief im fauchenden Wasser stand. Sekunden also bevor ich zu besagtem Sprung ansetzen konnte, wurde ich mit einer Wucht von den Füßen gerissen, die selbst ich als Wellenwilder noch nicht erlebt hatte. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich die Nordsee dieses eine Mal zu oft unterschätzt hatte. War ja auch irgendwie kein Wunder, dass sie sich nicht auf Dauer mit einem spindeldürren Rotzbengel herumschlagen wollte, der zu blöd war, um angemessen Angst vor ihr zu haben.
Die Gewalt der Welle hätte mit Leichtigkeit ausgereicht, um mich in hohem Bogen aus dem Meer zu spucken, ein paar Purzelbäume schlagen zu lassen, um dann als demütiges Bündel zu Füßen des großmütterlichen Strandkorbs zum Liegen zu kommen, aber dieser Komfort war mir nicht vergönnt. Stattdessen knallte ich zielsicher und mit voller Geschwindigkeit gegen meinen grimmigen Co-Schwimmer, genauer gesagt: Mein linkes Ohr knallte gegen sein rechtes Schienbein, das, an Härte und Standhaftigkeit gemessen, genauso gut ein Laternenpfahl hätte sein können. Keinen Millimeter gab das verdammte Bein nach.
Durch die Wucht des Aufpralls bildete sich in meiner Ohrmuschel eine Art Wassertorpedo, der in Lichtgeschwindigkeit meinen Gehörgang durchquerte und nur Millisekunden später mein Trommelfell zerstörte. Wäre mir nicht vom Schmerz bereits schwarz vor Augen gewesen, hätte das sprichwörtlich ohrenbetäubende Piepen mir den Rest gegeben. Es war so laut, dass es mir schwerfiel, mich auf meinem anderen, gesunden Ohr auf auch nur irgendein Geräusch zu konzentrieren. Die Welle spülte mich weiter ins seichtere Wasser, der Laternenpfahlbeinmann bewegte sich nach dem Aufprall keinen Zentimeter, starrte unbeirrt dem Horizont entgegen und machte sich auch nicht die Mühe, wenigstens kurz nach mir zu sehen. Ich spürte, wie sich das Wasser unter mir langsam wieder zurückzog, und versuchte, auf die Beine zu kommen, um die Gefahrenzone schnellstmöglich zu verlassen. Doch ich klappte bei diesem Versuch wieder in mich zusammen und wurde von der nächsten Welle überrollt. Mehr Wasser drang in mein Trommelfell, wieder kämpfte ich mit der Bewusstlosigkeit, schrie unter Wasser vor Schmerzen und krallte mich mit Händen und Füßen in den Sand, sobald ich ihn greifen konnte. Ich schaffte es irgendwie, auf allen vieren aus dem Wasser zu krabbeln, der Schmerz in meinem Innenohr intensivierte sich noch weiter, als der unbarmherzige Wind ungeschützt hineinbrauste. Ich legte eine Hand über die Ohrmuschel und versuchte erneut, aufzustehen. Zweieinhalb Schritte konnte ich gehen, bis ich wieder in mich zusammensackte. Das Wasser hinter dem Trommelfell störte meinen Gleichgewichtssinn, einfachste Bewegungsabläufe schienen plötzlich unmöglich.
Es war wie ein Vollrausch, nur ohne Spaß und mit verdammt viel Wasser im Ohr.
Ich rappelte mich auf, taumelte einige Schritte und fiel, alles in einer sich scheinbar endlos wiederholenden Abfolge.
Dazu blies mir der Wind nun wieder die scharfkantigen Sandkörner direkt in die Augen, andererseits fing der Sand auch jeden meiner vielen Stürze einigermaßen weich auf, was meine ohnehin schon zwiegespaltene Meinung über ihn noch zusätzlich manifestierte.
Der rettende Strandkorb, in dem meine Großmutter weiterhin völlig regungslos verharrte, war nur ungefähr hundert Meter entfernt, was mir in diesem Moment wie eine absolut unüberwindbare Distanz vorkam. Ich fragte mich, ob sie vielleicht eingeschlafen war und mir deshalb nicht zu Hilfe eilte oder sonst irgendwie auf das groteske Bild reagierte, das ich abgeben musste.
Als ich sehr langsam und sehr umständlich näher kam, sah ich, dass ihre Augen, wenn auch nur einen schmalen Spaltbreit, aber doch geöffnet waren und sie mich verkniffen musterte. Ich versuchte nach ihr zu rufen, aber der Wind schien jedes Geräusch in die entgegengesetzte Richtung abzutransportieren, außerdem fuhr mir bei jeder Öffnung des Mundes ein weiterer stechender Schmerz in mein mittlerweile pulsierendes Ohr. Wie die drei Affen hörte ich wenig, sah kaum etwas und konnte keinen Ton von mir geben, ohne vor Schmerzen fast bewusstlos zu werden. Als ich schließlich den Strandkorb erreichte, fiel ich meiner Großmutter vor die Füße, als wäre sie die Königin auf dem Eisernen Thron. Immer noch machte sie keine Anstalten, sich zu rühren. »Mein Gott«, hörte mein funktionierendes Ohr sie noch sagen. »Jetzt lass doch mal das elendige Gewese. So kalt war es jetzt doch auch nicht.«
Dann wurde endlich alles schwarz um mich.
Ohne Sitzplatz kauerte ich im Zwischengang der Nord-Ostsee-Bahn auf meinem Koffer und versuchte mich von meinen stetig noch schlimmer werdenden Ohrenschmerzen abzulenken, indem ich immer wieder kleine Stücke von Papiertaschentüchern abriss, die meine Großmutter mir mitgegeben hatte, um sie mir in die Ohren zu stecken. Anschließend kaute ich sie zu festen weißen Klumpen. Irgendwann verließ mich sogar die Kraft, sie noch auszuspucken. In den endlosen 75 Minuten von Westerland nach Husum tat ich nichts anderes, als zu kauen und leise vor mich hin zu wimmern, und als ich schließlich aus der Bahn und meinen Eltern in die Arme fiel, hatte ich zwei ganze Packungen chlorgebleichter Tempo-Taschentücher einfach aufgegessen.
Meine Großmutter hielt all das indes immer noch für einen missglückten komödiantischen Akt, bis mein Vater ihr schließlich bestätigte, dass mein Trommelfell durch den Aufprall gerissen war und Gleichgewichtsverlust in diesem Fall nicht unüblich sei. Daraufhin sagte meine Großmutter das, was sie immer sagte, wenn sich irgendwer irgendwie verletzte. Ob es bei einem Bundesligaspiel war, das wir gemeinsam in der Sportschau anschauten, oder ob Felix ihr ein aufgeschürftes Knie präsentierte, das er sich bei einem Fahrradunfall zugezogen hatte. »Mein Gott.« Bedeutungsschwangere Pause. »Aber das hat er auch wirklich selbst in Schuld.«
So wie mit fast allem hatte sie auch damit natürlich völlig recht.
Und im Leben muss man sich immer wieder entscheiden, ob man lieber recht oder Mitgefühl haben will.
Trotz der Jacke ist mir hier auf dem Balkon doch gehörig kalt geworden, aber einen Rückzieher kann ich jetzt wirklich nicht mehr machen.
Egal, wie sehr man jemanden liebt, vor allem die eigene Familie, Genugtuung haben sie nicht verdient. Gegen jedes »Habe ich dir doch gesagt« werde ich kämpfen bis zum letzten Atemzug, und wäre er Brustfellentzündung sei Dank noch so schmerzhaft.
Ich mache einen letzten Vorstoß, um wenigstens leichte Entrüstung zu ernten.
»Dann geh ich jetzt mal los«, ich seufze und schlage mir weltmännisch auf die Oberschenkel, während ich aufstehe. Keine Reaktion von Lore und Ludwig, ich würde also völlig umsonst erfrieren. Niemand unternimmt auch nur einen müden Versuch, mich davon abzubringen. Vielleicht ist das der Zeitpunkt, an dem man wirklich vom Kind zum Menschen wird. Der Moment nämlich, in dem man das allererste Mal etwas völlig Hirnrissiges anstrebt, ohne dass irgendjemand einen davon abzuhalten versucht. Oder der Moment, in dem man bemerkt, dass halsbrecherische Sachen ohne eine vorausgegangene Diskussion oft nur halb so viel Spaß machen.
»Wir bleiben hier und winken dir«, sagt Lore, um, wie ich denke, die Demütigung final zu machen, fügt dann aber zum Glück doch noch hinzu: »So was Blödes, wenn du dir eine Lungenentzündung holst, dann koch ich dir keinen Tee.«
Ich grinse, während ich die Balkontür hinter mir zuziehe. Ich bin doch noch wer.
Ich nehme die Treppe. Das immerhin habe ich mir fest vorgenommen, dieses Gelübde habe ich mir selbst auferlegt, wenn ich schon 100 Euro im Monat für Sport bezahle, den ich nicht mache, muss ich mich im Alltäglichen ertüchtigen. Wie bei jedem guten Vorsatz gibt es natürlich zahlreiche Einschränkungen und mögliche Ausreden, die mich befähigen, im Zweifel doch den Lift oder die Rolltreppe zu nutzen. Ohne Großeltern, Gepäck und abwärts fällt aber selbst mir auf die Schnelle keine geeignete Ausrede ein.
In Treppenhäusern wird die leichte Einschränkung, die ich seit dem Badeunfall vor mehr als 15 Jahren mit mir rumschlepppe, am deutlichsten. Mein räumliches Hörempfinden ist stark eingeschränkt, erst wenn ich die Quelle eines Geräuschs auch sehe, kann ich es im Raum zuordnen. Wenn also irgendwo im Haus eine Tür aufgeht oder sich Schritte auf der Treppe nähern, ist es mir so gut wie unmöglich, zu erahnen, aus welcher Richtung jemand gerade auf mich zukommt. Es ist nichts, was im Alltag wirklich für große Probleme sorgt, nur ein weiterer Punkt auf der langen Liste von Dingen, die mich daran erinnern, dass ich ein ziemlich lebensunfähiges Individuum bin.
Und ein selbstmitleidiges noch dazu.
Als Kind habe ich mir mal beim Basteln mit dem Teppichmesser in die Hand geschnitten. Es hat natürlich wahnsinnig geblutet, und ich war entrüstet darüber, dass meine Oma den Schnitt zwar fachmännisch versorgte, es aber ansonsten nicht für nötig hielt, mich etwa mit warmen oder aufmunternden Worten zu trösten. Als ich sie fragte, ob sie denn gar kein Mitleid mit mir hätte, sagte sie nur trocken: »Warum sollte ich denn? Du tust dir doch selbst schon leid genug.«
Aber auch ohne die Macht des räumlichen Hörens schaffe ich es glücklicherweise bis zur Bude der Strandaufsicht, wo ich mit leichtem Herzklopfen Ludwigs Gästekarte vorzeige und dann die Promenade betrete. Es ist albern, dass ich in diesen Momenten Angst habe, aber wenig macht mir mehr Sorgen, als vor Autoritäten in Bedrängnis zu kommen. Selbst wenn diese Autorität eine freundlich aussehende Frau Mitte fünfzig in einem geblümten Regenmantel ist, die sicher ihren Job nicht macht, um jungen Leuten die Leviten zu lesen, befällt mich leichte Panik. Junge Leute. Ich selbst fühle mich gar nicht so wahnsinnig jung, das Adjektiv blieb aber heute an mir kleben, als meine Großmutter mir mit drohendem Gesichtsausdruck und den Worten »Du bist doch noch jung« drei zusätzliche und durchaus riesige Kartoffeln auf den Teller hievte. Ich konnte den kausalen Zusammenhang zwar nicht feststellen, traute mich aber natürlich auch nicht, nachzufragen. Also bin und bleibe ich eben jung.
Ich ziehe mir noch auf der Promenade Schuhe und Socken aus, nicht wirklich, weil ich es irgendwie genieße, barfuß zu laufen, sondern vor allem, weil ich die limitierten Turnschuhe, die ich trage, nicht versauen will. Ein paar Schritte durch den kühlen Sand später entledige ich mich auch meiner Hose, des passenden Pullovers und meines T-Shirts und lege alles sorglos übereinandergehäuft in den nächstgelegenen Strandkorb.
Aus den anderen Körben beobachten mich feixende Touristen in Outfits, die sicher noch besser für arktische Expeditionen oder eine Überquerung der Anden geeignet wären als mein Nike-Anzug, dabei, wie ich meinen halb nackten, leicht unförmigen Körper mit gespieltem Selbstbewusstsein den Wellen entgegensteuere.
Wenn ich zurückkäme, würden sie mich fragen, ob es kalt war, und ich würde nur grinsend mit den Schultern zucken und scheinbar zufällig mit dem goldenen Anhänger an meiner Halskette spielen, als hätte ich die Silhouette der Insel vom alten Gosch selbst als Zeichen meiner Furchtlosigkeit verliehen bekommen.
Die Wellen sind klein und das Wasser eisig. Ich ziehe ein paar schnelle Kreise und bleibe deutlich länger im Meer, als ich es ohne die kritischen Blicke meiner daunenbejackten Beobachter getan hätte. Ich blicke hoch zur Sylter Welle, um meinen Großeltern zu winken, doch ein anderes Hochhaus versperrt die Sicht so, dass ich viel zu nah an die todbringende Buhne hätte schwimmen müssen, um sie zu sehen. Wahrscheinlich sitzen sie auch schon längst wieder vor dem Fernseher.
Ich sehe die beiden vor mir, wie sie da so nebeneinanderhocken, und es ist beinahe unmöglich, mir vorzustellen, dass sie ja irgendwann einmal zwei völlig voneinander getrennte Leben geführt haben müssen.
Ihre Symbiose ist so vollendet, dass es ähnlich abwegig scheint, sie mir als Liebespaar vorzustellen. Und dann noch eines mit so wilder, rebellischer Liebe, dass sie nicht einmal Angst vorm Zorn Gottes hatten. Ludwigs Familie hatte den, wie erwähnt, allerdings schon. Die Vermischung von römisch-katholischem mit protestantischem Blut kam vor allem Ludwigs jüngstem Bruder Siegfried als so himmelschreiende Perversion vor, dass er sich schließlich daranmachte, einen der schicksalhaftesten Briefe unserer Familiengeschichte zu schreiben.
Er schloss seine fast zehnseitige Abhandlung über die Verdorbenheit lutherischer Christen im Allgemeinen und meiner Oma Lore im Speziellen mit dem ikonischen Schlusssatz:
»Und solltest Du, Ludwig, trotz alldem an dieser unheiligen Verbindung festhalten wollen, dann sage ich Dir: Du läufst in einen dunklen Kanal, aus dem Du nie wieder hinausfinden wirst.«
Ludwig zog seine eigenen Schlüsse aus dem Brief seines Bruders.
Er konvertierte nur wenige Wochen später, um dann Lore im Sommer darauf zu heiraten. Seine Familie lud er trotzdem ein, es kam aber keiner von ihnen. Obwohl sie im selben Dorf lebten und nur wenige Hundert Meter Luftlinie auseinander, gingen sie sich fortan so großflächig aus dem Weg, dass sie erst einige Jahre später wieder alle aufeinandertreffen sollten. Bei einer Beerdigung.
Lore konnte der Familie ihres Mannes den Bruch nie verzeihen und vergaß vor allem Siegfrieds düstere Prophezeiung nicht. Auch deshalb hatte sie kein Interesse daran, uns anderen zu begleiten, als wir Ludwig zu seinem 70. Geburtstag eine gemeinsame Reise nach Breslau schenkten, um auf den Spuren unserer Ahnen zu wandeln.
Ludwig war noch nie so lange von Lore getrennt gewesen.
Wir übernachteten in der Nähe von Breslau im Haus einer sehr weit entfernten Verwandten, die nach mehreren Schlaganfällen gerade wieder zu gehen gelernt hatte, aber kein Wort mehr sprechen konnte. Dementsprechend fiel es ihr schwer, ihre beiden Hunde im Zaum zu halten, was dazu führte, dass die zwei überall hinpissten und der kleinere, ein fies aussehender Pinscher, sich an Onkel Jacobs Hosenbein verging und zum allgemeinen Amüsement sogar zum Höhepunkt kam.
Wir hingegen bestiegen gemeinsam die Schneekoppe beziehungsweise begondelten sie, und Opa Ludwig schenkte Felix und mir auf dem Gipfel jeweils eine Rübezahlfigur, die einen kleinen Bergkristall in die Höhe hielt. Über viele Jahre hinweg stand sie in meinem Kinderzimmer auf der Fensterbank und verschwand dann irgendwann, wie so viele Dinge, die über die Zeit ihren sentimentalen Wert verlieren und sich scheinbar in Luft auflösen. Wenn noch mehr Zeit vergeht, lädt sich dieser Wert langsam wieder auf, und wenn man sich schließlich wieder nach den Dingen sehnt, sind sie unauffindbar, und man wirft sich vor, ein schlechter Mensch zu sein.
Was ich hier so allgemein formuliere, ist eigentlich nur zu meinem eigenen Schutz, denn natürlich meine ich lediglich mich. Mich und meinen Rübezahl, dem schon auf der Rückreise der Kristall aus der Hand brach und der fortan nur noch in verzweifelter Hoffnung die Hände zum Himmel reckte. Sie würden leer bleiben, bis zu dem Tag, an dem auch er selbst für immer verschwand.
Den Rest des Urlaubs verbrachten Felix und ich vor allem mit der Erforschung von Wetgel, dem Erwerb von Knallplättchen für Spielzeugrevolver und panischer Angst vor Zusammenstößen mit unserer stummen Vermieterin, die uns mit ihren stumpfen Stöhnlauten und ihrer papierdünnen Haut wie ein Gespenst aus einem der Hörspiele vorkam, die wir jeden Abend zum Einschlafen hörten. Die Kassetten, vor allem Die drei ???, hatten früher Jacob gehört, und jedes Mal, wenn wir ihn sahen, überließ er uns wieder ein paar aus seiner Sammlung.
Er war es auch, der bei uns blieb, als der Rest der Familie nach Auschwitz fuhr.
Ich war ungefähr sieben und konnte beim besten Willen nicht begreifen, warum meine Eltern mich nicht mitnehmen wollten. Ich machte einen gigantischen Aufstand, warf mich auf den Boden und schrie: »Ich will aber nach Auschwitz!« Das brachte mir die erste und einzige Ohrfeige meines Lebens von meinem Vater ein. Ich hätte sicher noch öfter eine verdient gehabt, diese aber auf jeden Fall. Jacob fuhr mit Felix und mir in den Zoo und brachte uns Siedler von Catan – Das Kartenspiel bei, was er mir auch zu meinem nächsten Geburtstag schenkte. Ohnehin waren seine Geschenke immer so etwas wie das heimliche Highlight meiner »Wiegenfeste«, wie er Geburtstage wunderbar hochtrabend nannte. Immer waren es Brettspiele, viel zu erwachsene Comics oder Alben von Bands, die ich noch nicht kannte und fortan lieben würde. Zu meinem 18. Geburtstag schenkte er mir eine Discokugel. Auf der dazugehörigen Postkarte stand in seiner kaum leserlichen Schrift:
»Weil der exklusivste Klub der Stadt manchmal nur ein Mitglied hat.«
Ich wusste, dass es das letzte Päckchen sein würde, das er mir zum Geburtstag schickte. Mit meiner Volljährigkeit hatte er seinen Dienst als Patenonkel erfüllt, wir waren fortan wieder nur genauso verwandt wie der Rest der Familie auch.
Ich bildete mir gerne ein, dass uns mehr verband, nur deswegen hatte ich ausgerechnet ihn damals doch auch für meinen genialen Bierflaschenstreich ausgesucht. Erst viel später erfuhr ich, dass ich mit dieser Einschätzung nicht ganz falsch lag. Als Kinder hatten sich die drei Brüder regelmäßig gegenseitig kleine unbedeutende Streiche gespielt, bis zu dem Tag, an dem Onkel Jacob es schließlich völlig übertrieben hatte. Das Werkzeug seiner Übertreibung war zwar etwas subtiler als eine Bierflasche, der Effekt aber umso brutaler.
Er war in den Keller geschlichen und hatte von allen anderen unbemerkt eine Nähnadel meiner Großmutter gestohlen. Diese war länger, dicker und insgesamt stabiler gewesen als die einfachen Stecknadeln in Opa Ludwigs Schreibtischschublade und damit für sein Vorhaben ideal. Mit der Geduld und Präzision eines achtjährigen Terroristen hatte er für die Nadel aus flüssigem Wachs einen stabilen Sockel gegossen, diesen immer wieder Schicht um Schicht verstärkt, bis er schließlich mit seinem Teufelswerk zufrieden gewesen war. Dann hatte er einen kleinen weißen Post-it-Zettel zu einem unscheinbaren Papierhütchen gefaltet, die Nadel im Inneren versteckt und die tödliche Falle etwa einen Kinderschritt vor die offene Terrassentür gestellt.
Mein Vater hatte auf der Veranda gesessen und gemalt, als er Jacobs aufgeregte Schreie hörte. Er hatte seine Stifte fallen lassen und einen Satz ins große Wohnzimmer gemacht. Erst als er Jacobs Gesicht sah, das anders als seine Rufe keineswegs panisch, sondern eher triumphierend dreinblickte, hatte er den Schmerz gespürt. Er hatte seine Ferse abgetastet, dabei das Papier abgerissen und nur noch einen Klumpen aus Wachs gefühlt. Die Nadel war komplett in seinem Fleisch verschwunden. Wäre er nur ein klein wenig anders aufgetreten, die Spitze hätte oben wieder herausgeschaut. Plötzlich war auch Jacobs Blick dann doch ein wenig panisch gewesen. Nachdem Andreas Wachs und Nadel fachmännisch mit einer Pinzette aus der Wunde gepult und unter einem spitzen Schrei meines Vaters mit Einlegealkohol gereinigt hatte, mit dem er sonst Insekten konservierte, einigte man sich darauf, erstens den Eltern nichts von diesem Unfall zu erzählen und zweitens, um weitere Eskalationsstufen zu vermeiden, das Streichespielen auf unbestimmte Zeit auszusetzen.
Die unausweichliche zwischenbrüderliche Gewalt kanalisierten sie fortan vor allem in ihrem selbst erfundenen Spiel »Entenwal«. Die Regeln waren bestechend simpel: Ein Spieler nahm den Fuß eines anderen auf den Schoß und hatte eine Minute Zeit, ihn dazu zu bringen, sich zu bewegen. Von Kitzeln, Kneifen bis hin zu Lecken oder Lutschen war alles erlaubt, um den anderen zu einem Zucken oder auch nur zu einem kurzen Schaudern zu provozieren. Sobald der Fuß sich nämlich regte, galt das Gesetz der Faust. Auf jede Bewegung des Fußes folgte ein wohltemperierter Schlag. Am liebsten schlugen sie mit den Fingerknöcheln direkt auf den Spann oder peilten gezielt einzelne Zehen an, die in der Folge nicht selten blau anliefen. Deshalb war vor allem in der kälteren Jahreszeit Hochsaison für »Entenwal«, wenn man das Spielergebnis anschließend unter dicken, von Oma Lore selbst gestrickten Socken verbergen konnte.
»Entenwal« war mehr als ein Spiel, es war auch ein Versprechen der Verschwiegenheit, ein Geheimbund fürs Leben. Nach einer Minute der endlos scheinenden Folter und oftmals großer Diskussion darüber, was genau als Bewegung galt und was nicht, wechselte man sich schließlich ab. Der rätselhafte Name kam daher, dass der aktive Spieler während seiner Bemühungen unentwegt das Wort »Entenwal« sagen, singen, schreien oder summen musste. Was ein Entenwal ist, können wir nicht wissen. Auch weiß ich bis heute nicht, warum es dieses geniale Konzept noch nicht bis zur Gameshow geschafft hat. Entenwal, Samstag 20.15 Uhr in der ARD , Karl Lauterbach gegen Hella von Sinnen, moderiert von Barbara Schöneberger, kommentiert von Béla Réthy. Wer würde da nicht einschalten?
Ich trockne mich ab und schüttele verwehten Sand aus den Kleidern. Niemand fragt mich, ob es kalt war, also muss ich auch nicht lügen.
Etwas klamm, aber doch nicht unglücklich beginnt für mich das Abendprogramm, wenn auch ohne Entenwal.
Mein Großvater schaut fast jeden Tag Die Rosenheim-Cops. Und das, obwohl er die Sendung eigentlich gar nicht wirklich mag. »Ach, Junge«, sagt er in leidendem Ton und mit sehr ernstem Gesicht. »Immer nur ›Mia ham a Leich‹, das ist doch ätzend irgendwann, oder nicht, oder?« Ich frage mich, wann der Punkt gekommen war, an dem er die bajuwarischen Ermittler nicht mehr ertragen konnte. Denn früher hat er sie immer sehr gemocht, vor allem das »Mia ham a Leich« brachte ihn vergnügt zum Quieken. Er ahmte es gerne in großer Runde nach, mimte in bayrischem Akzent mit breitem schlesischem Einschlag den Kommissar, anschließend klatschte er in die Hände und grinste so breit, dass seine spröden Mundwinkel einrissen und Oma Lore sie ihm wieder für einige Tage morgens dick mit Vaseline eincremen musste, weil er sich selbst so ungeschickt anstellte, dass er die ganze farblose Salbe an die unmöglichsten Stellen und schließlich in sein noch erstaunlich dichtes Haar schmierte. Und kaum waren seine Wunden versorgt, saß er schon wieder vor dem Fernseher.
Aber jetzt, 10, 15, 20 Jahre später, langweilen ihn die immer gleichen Leichen und ungleichen Ermittler. Trotzdem kann er sich nicht von ihnen losreißen. Wahrscheinlich, weil ihm das restliche Fernsehprogramm noch deutlich schlechter gefällt. Am schlimmsten sind für ihn die »schrecklichen Triller«, wie er sie nennt, oder auch Filme mit »mehreren Unbekannten«. Da kommt er einfach nicht mit. Zumindest behauptet er das selbst. In Wirklichkeit macht meiner Meinung nach vor allem seine rasende Ungeduld das Schauen von Thrillern quasi unmöglich. Einmal sahen wir etwa gemeinsam einen Krimi im ZDF , der mit einer Explosion auf einem Segelboot begann. Ein braun gebrannter Mann stürzte dabei verletzt vom Boot und kam scheinbar ums Leben, jedenfalls zeigten Unterwasseraufnahmen sein ausdrucksloses Gesicht und wie sein weißes Hemd sich langsam rot färbte.
Mein Großvater sah das, beugte sich mit zusammengekniffenen Augen vor, strich hektisch das Haar zurück und stöhnte theatralisch auf: »Aber wer ist das denn jetzt? Ist der tot? Und wer war das und warum? Mensch, Junge, ich komme einfach nicht mehr mit bei diesen schrecklichen Trillern.«
»Na ja«, setzte ich an, wurde aber jäh von meinem Großvater unterbrochen, der mich jetzt ernst am Arm packte und eindringlich ansah. »Ambrosius«, sagte er im Tonfall eines Verhörs. »Jetzt sag mir nicht, du weißt das alles.« – »Nein«, sagte ich, »aber eigentlich …«, doch da hatte mein Großvater schon triumphal in die Hände geklatscht und rief: »Lore, hast du das gehört! Die Enkel-Lerge kommt da auch schon nicht mit! Ich bin doch noch von dieser Welt.« Weiterschauen wollte er dann aber trotzdem nicht.
Schlimmer war es nur, als wir in großer Runde gemeinsam Deutschland sucht den Superstar schauten, auf eine gewisse Weise ja auch eine Familiensendung, und da Menschen von 8 bis 80 auf dem Sofa im kleinen Wohnzimmer Platz genommen hatten, kam mir, dem an diesem Abend die Herrschaft über die Fernbedienung anvertraut worden war, eben genau diese Sendung wie ein vernünftiger Kompromiss vor. Außerdem war mein Großvater Sänger aus Leidenschaft, Schriftführer im Westfälischen Sängerbund und Träger der goldenen Sängernadel für seine 50-jährige Mitgliedschaft im Chor. Die Vergabe ebendieser kleinen, aber höchst bedeutsamen Nadel an einen seiner Sangesbrüder hatte vor einigen Jahren zu einem Erdbeben in der Dorfgemeinschaft geführt.
Meine Großmutter schilderte uns anderen die Ereignisse später so: Die Verleihung war bereits beschlossene Sache, und man hatte sich sogar schon auf einen Termin für die offiziellen Feierlichkeiten geeinigt, als mein Großvater in seiner Funktion als Schriftführer noch einmal die Teilnehmerlisten aller Jahreshauptversammlungen der letzten 50 Jahre durchging und dabei das Ungeheuerliche entdeckte. Zwar war der entsprechende Sangesbruder 1966 in den Chor eingetreten, zwischen 1983 und 1985 war er aber kein aktives Mitglied gewesen und hatte auch nicht gezahlt. In einer schnell einberufenen Sondersitzung legte mein Großvater den anderen Sängern den Fall dar, und man kam mit einer leichten Mehrheit zu dem Ergebnis, die Sängernadel könnte unter diesen Umständen erst zwei Jahre später verliehen werden. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Auszuzeichnende in der Zwischenzeit all seinen Pflichten im Verein nachkommen würde, die vor allem darin bestanden, ein etwas zu großes rotes Sakko zu tragen, während man Volksweisen sang und eiskaltes Veltins trank. Der hier Angeklagte hörte sich all das mit hochrotem Kopf an, bevor er ohne ein Wort den Raum und mit zornig quietschenden Reifen den Parkplatz der Gaststätte verließ. Das Nächste, was seine Kameraden von ihm hören sollten, war ein handgeschriebener Brief, den alle Vereinsmitglieder als Fotokopie erhielten. Das Original landete, natürlich, bei meinem Großvater. Der wurde in der krakeligen Handschrift seines ehemaligen Freundes als »Pharisäer« beschimpft, gefolgt von der unnachahmlichen Stilblüte: »Werde ich je wieder singen werden? Die Generalversammlung!« Geschlossen wurde das Pamphlet mit den unsterblichen Worten: »Der Vorstand möge mich hierüber nie wieder ansprechen.« Diese Worte sind bis heute fester Bestandteil der täglichen Kommunikation meiner Familie. Der Vorstand sprach ihn nie wieder darauf an. Und nach allem, was wir wissen, sang der Angeklagte wirklich nie wieder und wurde kurz darauf ohne goldene Nadel an der Krawatte beerdigt.
Das war vielleicht hart, aber was das Singen anging, verstand Opa Ludwig nun mal keinen Spaß. Eben auch nicht bei den hoffnungsvollen jungen und schönen Menschen, die unter der kretischen Sonne vor den Poptitan Dieter Bohlen traten, um ihr Glück zu finden und den Traum von 15 Minuten Ruhm zu leben, den Andy Warhol ihnen irgendwann mal, lang vor ihrer Geburt, versprochen hatte. Gnadenlos zerfetzte er jede Sangesleistung in kurzen, schroffen Tiraden in der Luft. Als aber schließlich eine von ihm männlich gelesene nonbinäre Person mit raspelkurzem Haar, Netzhemd und aufwendig geschminkten Augen die improvisierte Bühne in einer geraniengesäumten griechischen Gasse betrat, wurde es ihm zu viel. Wie eine erschreckte Katze sprang er von seinem Sessel auf und verließ unter nicht identifizierbarem Gemurmel das Wohnzimmer. Felix, der just in diesem Moment von der Toilette zurückgekommen und dem der bleich entgeisterte Ludwig schlurfend auf dem Flur entgegengekommen war, übersetzte es uns schließlich. Mit zerzaustem Haar, ins Leere blickenden Augen und Abscheu in der Stimme hatte mein Opa fast tonlos gesagt: »Die Welt steht kurz vorm Niedergang.«
Früher wäre ich nicht auf die Idee gekommen, mein Großvater könnte homophob sein. Als er noch regelmäßig gemein zu mir war, wusste ich noch nicht, was das sein sollte, und später hatte ich ihn gemeinsam mit meinem Cousin Felix wahrscheinlich nach und nach zu einer skurrilen Kunstfigur verklärt, die zwar spleenig war, aber keinen bösen Knochen im Körper hatte. Wir hatten seine cholerischen Anfälle nicht erlebt, die das kleine Haus regelmäßig zum Erzittern brachten, als mein Vater und meine Onkel noch Kinder waren. Und die Geschichte, wie alle drei Jungs ihn hatten zurückhalten müssen, weil er nach einer Nacht in der Kneipe auf die wutschnaubende Lore losgehen wollte, war heute nur noch eine lustige Anekdote. »Jungens!«, hatte er gerufen. »Ich bin noch stark.«
Wir hatten uns entschieden, über ihn und mit ihm zu lachen und uns zu freuen, dass wir nicht mehr regelmäßig Zielscheibe seiner spitzen Bemerkungen waren. Wir taten ihm sogar den Gefallen, in den Reihen der Jungschützen beim Schützenfest mitzumarschieren, was keiner seiner drei Söhne jemals für ihn getan hatte. Nicht einmal 1994, als er selbst schließlich zum König gekrönt wurde und ich trotz meiner Unkontrolliertheit zusammen mit der etwas älteren Enkeltochter meines Großonkels Hartmut in der Kutsche mitfahren durfte.
Fast 20 Jahre später besuchten meine Großeltern mich in Berlin.
Anlass war die Hochzeit der ältesten Tochter einer Familie, für die meine Großmutter ebenfalls fast 20 Jahre lang als Haushälterin gearbeitet hatte. Für die Mädchen war meine Oma Lore »Tante Lore« und gleichzeitig auch so etwas wie eine Ersatzmutter. Lore empfand das genauso. Was sie bei ihren Jungs manchmal an Herzlichkeit vermissen ließ, brachte sie diesen Mädchen von Anfang an mit Leichtigkeit entgegen.
Und jetzt würde eine von ihnen heiraten. Ein großer Anlass also, auch für meine Oma, doch mein Großvater weigerte sich, mitzukommen. Denn das Mädchen, das mittlerweile eine erfolgreiche Sportjournalistin Mitte 40 geworden war, heiratete eine andere Frau.
Er finde das ätzend, sagte mein Großvater bei einem gemeinsamen Abendessen.
Ich versuchte darüber zu lachen, aber der Ekel in seiner Stimme verschlug mir den Appetit.
In unserer aller Abwesenheit muss Lore jedoch später ein Machtwort gesprochen haben, denn nur drei Monate später standen sie schließlich doch beide bei mir auf der Matte. »84 Stufen«, sagte mein Großvater zur Begrüßung. Auch seine Angewohnheit, zu jeder möglichen Gelegenheit Treppenstufen zu zählen, hatte ich in meiner Kindheit einmal für einige Zeit als zartes Band unserer Freundschaft zu übernehmen versucht, es aber schnell wieder verworfen, weil Zahlen und körperliche Anstrengung zwei Dinge vereinten, für die ich nie besonders viel übriggehabt hatte, die ich an den meisten Tagen regelrecht verabscheute. Mein Großvater hingegen schien diese Art von Information, wenn er irgendwie an sie herankommen konnte, jeder Form von Begrüßungsfloskeln vorzuziehen.
Sie hübschten sich in meinem winzigen Badezimmer auf, das wieder innerhalb von Sekunden wie ihr eigenes roch, und erlaubten mir in diesem Fall sogar, ein Taxi zu rufen. Dann brachen sie vorfreudig (Lore) und skeptisch (Ludwig) zu den Feierlichkeiten auf.
Ich wurde davon wach, wie mein Großvater den Flur betrat und fassungslos »Jetzt sind es 86« murmelte. Sekunden später saß er schnaubend und mit roten Wangen auf meiner Bettkante, während meine Großmutter sich im frisch annektierten Badezimmer mit Kräuterzahnpasta die Zähne putzte.
»Lerge«, sagte er. Er schien entgegen seinen eigenen Erwartungen einen wirklich guten Abend gehabt zu haben. »Da waren so viele Homosexuelle. So viele. Und die haben getanzt. Toll.«
Sogar er selbst hätte mit einem anderen jungen Mann eine Rumba getanzt, und es hatte ihm erstaunlich viel Spaß gemacht. Auch wenn er natürlich betonen musste, dass er in dieser Konstellation nicht die Dame gewesen war. Das Einzige, was ihn an diesem Abend wirklich nachhaltig gestört hatte, war, dass es keinen einzigen Tropfen Schnaps gegeben hatte. »Nur Bier und Wein«, sagte er und schüttelte den Kopf. Das hatte bei ihm dann doch ein letztes kleines, aber entscheidendes bisschen Misstrauen gegenüber den Menschen mit dieser anderen, für ihn unbegreiflichen Sexualität bewahrt. Nur ein kurzer Jägermeister oder Doppelkorn oder Bärenfang trennte ihn an diesem Abend von der Heilung seiner lebenslangen Homophobie.
Heute trinkt er gar keinen Schnaps mehr, und auch das Bier, das er Lore mit Engelszungen aus dem Kreuz geleiert hatte, um es zu seiner Sendung zu genießen, ist fast noch voll, als sie den Fernseher ausschaltet. Sie fragt uns nicht, ob wir noch etwas schauen wollen. Die Messe ist für heute gelesen, der Tag ist um, Widerworte gibt es nicht.
Meine Großmutter hat mir, wie gesagt, verboten, ein Hotelzimmer zu buchen.
Das sei doch nicht erforderlich, hatte sie schon gedonnert, bevor ich mich auch nur getraut hatte, die kleinste Andeutung in diese Richtung final auszuformulieren. Wenn jemand in ihrem Beisein Geld verschwenden will, dann wittert sie das sofort, und einiges ist sie bereit zu opfern, um diesen schrecklichen Zustand zu vermeiden. Unter anderem meinen erholsamen Schlaf. Dass sowohl meine Großeltern als auch ich durchaus die Mittel besitzen, um selbst bei den überteuerten Sylter Preisen eine gemütliche Unterkunft für mich zu buchen, spielt dabei absolut keine Rolle. Es ist schließlich nicht erforderlich, und so wird mir in einer Ecke des Zimmers ein Bett aus harten Sofakissen, Jacken und Sonnenliegenunterlagen hergerichtet, auf dem ich die nächsten Tage werde schlafen müssen, wenn ich nicht einen Staatsstreich anzetteln oder wegen Meuterei aus der Familie verstoßen werden will. Ich tue also, was erforderlich ist, rolle mich in meiner Ecke zusammen und schlafe tief und traumlos ein. Mitten in der Nacht werde ich davon wach, dass meine Großmutter mich fürsorglich mit einem großen Strandhandtuch zudeckt. Der Frotteestoff kratzt an meinem Handrücken.