Ich wache mit Kopfschmerzen auf und lege mich noch für eine halbe Stunde ins vorgewärmte Bett meiner Großeltern, während die beiden schweigend frühstücken.
Als ich nach einem kurzen Nickerchen erneut erwache, steht Ludwig vornübergebeugt über dem Bett und hält mein Telefon in der Hand. »Also, hiermit kann man senden und empfangen?«, fragt er mich, als wären wir bereits mitten im Gespräch, während ich mir fahrig mit dem Handrücken halb getrockneten Speichel aus dem Mundwinkel zu reiben versuche.
»Genau«, sage ich. Wir führen dieses Gespräch bei jedem meiner Besuche. Seine Faszination für meine technischen Geräte will nicht abreißen und hat eine ähnliche Qualität wie die Euphorie, mit der Arthur Weasley sich in der Harry-Potter -Reihe über nicht magische Gegenstände mit ihm unerklärlicher Funktion erfreut. Nur dass in diesem Szenario ganz klar ich der Zauberer bin.
»Oahr«, sagt mein Großvater und klatscht in die Hände. »Senden UND empfangen! Es ist unwahrscheinlich!«
»Jaha«, sage ich und rappele mich auf. Seine Begeisterung macht mich selbst etwas übermütig. »Und das Teil kann noch viel mehr! Sag mir ein Lied!«
Mein Großvater sieht mich mit gerunzelter Stirn an, das kommt ihm jetzt doch ein bisschen zu magisch vor. »Ja woher soll ich denn wissen, was da für Lieder drin sind?«
»Da sind alle Lieder drin, Oppa.«
Sein Blick verfinstert sich noch mehr.
Drohend hebt er einen knorrigen Zeigefinger: »Lerge, verarsch mich nicht.«
»Mach ich nicht, sag einfach ein Lied.«
»›Eine Nacht in Venedig: Komm in die Gondel‹«, sagt er mit einer leichten Provokation in der Stimme, die ich aber mit einem Lächeln im Gesicht überhöre.
»›Eine Nacht in Venedig‹«, wiederhole ich langsam, während ich tippe, und finde schnell eine Version, gesungen von Fritz Wunderlich.
Schon bei den ersten Tönen schmilzt die Skepsis meines Großvaters dahin, was bleibt, ist blankes Entzücken. »Lerge, ach Lerge«, gluckst er, bevor er mit bebendem Vibrato einsteigt: »Hab ich an Bord dich, dann stoße ich freudig vom Land, führe eilig dich hinüber zum schönen Strand.« Bis auf kleinere Lücken singt er den ganzen Text fehlerfrei mit. Kaum ist der letzte Ton verklungen, weicht die Euphorie aber schon wieder der Angriffslust.
Dieses Internet soll ihm erst einmal beweisen, was es draufhat. »Haben sie denn auch ›Land des Lächelns‹?«
Ich tippe emsig, Ludwig zieht kritisch seine Augenbrauen hoch, nur um sie mit einem Jauchzen fallen zu lassen, als der erste Ton des zweiten Stückes erklingt, wieder in einer Version vom wunderlichen Fritz. Wieder singt er, und als das Lied sich dem Ende nähert, sagt er ergriffen und als ob es ihm genau in der Sekunde nach Jahren des Grübelns endlich wieder eingefallen wäre, dieses Mal jedoch frei von jedem Misstrauen: »Lerge, guck mal, ob sie ›Komm in die Gondel‹ haben, ›Eine Nacht in Venedig‹.«
Ich nehme an, dass es sich um einen Witz handelt, und spiele beflissentlich mit, tippe und suche, doch als ich das Stück zum zweiten Mal an diesem Tag anspiele, merke ich, dass er es scheinbar zum allerersten Mal hört. Ich ahne, was jetzt kommt, und tatsächlich folgt wieder der völlig spontan wirkende Wunsch, das ›Land des Lächelns‹ zu suchen, und das Ganze spielt sich in genau dem gleichen Rhythmus noch etwa fünfmal ab, bis meine Großmutter vom Balkon aus das Zimmer betritt und mich zur Kupferkanne abkommandiert. Fritz Wunderlich hört mitten im Satz auf zu singen. »Mensch, schade«, seufzt Ludwig.
»Ich hätte gerne noch gewusst, ob ›Land des Lächelns‹ auch da drin ist.«
Als wir an der Kupferkanne ankommen, ist die Schlange unendlich lang und bewegt sich auch nach einer halben Stunde gar nicht, weshalb ich meiner Großmutter vorschlage, auf den To-go-Schalter umzuschwenken. Sie ist widerwillig, doch mit der Aussicht auf baldigen Kuchen stimmt sie zu.
Als wir an der Reihe sind, erstarren meine Großmutter und ich plötzlich und synchron. Die Verkäuferin bemerkt unsere Schockstarre und blickt uns nicht nur fragend, sondern auch etwas besorgt an. Sie ist viel zu jung, eher in meinem Alter. Auch besteht nach allem, was wir wissen, nicht wirklich eine Ähnlichkeit. Sie hat weder die schmalen Lippen noch die charakteristische Stupsnase, noch hat sie den von der Seite meines Großvaters stammenden Kreuzbiss, der uns alle immer etwas wütender aussehen lässt, als wir es wirklich sind.
Aber sie trägt ihren Namen. Auf dem kleinen hässlichen Metallschild steht er in klaren schwarzen Buchstaben, unmissverständlich und erbarmungslos. Ein einfacher, schöner, kein ungewöhnlicher Name und trotzdem setzt er uns beide für einen kurzen Moment völlig außer Gefecht.
Meine Großmutter ist die Erste, die sich wieder fängt. »Bestell du mal, ich such uns einen Platz.«
Ihre Wangen sind noch fester, ihre Züge noch strenger als sonst, sie scheint im wahrsten Sinne des Wortes die Zähne zusammenzubeißen. Ich strecke meine Hand aus, um sie an der Schulter zu berühren, aber da hat sie sich schon an dem Rest der langsam etwas unruhig werdenden Schlange vorbeigedrängelt und ist in zügigem Schritt aus meinem Sichtfeld verschwunden.
»Ist alles okay?«
Die Kellnerin scheint jetzt wirklich besorgt zu sein. Mir würde es wahrscheinlich genauso gehen, wenn zwei völlig Fremde bei meinem Anblick ohne erkennbaren Grund zu kreidebleichen Salzsäulen erstarrt wären.
»Zwei Cappuccino, ein Stück Käse-Aprikose und ein Stück Kirschstreusel bitte.«
Sie stockt kurz, wirkt für einen Moment fast etwas beleidigt, dass ich ihr nicht mein Herz ausgeschüttet habe, setzt sich dann aber in Bewegung und drückt mir nach wenigen Minuten die fertige Bestellung in die mittlerweile schon fast nicht mehr schwitzigen Hände. Ich widerstehe dem unbändigen Drang, mich überschwänglich bei ihr zu entschuldigen, bedanke mich stattdessen und mache mich an einer kopfschüttelnden Kuchenschlange vorbei auf die Suche nach meiner Großmutter.
Lore sitzt im heruntergetretenen hohen Gras, wie eine stolze alte Katze, in ihrer todschicken lila Fleecejacke. Ihren Regenponcho hat sie unter sich ausgebreitet, auf ihrer rechten Seite ist noch genügend Platz für mich.
Das Wasser ist von hier aus ziemlich weit weg, aber sie schaut trotzdem in die Richtung, halb aus Trotz, halb aus Melancholie wahrscheinlich.
Ich bleibe stehen und sehe sie an, wie sie aufs unscharfe Meer blickt, ich bin mir sicher, dass sie mich schon bemerkt hat. Aber in stiller Übereinkunft entscheiden wir, den Moment noch etwas hinauszuzögern, in dem wir über das Geschehene würden reden müssen.
Sie hatte mit mir noch nie wirklich über Sonja gesprochen, und ich war fast erwachsen gewesen, als ich überhaupt davon erfuhr, dass ich eine Tante gehabt hatte. Dass es nicht nur die Gräber ihrer Eltern sind, die Lore fast täglich auf dem Friedhof pflegt, sondern dass da noch ein anderes, ein kleineres, ein fast schon winziges Grab ist.
Ein Grab, so winzig, wie keines jemals sein sollte: Gräber sind für ganze, für fertige, für weit gereiste Menschen gedacht, nicht für Menschchen, wie Sonja es war, als sie starb.
Plötzlicher Kindstod mit anderthalb, meine Großmutter, damals jünger als ich heute, fand sie am Morgen tot in ihrem Gitterbett.
Die Polizei stellte Ermittlungen an, ohne Ergebnis, zurück blieben nur Fassungslosigkeit und ein diffuses Gefühl von Schuld. Und dieses Grab, das es nicht geben dürfte.
Ein Jahr später kam Andreas zu Welt, dann mein Vater Martin und schließlich Jacob. Jeder für sich gleichermaßen ein Wunder wie wunderlich. Sie surften und kifften, schleppten Eulen an und froren Dachse ein. Sie machten Musik und tranken zu viel und hängten sich statt Pin-up-Girls ein gigantisches Periodensystem ins Jugendzimmer. Sie zogen aus und zogen weiter, sie heirateten, zeugten Kinder, Andreas ließ sich zweimal scheiden und zeugte noch einige weitere Kinder.
Über 50 Jahre lang zog der Tod im Hause meiner Großeltern den Kürzeren.
Bis er uns alle noch einmal überraschen sollte, so kalt und beschissen, wie nur der Tod das kann.
Immer wenn das Telefon klingelt und die Nummer meiner Eltern auf dem Display erscheint, bin ich mir sicher, dass irgendetwas Schlimmes passiert sein muss. Und mit jedem anlasslosen Anruf scheint die Wahrscheinlichkeit auf einen mir unausdenkbaren Anlass schließlich auch nur noch weiter zu steigen. Irgendwann würde notgedrungen eine Katastrophe dabei sein, schließlich kenne ich in meinem Alter auch wirklich niemanden, der noch alle seine Großeltern hat.
Oma Lore hatte, wie gesagt, zweimal Hautkrebs, das war natürlich ein Schock, aber sie hat ihn schließlich auch zweimal besiegt und scheinbar mittlerweile nicht nur aus ihren Zellen, sondern auch aus ihrem Gedächtnis verdrängt.
Als Opa Ludwig im Tropenkrankenhaus mit Malaria und ums Überleben kämpfte, war ich noch zu jung, um zu verstehen, was das wirklich bedeutete. Ich wunderte mich nur ein bisschen darüber, wie dünn er plötzlich war, und über die seltsam gelbstichige Haut, und ich hatte Mitleid, weil der Arzt ihm sagte, er dürfe jetzt kein Bier mehr trinken. Und obwohl Ludwig sich in den kommenden Jahren an recht wenigen Tagen an diese Weisung hielt, bekam ich doch nie einen Katastrophenanruf, bei dem sein Name fiel.
Stattdessen kam einer, mit dem ich so wenig gerechnet hatte, dass das Ausmaß der Katastrophe mir erst viel später bewusst wurde.
Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Ich konnte die Schwere dieser Diagnose nicht wirklich einschätzen, aber allein der Klang dieses Wortes gruselte mich. Doch Jacob war ja noch jung, der würde das wegstecken; wenn einer von uns, dann er. Er würde ein paar Monate lang in Behandlung sein, vielleicht die letzten Haare verlieren, lakonische Witze machen, und dann wäre er schon wieder okay. Oder? Er wäre doch okay dann?
Mein Vater fing am Telefon an zu weinen.
»Sieben Monate«, sagte er.
Als er auflegte, dachte ich immer noch, das wäre die Zeit, die er brauchen würde, um wieder gesund zu werden.
Eine Woche nach dem Anruf fuhr ich mit Felix und Andreas nach Bremen, um Jacob und seine Familie zu besuchen. Es war genauso schön wie immer, nur dass es das natürlich nicht war. Noch sah man ihm kaum etwas an, doch sein Blick hatte sich verändert, und auf der Toilette, wo sonst immer nur Bände mit satirischen Cartoons und philosophische Kurzlektüren gelegen hatten, fand ich gleich drei Bücher, die sich mit dem Tod befassten.
Wir spielten Siedler an diesem Abend, und wir lachten und erinnerten uns erst wieder an den Anlass unseres Besuchs, als Andreas nach mehreren Flaschen Rotwein das Requiem von Mozart aus Jacobs Plattenschrank kramte und auflegte.
Es gelang mir auch bei keinem der darauffolgenden Besuche, das Unfassbare zu fassen, ich wurde immer unsicherer, wie ich Jacob, seiner Frau und seinen Kindern gegenübertreten sollte. Was sagte man?
Bei meinem letzten Besuch, Andreas und mein Vater waren auch da, saßen die drei Brüder irgendwann auf dem kleinen Sofa und weinten. Sie hielten sich in den Armen und machten kaum Geräusche dabei, ich beobachtete sie mit meiner Mutter vom Frühstückstisch aus und bekam keine Luft. Plötzlich stapfte Andreas’ damals fünfjährige Tochter Johanna mit ihrem ganz eigenen heiligen Trotz ins Zimmer.
»Warum weint ihr?«
»Weil das manchmal alles ist, was man machen kann.«
»Oaah! Das ist doch langweilig.«
Schnaufend und seufzend verließ sie das Zimmer.
Die Brüder lachten. Dann weinten sie wieder.
Ich erinnere mich an eine Frage, die meine Ex-Freundin mir beim großen finalen Streit an den Kopf warf: »Wen von diesen ganzen Leuten würdest du eigentlich mögen, wenn es nicht deine Familie wäre?«
Die Antwort auf diese schreckliche, auf diese unendlich ungerechte Frage wäre wahrscheinlich immer »Jacob« gewesen.
Mein Onkel Jacob, dem ich eine Bierflasche über den Kopf gezogen hatte, um ihn mit meinem Humor zu beeindrucken. Jacob, der auf jede Frage eine philosophische und wunderbar uneindeutige Antwort parat hatte. Der jedes Lied der Welt, von Werbejingles aus den Siebzigern bis Grungesongs aus den Neunzigern, auf der Gitarre spielen konnte. Jacob, der sich selbst Zigaretten aus einem Tabakbeutel mit einem Löwenkopf darauf drehte und deshalb immer so roch wie die so herrlich duftende Tabakabteilung im Supermarkt, bevor die Packungen dann irgendwann in seelenlose Automaten gesperrt wurden. Jacob, der eine Band hatte, deren Lieder ich auswendig lernte und deren Mitglieder ich unbeholfen am Schreibtisch meines Vaters mit Kugelschreiber auf Druckerpapier zu malen versuchte. Jacob, der für mich Kassetten mit seinen Lieblingsliedern aufnahm und mich in seinen Geburtstagskarten, die ich alle stolz aufbewahrte, immer weihevoll mit »Werter Neffe« ansprach. Jacob, der alle Philosophen gelesen hatte, von denen ich höchstens schon einmal gehört hatte. Jacob, der Felix und mir auf einer Familienfeier, ohne Fragen zu stellen, einen Joint drehte, weil wir selbst zu aufgeregt und unbeholfen waren, um das hinzukriegen. Jacob, der mich mit zwölf auf eine Party mitnahm, wo mir ein völlig betrunkener und sehr langhaariger Freund von ihm drei Stunden lang etwas über die Genialität von Morrissey erzählte. Jacob, der mir daraufhin alle CD s von den Smiths brannte und mich außerdem in seinen Platten nach Alben suchen ließ, die mich interessierten. Jacob, wegen dem ich selbst mit 14 Jahren eine Band gründete und der mir einen der stolzesten Momente meines Lebens schenkte, als er später mit einem T-Shirt ebendieser Band auf einem unserer mittelmäßig besuchten Konzerte auftauchte. Jacob, dem ich immer gefallen, dem ich immer imponieren wollte, von dem ich aber nie wusste, was er eigentlich wirklich von mir hielt. Jacob, der mit mir Die fetten Jahre sind vorbei im Kino sah und auf dem Rückweg mit einem Polizisten aneinandergeriet, weil wir mit Rädern ohne Licht unterwegs waren. Jacob, dessen Satz »Jetzt haben sie mich belehrt, jetzt reicht es aber auch« ich Jahre später bei einer Demo wiederholte und der mir dort einen saftigen Platzverweis einbrachte. Jacob, der mir als Allererster zeigte, wie man ein Curry macht. Jacob, wegen dem ich bis heute Fan von Werder Bremen bin, auch wenn ich es kaum noch schaffe, mir die Spiele anzusehen. Jacob, der meinem Cousin Felix, meiner Schwester Anka und mir in unserem letzten gemeinsamen Familienurlaub in Breslau mitten in der Nacht Döner und Pommes spendiert hat. Jacob, der uns beobachtete, wie wir bekifft und ausgehungert alles verspeisten, und dabei so grinste, wie nur er es konnte, melancholisch und schelmisch zugleich. Jacob, der schließlich immer weniger lachte, immer bleicher wurde, den die Chemotherapie langsam aufschwemmte. Jacob, der Stremellachs immer geliebt hatte, ihn den »König der Räucherfische« nannte und dann jenen, den sein Bruder Andreas ihm einen Tag vor der Katastrophe aus Norwegen mitgebracht hatte, nicht mehr herunterbekam. Jacob, der nicht sterben wollte und es trotzdem tat.
Er wurde in einem Friedwald in der Nähe von Bremen beerdigt. Die Familie kam aus allen Himmelsrichtungen, auch Verwandte, von denen ich entweder gar nicht wusste oder die ich als Kleinkind zum letzten Mal gesehen und in der Zwischenzeit wieder vergessen hatte. Die Brüder meines Großvaters kamen, ich hätte sie auf der Straße niemals erkannt.
Ich sah auch Jacobs Frau und seine beiden Kinder an diesem Tag das erste Mal seit seinem Tod und hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ich mich verhalten sollte. Mein Beileid auszudrücken, kam mir distanziert und klinisch vor, gleichzeitig klischeehaft, kitschig und feige. Jedes persönliche Wort pathetisch und unangebracht. Dafür, was man sagt, wenn jemand stirbt, den man lieb hatte, hat die Menschheit noch keine passende Lösung gefunden, jedenfalls keine, von der ich jemals gehört hätte.
So tieftraurig und erschüttert ich war, kam ich mir außerdem albern dabei vor, dass ich schon beim Aussteigen aus dem Auto meine Tränen nicht zurückhalten konnte, schließlich ging es nicht um mich. Ich hatte vielleicht einen Onkel, andere aber hatten einen Vater oder Ehemann verloren. Oder schon zum zweiten Mal in ihrem Leben ein Kind. Jacob hätte an dieser Stelle wahrscheinlich gesagt, dass man das ja eigentlich nicht wirklich so sehen könne. Dass Trauer nichts Messbares war, nichts, wozu eine Partei mehr recht hatte als eine andere, so was hätte Jacob gesagt, dabei vielleicht außerdem etwas umständlich eine Zigarette gedreht und dann schmunzelnd gewartet, was wir darauf erwidern würden.
Aber Jacob war nicht mehr da.
Als auf dem Waldparkplatz jede Parkbucht besetzt war und die Autos ihre schwarz gekleideten und beschirmten Insassen auf den feuchten Rindenmulch gespuckt hatten, machten wir uns langsam auf den Weg. Als ich meine Großeltern sah, wie sie vorweggingen, auf einmal tausend Jahre alt, beieinander eingehakt, um sich irgendwie zu halten, um nicht auseinanderzufallen, daneben Jacobs Frau, die Lores Hand hielt, und seine Tochter und sein Sohn, auf der anderen Seite mit der Mutter eng verschlungen, war ich mir nicht sicher, ob ich das hier würde aushalten können, schämte mich aber sofort für den Gedanken, dafür waren wir ja schließlich hier. Um das Unaushaltbare zumindest symbolisch unter uns aufzuteilen.
All meine Überlegungen, wie ich mich am besten verhalten sollte, erübrigten sich, als die Trauergemeinde sich in einem großen Halbkreis auf der Waldlichtung versammelt hatte, auf der neben groben Holzbänken auch eine kleine Musikanlage stand. Die Alten setzten sich auf die wenigen Plätze, wir anderen kamen hinter ihnen zum Stehen.
Andreas hielt als Erster eine Rede, dann sprach ein enger Freund von Jacob. Ganz in seinem Sinne gab es keinerlei christliches Brimborium.
Schließlich trat mein Vater nach vorne. Er trug seine Gitarre unter dem Arm, an die er sich auf dem Weg zu klammern schien wie ein Ertrinkender an ein Stückchen Treibholz. Als er endlich vor uns stand, wirkte er plötzlich ganz ruhig und sicher. Er hatte während der beiden vorangegangenen Reden viel geweint, seine Augen blitzten rot hinter den kleinen Brillengläsern, aber als er anfing zu sprechen, klang seine Stimme nicht brüchig.
»Als ich 16 war«, sagte er, »war mein Bruder Jacob erst 14, aber er konnte schon Gitarre spielen. Ich habe ihn gefragt, ob er es mir beibringt, und das hat er dann auch getan. Ich konnte nie so gut spielen wie er, aber ich würde heute gerne das erste Lied singen, das wir damals zusammen gespielt haben.« Er räusperte sich, machte eine etwas zu lange Pause, in der er sich sichtlich Mühe gab, sich zu sammeln. Dann begann er zu spielen.
»So, so you think you can tell
Heaven from hell.«
Ich habe bis heute keine Ahnung, wie er das schaffte. Wahrscheinlich war ihm das Lied in den letzten 40 Jahren in Fleisch und Blut übergegangen.
»Did they get you to trade
Your heroes for ghosts?«
Wenn ich an meinen Vater denke, dann denke ich immer an dieses Lied, er spielte es in meiner Kindheit fast jeden Abend, und von all den Stücken, die er immer wieder sang, war es mein liebstes gewesen.
»How I wish, how I wish you were here
We’re just two lost souls
Swimming in a fish bowl
Year after year
Running over the same old ground
What have we found?
The same old fears
Wish you were here.«
Er würde es nach diesem Tag nie wieder spielen.
In diesem Moment, im Friedwald im Nieselregen vor fast 100 weinenden Menschen, hatte er Jacob das Lied zurückgegeben.
Es sprachen noch einige andere, bevor wir aufbrachen, um die Urne an ihren Platz zu bringen. Das letzte Wort hatte aber jemand anderes. Es knackte kurz in den Boxen der Anlage, bevor ein Lied zu spielen begann. Ich erkannte es sofort, die meisten von uns taten das, spätestens als der Gesang einsetzte, wussten alle Anwesenden, womit wir es zu tun hatten. Es war Jacob selbst, der da sang. Klar und verschmitzt. Albern und weise. Er sang ein Lied, das er selbst geschrieben hatte, bevor er von dem Tumor in seinem Bauch wusste, und das doch auf gespenstische Weise hellsichtig gewesen war.
Wir standen da und wussten nicht weiter. Und Jacob sang:
»Das ist alles eindeutig zu viel
Der Gang der Dinge lässt sich nicht besiegen
Ich unterlasse ab jetzt jedes Ziel
Und lasse einfach alles stehn und liegen
Ich mache nur noch halbe Sachen
Ich kann nicht alles selber machen
Ich mache nur noch grobe Skizzen
Ich werde sie in Bäume ritzen
Ich mache nur kleine Andeutungen
Ich vertrau auf andre Zungen
Verfolge nur noch kleine Spuren
Plane keine großen Touren
Ich kann nicht alles selber machen
Geschweige denn zu Ende machen
Das Lied ist schwer genug
Piss Symbole in den Schnee
Sag leise Servus, wenn ich geh
Lass Samen fallen in den Sand
Springe lässig aus dem Stand
Und fall ich hin
Dann bleib ich liegen
Ich kann die Schwerkraft nicht besiegen
Und wär ich auch unendlich schlauer
Nichts, was ich tät, wär je von Dauer
Das ist alles eindeutig zu viel
Der Gang der Dinge lässt sich nicht besiegen
Ich unterlasse ab jetzt jedes Ziel
Und lasse einfach alles stehn und liegen.«
Nach Jacobs Tod hatte sich die Dynamik unserer Familienzusammenkünfte schlagartig verändert. Wir alle schienen müder, Lore schlief kaum noch, und mein Vater sagte noch weniger als ohnehin schon.
Wir waren schon immer eine Bande heimlicher Melancholiker gewesen, aber gemeinsam war es uns immer ganz gut gelungen, Leichtigkeit heraufzubeschwören, auch wenn manchmal die Zuhilfenahme von Detmolder Landbier und Honigschnaps dafür notwendig gewesen war. Jetzt wirkten wir befangen, wenn wir uns trafen, auch die gemeinsamen Urlaube wurden weniger, bis sich schließlich niemand mehr darum kümmerte und sie ganz ausblieben.
Mit Jacob waren wir im Kleinwalsertal gewesen und im Schwarzwald, zuletzt noch einmal in Polen. Jetzt blieben wir zu Hause, und das feste Band, das unsere Familie einmal verbunden hatte, begann langsam auszufransen.
Lore und Ludwig hatten sich das Lied von der Beerdigung auf eine CD brennen lassen, aber es nie wieder angehört. Wenn wir von Jacob sprachen, begann meine Großmutter zu weinen, und Ludwig kramte plötzlich hektisch in einem Stapel Papiere, den er wie einen Schutzpanzer überall mit hinschleppte. Wenn er ihn zu fassen bekam, knallte er ihn auf den Tisch und sagte: »So, jetzt reden wir nicht mehr darüber. Lasst uns doch eine Runde Stadt, Land, Fluss spielen. Ihr glaubt gar nicht, wie lehrreich das ist.«
Aber jetzt ist kein Ludwig da, keine Hauptstadt mit L, kein Name mit X, nur meine Großmutter, die katzengleich im hohen Gras sitzt und so tut, als würde sie mich nicht bemerken. Ich reiße mich aus meiner eigenen Starre los, setze mich wortlos neben sie und reiche ihr Kaffee und Kuchen, Servietten und eine der schwarzen Plastikgabeln, wegen denen ich auf halben Weg noch einmal umgekehrt bin. Wir schweigen weiter und essen. Ich traue mich kaum, sie anzusehen, bemerke aber irgendwann, dass die Kau- und Schlürfgeräusche einem anderen, fast unhörbaren Geräusch gewichen sind. Meine Großmutter weint leise in ihren Käsekuchen.
Für ein paar Momente bin ich wie versteinert, bis ich mich traue, sie in den Arm zu nehmen.
Und so sitzen wir da, Verstoßene der Kupferkanne mit verschwommenem Meerblick, gesäumt von Strandhafer auf einem pinken Regenponcho, und einer von uns weint ein bisschen und der andere ein bisschen mehr. Wir sagen für ziemlich lange Zeit kein Wort, und trotzdem ist es so, als hätten wir all das, was ich sie immer fragen wollte, in diesem Moment besprochen.
Irgendwann ringe ich mich dazu durch, doch etwas zu sagen, und entscheide mich für die unkitschigste Plattitüde, die mir einfällt:
»Es tut mir so leid.« Ich meine das genau so.
»Ach«, meine Großmutter zuckt mit den Schultern, »das muss es gar nicht. Ich tu mir ja selber schon leid genug.«
Sie lacht ein wenig, als sie das sagt, gluckst zwischen den Tränen.
»Na, das darfst du ja aber auch«, sage ich und grinse etwas verlegen.
»Oder?«, sagt sie und putzt sich mit einer Kupferkannen-Serviette geräuschvoll die Nase. »Da hab ich doch wohl Zeit zu?«
Da lachen wir beide. Wir halten uns noch im Arm, bis der Hunger obsiegt, dann essen wir den zugegebenermaßen köstlichen Kuchen bis zum letzten Krümel, werfen noch einen Blick dorthin, wo das Meer sein könnte, und machen uns auf den Weg zurück nach Westerland.