Tag drei

»Was nimmst du da eigentlich für Dinger?«

Ich überlege, ob ich sie anlügen soll, entscheide mich dann aber dagegen.

»Antidepressiva.«

»Wie bitte?«

»Antidepressiva.«

»Ja, das hab ich schon verstanden, aber das darf doch wohl nicht wahr sein.«

»Wieso nicht?«

»Du bist doch nicht depressiv!«

»Doch.«

»Jetzt schon?«

»Wie meinst du das?«

»Du bist doch noch keine 30.«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

»Deshalb bist du auch so fett geworden.«

 

Nach dem Essen will ich abwaschen, aber meine Großmutter lässt mich nicht.

In Wahrheit habe ich genau darauf spekuliert, ich habe nur antäuschen wollen in der stillen Hoffnung, dass sie genau das sagen würde, was sie nun sagt: »Jetzt ruhst du dich erst einmal aus, und dann gehen wir runter zur Strandmuschel.«

»Gibt es da heute was?«

»Jaha.«

»Was gibt es denn?«

»Woher soll ich das denn wissen?«

»Du meintest doch, da gibt es heute was.«

»Jetzt hör mit dem blöden Zeug auf, da gibt es immer was. Und jetzt leg dich hin.«

Ich bin mir nicht sicher, ob ich meiner Großmutter jemals widersprochen habe, jetzt aber ist nicht der richtige Zeitpunkt. Ich bin wirklich so müde »wie mehrere Hunde«, wie mein Cousin Felix sagen würde.

Die Strandmuschel, eine Westerländer Institution, eine Art offene Bühne direkt am Strand, hat mich in den vergangenen 20 Jahren nicht ein Mal enttäuscht.

Sie mutet ein wenig an wie die Oper von Sydney für Arme. Nur eben für Reiche. Während der Saison kann man hier fast täglich den zärtlichen Klängen von bundesweit berüchtigten Coverbands oder Shantychören lauschen, während man sich auf harten weißen Plastikbänken fläzt und gierige Möwen mit durchweichten Eiswaffeln füttert.

Wenn man nicht aufpasst, dann reißen die Viecher einem das Eis sogar direkt aus der Hand, so wird es zumindest erzählt. Ist mir aber leider noch nie passiert.

 

Über die Jahre hinweg haben meine Großeltern immer dann, wenn ein Auftritt in der Strandmuschel sie besonders mitgerissen hatte, nach dem Konzert direkt bei den Künstler*innen eine CD erworben. Ihre liebsten stapeln sich in der Küche neben dem alten Radio, wobei mein Opa sicher »neues Radio« sagen würde, immerhin hat es einen CD -Player. Innen auf die Booklets hat er mit Kugelschreiber das Datum und den Preis geschrieben, es befriedigt ihn ungemein, über diese Dinge Buch zu führen. Selbst wenn er mal etwas geschenkt bekommt oder zu einem Essen eingeladen wird, vermerkt er an der jeweiligen Stelle in seinem Tagebuch statt der sonst exakt niedergeschriebenen Summe das Kürzel »OBE «. Ohne Bezahlung erhalten.

Meine Lieblingsabkürzung von ihm ist jedoch »ILS «. Die verwendet er aber eher mündlich vor dem Essen oder auch um eine besondere Vorfreude auszudrücken. Jetzt zum Beispiel, während ich meinen Kopf aufs Kissen lege, um mich mental für unsere musikalische Expedition zu stärken, ist er mit hoher Wahrscheinlichkeit schon in höchstem Maße »ILS «. In Lauerstellung.

 

Ich irre mich. Ludwig will nicht mitkommen. Nach drei Minuten des unruhigen Wälzens entscheide ich mich schließlich gegen einen Mittagsschlaf. Ich habe mir vorgenommen, auf dieser Reise die Zeit mit meinen Großeltern effektiver als sonst zu nutzen, in Berlin habe ich schließlich wieder genügend Zeit, mich zurückzuziehen, mich einzuigeln, abzukapseln und Tage und Wochen zu verschlafen. Sylt ist selten genug, und mein leicht eiernder Großvater macht mich zusätzlich etwas unruhig.

Außerdem ist das Zimmer wirklich winzig, und ich halte den Gedanken nicht aus, meine Großeltern in ihrem eigenen Urlaub zur absoluten Regungslosigkeit zu verdammen, nur damit ich ungestört ein paar Stunden die Augen ausruhen kann. Ich werde mich durch die Müdigkeit kämpfen, und ein Shantychor und zwei Kugeln drittklassiges Vanilleeis werden mir dabei helfen.

 

»Also«, setzt meine Großmutter wütend an, als ich es wage, meinen Kopf vom Kissen zu erheben.

»Ich hab’s mir überlegt, wir gehen jetzt.«

»Also«, sagt sie wieder, dieses Mal aber in einem ganz anderen Tonfall, keine Spur mehr von Wut, ihre Stimme ist eher erfüllt von Aufbruchsstimmung und Entdeckergeist. Sie hat bereits ihre lila Fleecejacke übergezogen. Meine Großmutter, denke ich in diesem Moment, hat mehr Arten, das kleine Wörtchen »also« auszusprechen, als die Inuit Wörter für Schnee.

Oder die Deutschen Arten von Wurst.

»Komm, Ludwig«, sage ich und schlage meinem Großvater etwas zu doll zwischen die Schulterblätter, sodass er fast den Westfälischen Anzeiger fallen lässt.

»Lerge-box«, sagt er streng. »Gemach, gemach.«

»Der blöde Kerl bleibt hier«, sagt meine Großmutter, »der will immer nur seine alte Zeitung lesen. Aber ist auch gut so, dann kannst du seine Kurkarte nehmen. Ludwig, gib sie ihm mal eben.«

Mein Opa macht Anstalten, die schmale weiße Papierkarte aus der Brusttasche seines weinroten Hemdes zu fummeln, was ihm aber nicht gelingen will. Schon zwei seiner massiven Finger sind so breit, dass das Manöver nicht nur erfolglos bleibt, sondern die Tasche außerdem einzureißen droht.

»Lerge, Lerge, Lerge.« Jetzt ist er zornig. Lore macht zwei Schritte nach vorne, schlägt ihren Handrücken auf seine Bärenfinger, zaubert die etwas in Mitleidenschaft gezogene Karte mit einem gezielten Griff hervor und hält sie mir hin.

»Also.« Spitz, fordernd, ungeduldig, wütend ob der von mir verursachten Verzögerung der Operation.

 

Mein Großvater blieb auch früher schon gerne zu Hause, wenn meine Großmutter und ich an den Strand gingen. Neben der obligatorischen regionalen Wochenzeitung mitsamt aller darin enthaltenen Werbebroschüren schleppte er außerdem dicke Wälzer mit in den Urlaub, die sich ausschließlich mit dem Dritten Reich, seiner alten Heimat Schlesien und/oder der Flucht befassten.

»Man nimmt sich überall mit hin«, sagte mein Onkel Jacob einmal zu mir, als ich ihm nach dem Abitur erzählte, ich wolle die »ganze Scheiße« hier hinter mir lassen und nach Portugal ziehen oder eigentlich egal, Hauptsache, weit weg.

»Man nimmt sich überall mit hin.« Ich habe das erst viel später verstanden, wie das meiste, was Jacob mir sagte. Und selten war es anschaulicher als bei meinem Großvater, der seine eigene unverdaute und wahrscheinlich auch unverdauliche Vergangenheit in Form von diesen zentnerschweren Schinken nach Kroatien, auf die Balearen oder eben bis nach Wenningstedt trug.

Mittlerweile reichen seine körperlichen Kräfte nur noch für die Zeitung samt Broschüren, sich selbst nimmt er aber trotzdem noch mit beziehungsweise lässt er sich selbst auch manchmal ganz gerne zu Hause.

»Lerge, ich habe so viele Chöre gesehen, geht ruhig ohne mich.«

Ein sicherlich richtiger, irgendwie aber auch ziemlich beunruhigender Satz von jemandem, der eine goldene Sängernadel besitzt und zu jeder Gelegenheit ein Lied auf den Lippen hat.

Wenn die ganze Familie beisammen ist, etwa nach dem Abendessen, verschwindet er oft erstaunlich wendig in seinem Arbeitszimmer, um wenig später mit leicht vergilbten Gesangsblättern zurückzukommen, die er hektisch unter uns verteilt. Keine Sekunde sollte mehr unbesungen verstreichen.

Also sangen wir. Onkel Jacob und mein Vater begleiteten uns dabei oft auf der Gitarre. Das Lieblingslied von meinem Cousin Felix und mir war immer eine fürchterlich makabre Ballade über einen russischen Feldherrn, der seine eigene Frau in die Wolga wirft, um mit diesem Opfer ein Unwetter zu besänftigen.

Davor sieht er ihr »einmal noch ins Auuuugeeeeee«, dann stößt er sie vor seiner johlenden Mannschaft erbarmungslos in den Tod. Geniale Unterhaltung für die ganze Familie.

Ich habe von diesem Lied einige Versionen im Internet gefunden, jede davon verehrt den alten Frauenmörder als absoluten Staatshelden, aber keine ist nur halb so makaber wie die auf dem Textblatt meines Großvaters. Keine Ahnung, woher er diese Version hatte, vielleicht war sie ja sogar heimlich von ihm selbst geschrieben worden.

Die über 20 Strophen schließen schließlich absolut episch mit den Zeilen:

»Lasst uns feiern, ihr Kosaken, sie ist tot, ich will es so.«

 

»Komm schon, Oppa. Sie singen bestimmt auch das Wolgalied.«

Schlagartig scheint sein körpereigenes »ILS «-System reaktiviert. Aufgeregt klatscht er in die Hände.

»Lore, hast du das gehört?«

»Natürlich habe ich das gehört. Ich stehe doch genau neben dir. Was denkst du eigentlich manchmal?«

»Der Junge kennt das Wolgalied.« Interessiert beugt er sich zu mir vor. »Darf ich dich fragen, woher du das kennst?«

»Mensch, woher wird er das wohl kennen?«

»Lore, gemach, gemach. Lass den Jungen antworten.«

Gespannt sieht er mich mit aufgerissenen Augen an, als wäre ich ein seltenes Insekt.

»Na, ich kenne das von dir, Oppa.«

Wieder klatscht er in die Hände und gluckst: »Ja! Ja! Fein!«

Hektisch streicht er sich mit seinen Grizzlyhänden das schüttere Haar fest am Kopf zurück, setzt sich eine Schiebermütze aus grauer Wolle auf und schlüpft in seine Schuhe, bevor ich meine überhaupt anhabe.

»Ambrosius«, sagt er mit großer Geste, als er die Tür des Apartments öffnet. »Lore! Wir machen zur Strandmuschel.«

 

Am Kurtaxeschalter sitzt gerade niemand, was meine Großmutter gleich wieder etwas entspannt. Seit wir die Wohnung verlassen haben, wirkt sie auf mich etwas missmutig, was ich darauf schiebe, dass ich durch meine Aktion dafür gesorgt habe, jetzt doch Strandnutzungsgebühr bezahlen zu müssen, anstatt mich einfach unbemerkt mit Ludwigs Karte durchzumogeln. Ich halte Ludwigs Mitkommen in diesem Fall für sehr erforderlich, auch wenn er unsere kleine Reisegruppe im nächsten Moment schon wieder verlässt, um an der Strandpromenade eine Toilette zu suchen.

»Mein Gott«, sagt meine Großmutter und setzt sich in einer vornehmen Bewegung und mit einer Körperhaltung, von der ich nur träumen kann, auf eine der weißen Bänke in der Mitte des Westerländer Amphitheaters aus Plastik und Beton.

 

Mein Großvater hat sich als Bankwart des Heimatvereins jahrelang um den Erhalt aller Bänke im Umkreis seines Dorfes gekümmert. Dies tat er rein ehrenamtlich, hatte dafür aber leider nicht einmal an einer dieser Bänke eine goldene Plakette oder etwas in der Art erhalten. An seinem 70. Geburtstag, ich war selbst ungefähr zehn, hatten wir die Idee, ihm die gemeinsame Reise zu seinen schlesischen Wurzeln nicht einfach nur plump zu überreichen, sondern stattdessen ein Quiz darum zu veranstalten. Opa Ludwig als Kandidat, Felix und ich als zwei Teile eines Günther Jauch. Im Vorfeld war man sich darüber einig gewesen, dass die Fragen nicht zu schwer sein dürften, da mein Großvater zu diesem Zeitpunkt des Abends wohl schon einige Herrengedecke verhaftet haben würde. Leider scheiterte die Operation beinahe schon bei der ersten Frage, die da lautete: »In welcher Farbe werden die Bänke des Heimatvereins traditionell gestrichen?« Die Antwort, die Felix und ich auf unseren Karteikärtchen in umständlicher Kinderschrift notiert hatten, obwohl wir sie uns auch sehr leicht hätten merken können, war schlicht und einfach »Grün« gewesen. Ludwig aber, der sich wirklich schon in ordentlichem Schwanken seinem Kandidatenstuhl genähert hatte, saß nun völlig angespannt da und fuhr sich hektisch mit den Händen durch die Haare.

Wir hatten dieses Schauspiel schon öfter erlebt. Und zwar immer dann, wenn der echte Günther Jauch es wagte, seinen Kandidaten eine Frage mit popkulturellem Bezug zu stellen. In diesen Momenten brach Ludwigs mit dem Alter etwas milder gewordene Cholerik teils ungebremst aus ihm heraus.

»Das kann doch kein Mensch wissen. Wer weiß denn so was? Lore, weißt du das?«

Genau diesen Ludwig hatten wir also vor versammelter Festtagsgesellschaft nun alle vor uns sitzen. Er murmelte und fluchte und bekam sich gar nicht mehr ein.

Wir sahen erst uns, dann unsere Mütter und schließlich unsere Väter Hilfe suchend an. Im Hirn meines Opas brodelte es. Plötzlich durchzuckte ihn offenbar eine Erkenntnis. Wie von Sinnen brüllte er: »Acetandreihypergranatexsulfin!«

»Falsch«, schrie ich, aber das ging im allgemeinen Tumult aus Grölen und Applaus völlig unter. Mein Großvater war durch die geistige Anstrengung schlagartig ausgenüchtert und beantwortete alle anderen Fragen ohne besondere Vorkommnisse.

Wir zogen das restliche Quiz dann auf Drängen unserer Eltern bis zum Ende durch. Als wir fertig waren und mein Großvater den Gutschein für die Reise mit bebender Unterlippe entgegennahm, kämpfte ich meinerseits auf der Gasthoftoilette mit den Tränen. So wie ich es sah, hatte mein Ludwig die erste Frage nicht richtig beantwortet und wäre somit schon frühzeitig aus dem Spiel ausgeschieden, der Gewinn stand ihm also einfach nicht zu. Die Ungerechtigkeit war für mich kaum auszuhalten, und ich trug dieses negative Gefühl noch lange mit mir herum, während sich über die Zeit immer mehr Scham hinzumischte ob meiner eigenen Kleinlichkeit.

 

Das Programm hat noch nicht begonnen. Immer mehr Rentnerinnen und Rentner, viele paarweise mit den gleichen hochpreisigen Wind- und/oder Trekkingjacken, strömen von der Strandpromenade und aus Richtung der Fußgängerzone in den mittlerweile schon gut gefüllten Zuschauerbereich. Ludwig ist noch nicht da.

»Der kommt auch so schnell nicht wieder«, sagt meine Großmutter, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

»Das ist die Wassertablette, da muss er ewig pillern. Das Erste, was der macht, egal, wo wir sind, ist, die Toilette zu suchen.«

»Wassertablette?«, frage ich.

»Wassertablette«, sagt meine Großmutter. »Das ist aber nur eine von zwölf, die er jeden Tag nimmt. Beziehungsweise, die ich ihm gebe.«

Sie hebt einen Finger, um das zu unterstreichen. »Ohne mich wäre er aufgeschmissen, sagt er immer, und es stimmt ja auch. Dass er das mal einsieht.«

»Und du?«, frage ich vorsichtig. »Nimmst du eigentlich auch noch irgendwas?«

Die Vorsicht war berechtigt, Oma Lore schnaubt verächtlich.

»Ich nehme ganz bestimmt nichts. Das brauche ich auch gar nicht. Ich war ja in meinem Leben noch nicht krank. Werde ich auch nicht mehr. Mich müssen sie irgendwann totschlagen.«

»Omma, du hattest Krebs«, sage ich, »zwei Mal.«

Sie tut so, als ob sie mich nicht hört, aber allein wegen Jacob will ich auch nicht länger auf dem Krebsthema herumreiten. Wieder einmal bin ich mir unsicher, ob ich meine Großmutter unmöglich oder genial finden soll, und entscheide mich für beides. Und, das Thema zu wechseln.

»Und, wie geht es dir damit? Mit Ludwig, meine ich. Mit dem, wie er jetzt ist.«

»Wie soll es mir damit gehen? Es ist halt so. Irgendwann ist man nichts mehr wert. So ist das eben.«

»Andreas hat gesagt, Ludwig würde etwas tüddelig werden, stimmt das?«

»Der soll nicht so einen Quatsch erzählen. Oppa ist fast 90, da muss der erst mal hinkommen. Obwohl es schon anders ist.«

Wir beide schweigen. Ich traue mich nicht, weiter nachzufragen. Ich grusele mich vor dem, was sie mir erzählen würde, viel mehr aber davor, was es bedeutet.

Ich beschließe erneut, das Thema zu wechseln, dann tut es jemand anders für mich.

 

»Hallo Westerland. Wir sind euer Shantychor Hiersfeld – Sonne im Herzen, die Nordsee im Blick –, und wir freuen uns sehr, heute für Sie singen zu dürfen. Eins – zwo – drei – vier!«

»My bonnie is over the ocean.« Das Lied macht mich jedes Mal traurig, weil ich dabei immer an Bonnie, den alten Hund meiner anderen Großeltern, denken muss. Daran, dass er von meiner Urgroßmutter mit Butterkeksen gefüttert wurde, bis er es nicht mehr schaffte, die Treppe zu benutzen. Daran, dass er kurz darauf gestorben war, dass auch meine Uroma schon fast 20 Jahre nicht mehr lebte und in der Zwischenzeit auch ein zweiter Hund längst gestorben war. Daran, dass auch die Eltern meiner Mutter bald sterben würden, wahrscheinlich ohne dass ich sie vorher noch mal sehe. Daran, dass ich nie anrufe, dass ich mich nicht für sie interessiere und sie sich nicht für mich. Daran, dass ich froh sein sollte, noch alle Großeltern zu haben. Daran, dass ich das gar nicht zu schätzen weiß.

Daran, dass ich mich auch bei Lore und Ludwig viel zu selten melde, immer erst anrufe, wenn ich einen verpassten Anruf mit unterdrückter Nummer auf dem Display sehe, weil das niemand anderes als Oma Lore sein kann.

Daran, dass ich ein schlechter Enkel, ein schlechter Sohn und ein selbstmitleidiges Arschloch bin, in beliebiger Reihenfolge. An Bonnie, an Butterkekse, Theresia, den toten Hund Leo, mich, mich, mich, Harald, Gerda, Lore, Ludwig. Ludwig.

»Der ist aber jetzt schon ganz schön lange weg.«

»Mein Gott. Du wolltest ja unbedingt, dass er mitkommt.«

»Soll ich mal gucken, wo er bleibt?«

»Na dann, mach.«

Ich steige an kopfschüttelnden Rentern vorbei, die nicht fassen können, dass mich die Darbietung des Shantychors Hiersfeld nicht vor Begeisterung in den Sitz drückt. Ich drängele mich so durch und nicke hier und da entschuldigend, was eigentlich auch eine recht treffende Beschreibung meines bisherigen Lebenswegs ist, und komme schließlich vor der Bühne zum Stehen.

Sofort ergreift eine winzige Dame, die trotz ihres Gehstocks erstaunlich beweglich zu sein scheint, meine Hände und fängt an, mich herumzuwirbeln. Der Chor ist mittlerweile vom doch recht depressiven »Bonnie« zum schmissigeren Hamburger Viermaster gewechselt.

»Blow boys, blow! To Californio!«

Mit einer kalten, knochigen Hand hält die Dame mich wie in einem Schraubstock, dreht und schiebt mich her und hin und pikst mir mit den spitzen Fingern ihrer freien Hand im Takt in die Rippen. Lieder, in denen irgendetwas mit Amerika vorkommt, machen mich immer so wahnsinnig melancholisch, ich kann gar nicht sagen, warum. Ist es, obwohl oder gerade weil ich noch nie den Sprung über den Großen Teich gewagt habe, tatsächlich sogar noch nie über Europa hinausgekommen bin? Anders übrigens Oma Lore. Die war vor ungefähr 20 Jahren wirklich nach »Californio« geflogen, wie die bärtigen Männer in den lustigen Hemden es gerade für uns singen.

Alleine, ohne Ludwig und vor allem ohne ein Wort Englisch sprechen zu können, ist sie in ihrer Funktion als »Tante Lore« nach San Francisco geflogen, um dort das älteste Mädchen der Familie zu besuchen, für die sie so lange als Haushälterin gearbeitet hatte. Die hatte dort nämlich ein Sportstipendium bekommen und sich nichts mehr gewünscht als einen Besuch meiner Großmutter. Und auch wenn es ihr einiges an Mut und Überwindung abverlangte, kam Tante Lore sofort. Die eigentlichen Eltern des Mädchens waren den ganzen Zeitraum über zu beschäftigt gewesen, oder sie fürchteten sich vor dem Langstreckenflug, was Lore übrigens auch tat, sie aber nicht von ihrem Vorhaben abhalten konnte.

Die Bilder meiner Großmutter, braun gebrannt mit großer schwarzer Sonnenbrille und weißen Caprihosen vor der Golden Gate Bridge oder mitten auf dem Rasen in einem gigantischen leeren Baseballstadion, hatten mich immer schon wahnsinnig gerührt, sogar bevor ich wirklich verstand, warum eigentlich. Die Zusammenhänge verstand ich erst sehr viel später, was aber auch daran lag, dass über bestimmte Themen in meiner Familie einfach nicht gesprochen wurde. Was das anging, war selbst bei uns, trotz der gefrorenen Dachse im Kühlschrank und anderer obskurer Eigenheiten, alles beruhigend normal. Oder eben beunruhigend. Hätte ich früher von Sonja gewusst, hätte ich nicht nur früher die Rührung etwas mehr begriffen, die mich beim Anblick meiner gut gebräunten mutigen USA -Touristinnen-Oma befiel, sondern auch ein paar andere Dinge, das Wichtigste davon: meine Großmutter an sich.

 

»There is plenty of gold, so I am told on the banks of Sacramento.«

Applaus. Verbeugung, die Schraubstock-Omi lässt mich los, aber nicht, ohne sich vorher noch einen Handkuss zu erschleichen. Ihre Handcreme schmeckt nach Kamille. Ich blicke hoch zu meiner Großmutter und kann aus der Ferne erkennen, wie peinlich ich ihr bin. Dabei habe ich in diesem Fall nun wirklich keine Wahl gehabt. Wenn der Teufel mit dir tanzen will, dann tanzt du. Ich suche in der Tasche meiner Jogginghose nach einem Kaugummi, um den Geschmack loszuwerden, finde aber keins. Ich winke meiner Großmutter noch kurz zu, und bevor ich sehen kann, wie sie so tut, als wäre ich ein durchgeknallter Fremder, setze ich die Suche nach meinem Großvater fort.

 

Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte unserer Familie, dass Familienmitglieder verschwanden und wieder eingesammelt werden mussten. Mein Onkel Jacob war es, der die Eule Otus zurückbrachte. Es war Silvester, wahrscheinlich so ungefähr Anfang der Achtzigerjahre, und irgendein rotznäsiges Nachbarskind fand es lustig, das arme Tier in den Nachthimmel zu schicken, während dort römische Lichter und polnische Raketen um die Wette explodierten.

 

Otus war eine kroatische Zwergohreule. Mein Vater und seine Brüder hatten sie nach einem ihrer Sommerurlaube im Medulin in einem alten Schuhkarton an den unaufmerksamen Grenzbeamten vorbeigeschmuggelt, die wohl viel zu sehr damit beschäftigt gewesen waren, unverzollte Zigaretten aufzuspüren, um eine kleine Eule zu finden. Es war ein wirklich schöner Sommer gewesen, wahrscheinlich der schönste bisher, zumindest für meinen Vater, der vor dem Urlaub sein erstes eigenes Surfbrett geschenkt bekommen hatte.

Zuvor war er nur auf dem heimischen Stausee gesurft, jetzt rief der Ozean, außerdem die Sonne und süßer, schwerer Wein, den die Familie spät in der Nacht gemeinsam aus der Flasche getrunken hatte, um nach dem Abendessen nicht noch einmal abspülen zu müssen.

Mein Vater, den ich in meinem ganzen Leben vielleicht drei Mal wirklich besoffen gesehen habe, hatte in dieser sagenumwobenen Nacht von allen am meisten getrunken. Er war glücklich gewesen. Als er aber schließlich in seinem Schlafsack zu liegen gekommen war, der Kopf leicht abschüssig, die Beine leicht angewinkelt, um dem Körper ein klein wenig Halt und Stabilität zu simulieren, hatte ihm Andreas mit seiner Taschenlampe mitten ins Gesicht geleuchtet. »Für einen Backfisch bist du ganz schön blass«, hatte er gelacht. Er selbst hatte es irgendwie geschafft, in dem Moment mit dem Trinken aufzuhören, als die Wangen gerade noch rot gewesen waren, bevor sich das Blut aus dem Kopf anderswohin verteilt hatte, wie bei meinem Vater, dem Stauseesurfer auf großer Fahrt, dem braun gebranntesten Geist Europas.

»Wenn du die Augen zumachst«, hatte Andreas weiter gesagt, »was passiert dann?«

Er hatte das wahrscheinlich im gleichen Tonfall gefragt, mit dem er auf späteren Familienausflügen die Anwesenden dazu aufgefordert hatte, Bäume am Blatt und Vögel am Schrei zu identifizieren. Mein Vater hatte Mühe gehabt, zu sprechen, die Zunge war schwer und der Mund so trocken gewesen, dass die Lippen von innen zusammenklebten.

»Es dreht sich.«

»Was dreht sich?« Andreas ließ bei diesen Dingen nicht so leicht locker.

»Alles«, hatte mein Vater gesagt und die Augen fast panisch wieder aufgerissen. »Alles alles.«

»Aha«, hatte Andreas darauf geantwortet. »Das ist gut. Dann kommt er jetzt. Der Kotz.«

Und kaum hatte mein Vater sich mit letzter Kraft aus dem Schlafsack geschält und aus dem Zelt geschleppt, kam er wirklich, der Kotz. Und als mein Vater fertig gewesen war und er sich im Kegel von Andreas’ Taschenlampe sein Werk hatte ansehen wollen, da hatte er Otus entdeckt. Otus hatte in unmittelbarer Nähe des gigantischen Flecks gesessen, der kleine Vogel hatte sich wohl aus schierer Panik nicht getraut, vor meinem kotzenden Vater zu fliehen, und war wie durch ein Wunder unbefleckt geblieben.

Andreas, der dazugekommen war, hatte schnell geschlossen, dass das Jungtier von seiner Mutter verstoßen worden war, und beschloss, erstaunlich sachlich und ziemlich frei von jeglicher Sentimentalität ihren Platz einzunehmen.

Er war es auch gewesen, der der Eule den Namen Otus gegeben hatte, was ich lange für ein erstaunlich rührseliges Detail hielt, bis ich irgendwann im Biologieunterricht über den lateinischen Namen dieser besonderen Eulenart stolperte. Unter Wissenschaftlern, und das war Andreas damals schon, hieß die Zwergohreule schlicht Otus scops. Auch all seinen Katzen gab er in den kommenden Jahrzehnten den Namen Felis, und hätte ihn niemand davon abgehalten, hätte er wahrscheinlich jedes seiner vielen Kinder abwechselnd Homo und Sapiens genannt.

In diesem Moment in diesem Sommer aber hatte er Otus als Erster unter seine nur oberflächlich nüchternen und heimlich sehr fürsorglichen Fittiche genommen.

Er hatte das durch den Sturz und den Kotz gleichermaßen traumatisierte Tier gesund gepflegt, es mit Mehlwürmern gefüttert, und als für die durchfrittierte Familie schließlich der Tag der Abreise kam, war aus dem wilden Otus ein völlig handzahmer Vogel geworden. Und weil sein grau geflecktes Federkleid mittlerweile so sehr nach Mensch gerochen hatte, dass er ohne die Mehlwurmsubvention der braun gebrannten Brüder unter seinesgleichen wohl in große Schwierigkeiten geraten wäre, hatten sie beschlossen, ihn mitzunehmen.

Otus hatte die Reise im Schuhkarton gut überstanden und war in den Wochen und Monaten darauf zu einem festen Bestandteil der Familie geworden. Die Nächte hatte er in der Voliere verbracht, dem späteren Todestrakt des weißen Störtebeker-Hahns, am Tag hatten ihn die Jungs fliegen lassen, allerdings zum Leidwesen meiner Großeltern ausschließlich im Haus, wo er überall hingeschissen hatte und außerdem genug Federn verloren hatte, um pro Woche ein großes Daunenkissen zu füllen.

 

Man fragt sich natürlich, wie ausgerechnet meine penible Großmutter den Dreck und den Gestank ertragen konnte, der auch nach ausgiebigstem Putzen noch in allen Räumen hing. Die Antwort darauf ist aber ganz einfach. Otus brauchte ein Zuhause, er hatte Hunger, und auch er konnte beim allerbesten Willen nichts dafür, dass meine Großmutter ihn nicht mochte. Er war nun mal eine Eule und musste Eulensachen machen. Und jeder noch so zermürbende Tag mit Otus endete stets mit dem gleichen versöhnlichen Ritual.

Wenn die Familie allabendlich vor dem Fernseher Platz nahm, setzte sich Otus erwartungsvoll oben auf das schwere alte Röhrengerät und legte den Kopf schräg. Und immer dann, wenn schon niemand mehr damit rechnete und man ob der Moderationskünste von Rudi Carrell oder Wim Thoelke schon fast vergessen hatte, dass eine immer hungrige Zwergohreule anwesend war, zog Andreas einen einzelnen Mehlwurm aus der Tasche und streckte seinen Arm samt Wurm in die Höhe. Pfeilschnell stürzte sich Otus auf sein winziges Beutetier, flog elegant einen Bogen und nahm wieder auf dem Fernseher Platz, wo er sich mit dem einen Vogelfuß festhielt, während er sich mit dem anderen seinen Feierabendsnack zu Gemüte führte. Sein Publikum klatschte und johlte, und alle waren kurz glücklich. Die Menschen vergaßen den beißenden Gestank und die Federn im Milchreis, und die Eule vergaß, dass das kleine Wohnzimmer meiner Großeltern nicht ihr heimischer Nadelwald war.

 

Und dann kam Silvester.

 

Jacob war nur in Hausschuhen nach draußen gegangen, um nach Otus zu sehen. Der eisige westfälische Wind der letzten Dezembernacht brannte auf seinen nackten Kinderfersen.

Er hatte sich vorgestellt, was für eine Angst Otus haben musste, wie er wohl in diesem Moment die Welt sah, ob er Raketen, Heuler und römische Lichter für rasend schnelle, grell leuchtende Vögel hielt, die am Nachthimmel zerplatzten, als wären sie dort oben mit einer unsichtbaren Kuppel kollidiert.

Die Hosentaschen seines Pyjamas hatte er prall mit Mehlwürmern gefüllt, die sich jetzt, da er seine Hände dazugesteckt hatte, um seine kalten Finger wanden. Ein lebendiger Handschuh, aussichtlos dem Tode geweiht, geboren nur, um in den Klauen eines zugegebenermaßen recht niedlichen Ungeheuers zu sterben. Um vom erbarmungslosen Schnabel zerrupft, im Eulenmagen verdaut und dann zum Beispiel auf einem Fliesentisch ausgeschissen zu werden.

Jacob jedenfalls schlich, mit Würmern reich beladen, ums Haus herum und gelangte so zur Voliere, deren Tür zu seinem Schreck weit offen stand. Von der kleinen, flauschigen Eule Otus keine Spur. Panik und Trauer machten sich in ihm breit und mischten sich mit der Angst, er selbst hätte die Türe offen gelassen, und einem Schamgefühl, das schon sicher davon ausging, dass er es gewesen war. Dass seine eigene Unbedarftheit für das Verschwinden verantwortlich war. Dass er Otus auf dem Gewissen hatte.

Eigentlich war es völlig ausgeschlossen, Otus zu finden.

Der Fakt, dass Otus ein Vogel war, dann noch ein nachtaktiver und nicht mal Sky the Limit war, machte es fast unmöglich, den kleinen Piepmatz zu orten. Jacob spielte sicher in die Karten, dass er ein Kind war und dementsprechend noch mit Hoffnung gesegnet, die sich bei uns allen mit den Jahren abnutzt, die Kinder sind süß, die Alten sind bitter.

Ein anderer Vorteil war, dass Andreas eine fanatische Begeisterung für jede mögliche Art von Vogelruf hatte.

Den Eulenschrei des Otus hatten die drei Brüder unter seiner strengen Anleitung stundenlang geübt. Wenn man so wollte, war das für Andreas, der später Professor Dr. werden sollte, seine allererste Biologievorlesung.

 

Jacob also rief nach Otus, besser noch, er schrie.

Nicht als Menschenkind, sondern als Eulenvater. Immer den Moment zwischen der letzten und der nächsten Explosion am Himmel abpassend, hoch und spitz.

Nach jedem Schrei hielt er kurz inne und horchte zwischen alldem Knallen und Poltern nach einer Antwort. Wo auch immer er hinkam, wurde er von johlenden Dorfbewohnern begrüßt, die ihm zu seinem Pyjama gratulierten. Einige davon boten ihm sogar alkoholische Getränke an, aber Jacob ließ sich nicht von seiner Mission abbringen. Die ersten Minuten hatte er noch um Otus geweint, die Eulenschreie halfen ihm jetzt, die Tränen zurückzuhalten. Er hoffte still und bangend, dass Otus sich nicht in den Nachthimmel gestürzt und womöglich noch von irgendeinem Feuerwerkskörper getroffen worden war.

Immer wieder schaute er ängstlich in den Himmel, in jeden Busch und jeden Baum, immer wieder rief er.

Der Rest der Familie hatte mittlerweile Otus’ Verschwinden bemerkt, vor allem aber Jacobs. Er hörte ihre Rufe und ärgerte sich, dass jetzt noch ein Geräusch dazugekommen war, das die Kommunikation zwischen ihm und Otus erschwerte. Immer weiter entfernte er sich deshalb von den Rufen, ihm ging es ja schließlich gut, niemand musste sich um ihn Sorgen machen. Was jedoch die kleine Eule anging, wollte er keinesfalls Zeit mit unnötigen Erklärungen verlieren.

Der Himmel hatte noch nicht aufgehört zu explodieren, als Jacob schließlich am äußersten Rand des Dorfes ankam, da, wo die Bienenwiese meines Großvaters lag. Mittlerweile war er von all den Eulenschreien schon ganz heiser, viele hatte er nicht mehr in sich, das spürte er, vielleicht waren es noch fünf.

Eins.

In der Ferne hörte er Oma Lore seinen Namen rufen, es hatte sich Verzweiflung in den zuerst noch tadelnden Ton gemischt.

Zwei.

Er folgte einer inneren Eingebung und machte sich am Gatter der Bienenwiese zu schaffen. Wie immer klemmte das blöde Ding. Aber hatte er nicht gerade etwas gehört?

Drei.

»Was machen Sie hier? Kommen Sie mit«, Jacob blieb fast das Herz stehen, als jemand eine kalte Hand auf seine Schulter legte. Dann leuchtete ihm eine Taschenlampe ins Gesicht. »Ich hab dir doch gesagt, dass er das ist«, sagte Andreas und lachte, Martin ließ die Taschenlampe enttäuscht etwas sinken.

»Wir haben gewettet. Martin hat gesagt, es wäre Otus, der da schreit, aber ich erkenne doch meinen kleinen Bruder«, er kniff Jacob in die eisige Wange. Martin kämpfte noch ein wenig mit seiner Enttäuschung.

»Aber immerhin geht’s dir gut. Mama hat schon Sorge, dass sie dich in die Luft gesprengt haben.«

Vier.

Die drei Jungs sahen sich an. Auch wenn es einigermaßen dunkel war, nachdem mein Vater die Taschenlampe ausgeschaltet hatte, waren sie doch sicher, dass gerade keiner von ihnen geschrien hatte.

Fünf.

»Jetzt seid doch mal ruhig«, sagte Andreas und legte verschwörerisch einen Finger auf die Lippen.

»Wir haben doch gar nichts …«

»Schhh«, machte Andreas und öffnete mit einem gekonnten Griff das Gatter zur Bienenwiese.

Die eine Hand noch immer an den gespitzten Lippen, schlich er nach vorne, die anderen folgten ihm.

Sechs.

Das Rufen kam näher, oder besser: Sie kamen dem Rufen näher. Wenn es Otus war, dann konnte er nicht mehr weit entfernt sein. Doch es folgte kein siebter Schrei. Sie warteten einige quälend lange und eisig kalte Minuten ab, aber was immer sich da auf der Bienenwiese herumtrieb, es schien plötzlich verstummt zu sein.

»Los«, sagte mein Vater zu seinem kleinen Bruder und stupste ihn mit der Lampe an. »Ruf ihn noch mal.« Auch Andreas hatte innegehalten und nickte.

»Martin hat recht, deiner ist am besten.« Tatsächlich hatten ihn gerade beide auf einmal gelobt, aber um das zu feiern, blieb nun wirklich keine Zeit.

Jacob konzentrierte sich, sammelte noch ein wenig Speichel im Mund und ließ ihn seine raue Kehle hinunterlaufen. Er räusperte sich leise und stieß den besten Eulenschrei seines bisherigen Lebens aus. Besser hätte Otus selbst es nicht hinbekommen.

Otus antworte.

Reflexartig hatte mein Vater die Taschenlampe wieder eingeschaltet und leuchtete in den Kirschbaum, von wo der zweitbeste Eulenruf des Abends gekommen war, und sofort reflektierte das Licht in zwei großen gelben Augen.

Otus hatte sich auf einem Ast zusammengekauert und schien vor Angst sogar etwas zu zittern. Als die Brüder sich ihm nähern wollten, fing er hektisch an, mit den Flügeln zu schlagen, und drohte schon wieder in die Nacht zu verschwinden, da fiel Jacob sein lebendiger Handschuh wieder ein.

Vorsichtig, um Otus nicht durch hektische Bewegungen zu erschrecken, griff er in die Hosentasche, zog einen einzelnen Mehlwurm hervor und hielt ihn in die Höhe, ganz genau, wie er es schon tausendmal bei Andreas gesehen hatte.

Und weil Hunger meistens stärker ist als Angst, tat die kleine Eule tatsächlich das, was sie am besten konnte, sie gab ihr Kirschbaumversteck auf, schnappte sich den Wurm und verschwand wieder im Geäst.

»Wie viele Würmer hast du?«, fragte mein Vater und dachte damit das Gleiche wie seine beiden Brüder. Sie gingen einige wenige Schritte zurück und wiederholten das Schauspiel, und tatsächlich verschwand Otus beim nächsten Wurm schon nicht mehr im Inneren des Kirschbaumgeästs, sondern verspeiste seine Beute auf einem der außenliegenden Zweige. Wieder traten sie weiter zurück, wieder und wieder, und Otus verließ nach und nach jedes zwischenzeitliche Versteck für ein nächstes, so als wollte er immer den gewohnten Abstand von seinem Stammplatz auf dem Fernseher zu den Brüdern auf dem Sofa einhalten.

Auch die letzten Irren knallten nur noch vereinzelt, es war stiller geworden auf den Straßen, und während der Handschuh in Jacobs Hosentasche schmolz, näherten sie sich langsam, aber sicher ihrem Ziel, wo Oma Lore schon mit warmem Kakao und einem gehörigen Donnerwetter auf sie wartete.

Und so brachten die Brüder die kleine Eule Otus wieder nach Hause, immer einen Mehlwurm nach dem anderen.

 

Wenige Wochen später verschwand Otus für immer, und kein noch so guter Eulenschrei, kein noch so schmackhafter Mehlwurm brachte ihn dieses Mal zurück. Das offene Tor der Voliere war ihnen am Morgen aufgefallen, und anstatt zur Schule zu gehen, liefen die Brüder rufend durch die Straßen und Gassen des Dorfes, doch auch als sie den Dorfrand und die Bienenwiese erreichten, wurden sie nicht fündig. Der Kirschbaum war leer. Die Ära Otus war vorbei.

Innerlich waren sie sich sicher, wer dieses Mal dahintersteckte, auch wenn sie sich nicht wirklich trauten, es auszusprechen. Dabei hatte die entsprechende Person ihre Absichten recht deutlich gemacht und dazu noch lautstark durch das ganze Haus geschrien. Sie hatten es sogar auf Band. Nachdem Ludwig bereits einige Male volltrunken nach Hause gekommen war, um dort mitten in der Nacht einen sinnlosen Streit vom Zaun zu brechen, am nächsten Morgen aber nichts mehr davon hatte wissen wollen, hatten die Jungs sich entschieden, eine dieser Tiraden mit der Diktierfunktion ihres Kassettenrekorders aufzunehmen.

Die Nacht, die sie zufällig ausgewählt hatten, hielt einige Stilblüten bereit, die in die Familiengeschichte eingehen sollten. Der Streit zwischen meinen Großeltern hatte sich innerhalb weniger Minuten so hochgeschaukelt, dass ein hörbar angeschlagener Ludwig plötzlich in vollem Ernst verkündete: »Lore, du bist so engstirnig. So fanatisch.« An dieser Stelle rang er mit den Worten, wohl um das schrecklichste Wort in seinem Repertoire zu suchen, was einige Sekunden dauerte. Schließlich schien er fündig geworden zu sein, und sein Tonfall änderte sich von stumpfem Gebrüll zu einer ruhigen, zerstörerischen Verachtung. Das entsprechende Tonband war in den folgenden Jahrzehnten von der ganzen Familie wieder und wieder gehört worden, um das Wort zu verstehen, das er jetzt förmlich ausspuckte. »So … schamott.«

Wir wissen bis heute nicht, was er damit sagen wollte, auch Ludwig selbst konnte uns nicht auf die Sprünge helfen. Aber wir waren uns lange sicher, dass dieses kleine Wörtchen an Hass und Niedertracht kaum zu überbieten war.

Ein Freund, dem ich irgendwann einmal davon erzählte, sagte mir, »Schamotte« wären feuerfeste Steine, was ich fast nicht glauben konnte, hätte es doch wirklich kaum passender sein können.

Mein cholerischer Großvater, der meine unzerstörbare Großmutter in ihrer petrushaften Standhaftigkeit als feuerfesten Stein beschimpfte. Lore war der Fels, auf dem man, wenn nicht eine Kirche, dann doch ohne Probleme eine wahnwitzige Großfamilie aufbauen konnte, Queen Schamott, die Teflon-Donna, die aushielt, was kaum jemand sonst ertragen konnte.

Ein anderer Teil dieser historischen Aufnahme jedoch, die man Ludwig einen Tag nach dem Ausbruch beim Frühstück vorspielte, was bei ihm vor allem ungläubiges Staunen über das eigene Stimmvolumen auslöste, war lange in Vergessenheit geraten. Nur mein Vater erinnerte sich anscheinend noch daran. Als ich ihn nämlich fragte, was eigentlich aus Otus, der kleinen süßen Zwergohreule, geworden war, von der er so gerne erzählte, wurden seine Züge etwas finsterer. Genau wüsste das keiner, sagte er, eines Tages sei er einfach verschwunden. Beim abermaligen Hören der »schamotten Bänder«, wie wir sie familienintern nannten, sei ihm jedoch einige Jahre nach dem Tag der offenen Voliere ein Satz aufgefallen, der an Brutalität die Beleidigungen meiner Großmutter gegenüber sogar noch überbot. Damals hatten sie ihm keine Beachtung geschenkt, schließlich war Otus da noch unter ihnen gewesen, flatterte fröhlich durch die großelterlichen Gemächer und schiss, wo es ihm beliebte. Gerade das hatte meinen Großvater, natürlich nicht ganz zu Unrecht, völlig wahnsinnig gemacht. Inmitten seines Rundumschlags gegen Lore musste es ihn schließlich gepackt haben. Auf der Aufnahme war zu hören, wie er den Gang wechselte und plötzlich, völlig aus dem Kontext, dafür aber wie besessen schrie:

»UND DER FÜRCHTERLICHE VOGEL MUSS WEG

 

Jetzt ist er also selbst verschwunden.

Ich erinnere mich, dass er vor der Strandmuschel rechts in Richtung der Softeis- und Backfischbuden abbog, obwohl man diese beiden Dinge auf Sylt wohl in jeder Himmelsrichtung finden würde, wenn man nur lange genug der eigenen Nase folgt. Ich frage mich, ob mein Großvater wirklich so häufig auf die Toilette muss oder ob er das nur als Ausrede nutzt, um einmal pro Stunde, oder besser noch alle 30 Minuten, kurz etwas Frieden zu haben, so wie ich selbst es ja schon zu Schulzeiten betrieben habe. Vielleicht ist diese Form des Eskapismus auch genetisch, so wie die gewöhnliche Hauskatze Felis catus sich vor dem Hinlegen immer noch mehrere Male um die eigene Achse dreht, wie ihre wilden Vorfahren das gemacht haben, um höheres Gras niederzutrampeln und sich so vor Feinden zu tarnen. Meinen eigenen wilden Vorfahren würde ich nun ziemlich wahrscheinlich auf der Toilette finden, so viel war sicher.

 

Als es um seine Prostata noch besser bestellt war, hatte er gerne mit seinen Freunden um die Wette gepinkelt, an der gigantischen Pissrinne in seinem Stammgasthof »Zur Post«.

»Und Heiner«, hatte er einmal gut angeschwipst gerufen, als er aus dem Augenwinkel sah, dass einer seiner Kumpel den Erfrischungsraum betreten hatte und sich gerade die Hose aufknöpfte. »Kannst du auch noch so hoch?« Anschließend hatte er seinen Strahl wirklich in erstaunliche Höhen gejagt, bis zum obersten Rand der Edelstahlverkleidung nämlich, um sich dann triumphierend zu seinem Freund Heiner umzudrehen. Stattdessen blickte er ins versteinerte Gesicht des völlig humorlosen Bürgermeisters. Wenn man meinem Großvater glauben will, dann hat er sich in diesem Augenblick vor Schreck beinahe selbst auf den Kopf gepinkelt.

Solche Heldentaten würde er heute kaum noch vollbringen können, aber vielleicht nutzt er seine regelmäßigen Ausflüge in die Porzellanabteilung auch genau dazu. Um nämlich für ein letztes großes Ding zu trainieren.

 

Ich denke darüber nach, mir ein Softeis zu kaufen. Am liebsten in einer richtig großen Waffel mit roter Grütze obendrauf und dem Versprechen, dass man jedes Kleidungsstück, das man am Leib trägt, anschließend direkt in die Tonne werfen kann. Ich habe nie aufgehört zu kleckern. Man würde ja meinen, das wüchse sich mit der Zeit raus oder wäre einem durch soziale Ächtung mit den Jahren vergangen, sodass man sich jetzt einfach ein bisschen mehr am Riemen reißt und etwas weniger »unkontrolliert« ist. Mitnichten. Das Kleckern gehört zu mir, und kein gequältes Stöhnen meiner Großmutter, kein angeekeltes »Mein Gott« und auch nicht die wirklich in die Hunderte gehenden Kleidungsstücke, die ich mit der Zeit habe entsorgen müssen, haben daran irgendetwas geändert. Und das Beste ist, dass ich auch nie aufgehört habe, mich dafür zu hassen.

Anstatt es als Teil meiner selbst zu akzeptieren oder wie ein Kleinkind überall nur mit entsprechendem Lätzchen aufzulaufen, sehe ich auch im dreißigsten Jahr meines Lebens jede nicht vorgesehene Verfärbung meiner Kleidung als ultimativen Beweis meiner eigenen Unzulänglichkeit an und schalte außerdem noch ein Bonuslevel frei, indem ich mich für diesen lächerlichen Anflug von Selbsthass zusätzlich verachte.

Ich war mal einige Monate mit einer Frau zusammen, die besessen von weißen T-Shirts war. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt kein einziges T-Shirt besessen, auch in anderen Farben nicht, was sie zwar amüsierte, aber so nicht stehen lassen konnte. Ich machte mich also auf die Suche nach dem perfekten weißen T-Shirt, drunter macht es ja kein Mensch, der googelt, und wurde schließlich bei Nike fündig, die in ihrer Premium-Linie ein Shirt in dickerem Stoff für etwa 30 Euro anboten. Ich bestellte mir zehn Stück, und meine Freundin war begeistert, auch ich gefiel mir nicht so schlecht. Wie das oft in der ersten Phase einer neuen Liebe ist, hatte ich jedoch in einigen nicht unwesentlichen Punkten vergessen, wer ich war, und lief somit blind mitten hinein in die Katastrophe.

Die Vorstellung davon, eine eigene unverkennbare Uniform zu haben, hatte mir ohnehin schon immer gut gefallen. In der ersten Woche warf ich bereits drei von ihnen Weg. Kirschen, Lippenstift und Sonnencreme. Gute Zutaten für eine anständige Sommerromanze, aber selbst mit speziellen Fleckensalzen nicht ohne Rückstände entfernbar. Nach einem Monat bestellte ich zehn neue T-Shirts. Von da an ging es zuverlässig so weiter. Der schrecklichste und mächtigste aller Flecken war Scampigehirn. Nach dem Grillen, beim Aufknacken der Schale quer über die Brust verspritzt, hatte es selbst mit hartnäckigsten Mitteln und nach mehreren Wäschen nicht einen einzigen Farbton eingebüßt.

Die Frau verließ mich mit der Begründung, ich hätte ihr zu wenig Selbstbewusstsein.

Ich hatte in den wenigen Monaten über 1000 Euro ausgegeben, nur um mich vollkommen wertlos zu fühlen.

 

Mein Großvater trägt ein rotes Hemd und eine Weste, die in meiner Vorstellung eine ähnliche Funktion hat wie die scheinbar bodenlosen Schubladen seines Schreibtisches.

Nur seine tausend wichtigsten Gegenstände sind dort untergebracht, und die muss er natürlich gerade auf Reisen immer bei sich haben. Immerhin, denke ich, sollte er vermisst werden, ein paar Tage würde er sich mit dem Inhalt dieser Taschen sicher durchschlagen können, sich einen Unterschlupf in den Dünen zimmern oder im schlimmsten Fall in einem ausgeweideten Seehund schlafen, wie es der Outdoorexperte Bear Grylls einmal in der Wüste mit einem Kamel getan hat. Ich frage mich, ob mein Großvater wohl in einen Seehund passen würde. Unter all den Schichten Fett des Tiers wäre es jedenfalls sicher muckelig warm, und dass Ludwigs Taschenmesser scharf genug ist, um sie zu durchtrennen, ist auch sicher. Im schlimmsten Fall hätte er aber bestimmt auch einen entsprechenden Schleifstein dabei, noch wahrscheinlicher: mehrere.

Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass das unförmige beige Kleidungsstück seinem orangen Gegenstück in nichts nachsteht: Opa Ludwig trägt eine Rettungsweste. Nur eben fürs Festland.

Außer Hemd und Weste trägt er schlichte Segelschuhe, deren Absatz auf der rechten Seite nach einer missglückten Hüftoperation unnatürlich verdickt ist, was dem Schuh einen grotesk futuristischen Anstrich verleiht. Mich würde sehr interessieren, was Virgil Abloh oder Salehe Bembury wohl von diesem Kniff gehalten hätten. Mein Großvater jedenfalls, der einen lebenslangen Hang zu Ordnung und Genauigkeit hat, wäre von Ablohs Ansatz, die Existenz der Dinge zu unterstreichen, indem man sie präzise beschriftet, sicher begeistert.

Mit der Idee, auf seine Schnürsenkel das Wort »Shoelace« zu schreiben, ist er dem mittlerweile verstorbenen Designer wahrscheinlich nur deshalb nicht zuvorgekommen, weil sein Englisch dafür nicht genügt.

»The sun is the light of the day. The moon is the light of the night.

The sun is shining through the bushes. The snow is falling on the frozen earth.«

Das ist alles, was er kann, dafür aber gibt er es umso leidenschaftlicher allerorts lautstark zum Besten. Nicht viel, aber in jedem Fall genug, um es auf ein T-Shirt zu drucken, denke ich. Virgil Abloh und Opa Ludwig, zusammen hätten sie die Welt erobert.

Und jetzt ist Virgil tot und Ludwig immer noch verschwunden. Meine Beschreibung, die ich mir gerade zurechtlege, würde wahrscheinlich nur notdürftig reichen, um ihn polizeilich aufzuspüren. Bis auf den zukünftigen Designklassiker an seinen Füßen trägt Ludwig recht stereotype Rentnerkleidung, frei nach dem Motto: Je älter man wird, desto beiger werden die Hosen. Und für jedes Lebensjahrzehnt kommt eine Extratasche an den unmöglichsten Stellen hinzu.

 

Ein paar Minuten später betrete ich die nächstgelegene Herrentoilette, die von außen viel kleiner ausgesehen hat als jetzt von innen. Ein Pissbecken aus Edelstahl gibt es hier zwar nicht, dafür aber etwa fünfzehn gepflegt aussehende Pissoirs und gegenüber, durch einen schmalen Gang und einige Pinkelnde in Polohemden und Bootsschuhen getrennt, fast genauso viele Kabinen. Da vermute ich Ludwig, oder besser, ich hoffe einfach inständig, dass er wirklich da ist und meine Vermisstenanzeige nur eine alberne Fantasie bleibt. Ich räuspere mich, weil ich denke, ein Mensch, der mich seit meiner Geburt kennt, wäre vielleicht in der Lage, mich schon daran zu erkennen und dann im Gegenzug auch von seiner Seite ein Lebenszeichen abzusetzen, das mir helfen würde, ihn zu lokalisieren. Wenn Tiere miteinander sprechen, dann geht es eigentlich fast nur darum, wo man ist und ob es da etwas zu fressen gibt, was im Prinzip die Gespräche zwischen mir und meinem Großvater erstaunlich präzise zusammenfasst. Jetzt aber macht er keinen Mucks. Kein Eulenschrei, kein Walgesang, nichts. Ich räuspere mich noch mal, die Tauben auf dem Bahnhofsvorplatz kommen ja schließlich auch aus dem Gurren gar nicht mehr raus, ein einzelnes Räuspern ist sicher auch hier völlig nutzlos. Nach kurzem Zögern entscheide ich mich dann doch wiederwillig für Menschensprache. »Oppa?«, rufe ich halblaut und dann lauter: »Ludwig?«

Jetzt habe ich etwas gehört. Es klingt so, als wäre irgendwo in der langen Reihe an Separees jemand zusammengezuckt. Ich setze direkt noch mal nach.

»Oppa?«

»Max Lerge«, höre ich jetzt eine schwache Stimme sagen. Von wo sie kommt, kann ich jedoch nicht feststellen.

»Wo bist du, Oppa?«

»Hier bin ich.«

Ich nehme all meine Konzentration zusammen, schaffe es aber nicht, die Stimme zu verorten. Manchmal habe ich schon geglaubt, ich würde mir diese eigentlich lachhafte Einschränkung nur einbilden, in Momenten wie diesen wird mir dann wieder mehr als deutlich bewusst, wie real sie ist.

»Du musst rauskommen, Oppa! Ich finde dich sonst nicht.«

Ich höre ein schweres Seufzen, dann öffnet sich eine Kabinentür einen Spaltbreit, und ich sehe das Gesicht meines Großvaters, das sich anscheinend nicht ganz entscheiden kann, ob es noch verzweifelt oder schon erleichtert auszusehen hat.

Ich kann nur seinen Kopf und seine Schultern sehen, den Rest seines Körpers verbirgt er hinter der mit weißem Plastik verschalten Toilettentür, als wäre ich einer der Lieferando-Boten, denen ich auf sehr ähnliche Weise sonntagmorgens die Tür öffne, wenn ich es nicht geschafft habe, mir rechtzeitig eine Hose anzuziehen.

»Ambrosius«, sagt er mit verkniffenem Gesicht. »Sag Omma, ich brauche noch ein bisschen.«

»Wie lange denn noch so? Du bist doch schon fast eine Stunde weg.«

»Gemach, gemach. Ich komme, wenn ich fertig bin.«

Er versucht die Tür wieder zu schließen, aber ich habe schon meinen rechten Fuß dazwischengestellt.

»Oppa, bist du okay?«

»Melde gehorsamst, ich …«

Mein Blick fällt auf seine Hose, die jetzt doch einen Spaltbreit hinter der Tür hervorschaut.

Der Fleck ist nicht groß, aber eindeutig.

»Oppa«, sage ich und bemühe mich, gleichzeitig streng und fürsorglich zu klingen. »Ich komme jetzt rein.«

So was sagen Polizeibeamte in Vorabendserien, die einen flüchtigen, aber reumütigen Täter überführen oder eine Person überreden wollen, vielleicht doch nicht vom Dach zu springen.

Auf jeden Fall wirkt es. Mein Großvater übt noch kurz leichten Druck gegen die Tür aus, dann tritt er einen kleinen Schritt zur Seite.

Wir stehen in der engen Kabine voreinander.

»Ambrosius«, sagt er und kneift die Augen noch mehr zusammen als zuvor schon. »Ambrosius, Lerge, ich bin nicht mehr ganz dicht.«

»Das ist doch gar nicht schlimm«, sage ich und überlege nebenbei schon fieberhaft, wie ich meinen Opa unauffällig an den missgünstigen Touristen vorbeibekommen könnte, ohne dass er sich in Grund und Boden schämen muss.

»Möwenmenschen«, denke ich.

Immer auf der Suche nach jemandem, auf dem sie herumpicken können.

Ludwig schämt sich jetzt schon. Sogar vor mir, der sich schon einige Male in seinem Beisein deutlich Schlimmeres in die Hose gemacht hat, ganz zu schweigen vom Penisbad im Eierbecher, während er daneben seelenruhig Zeitung las.

Wir waren gewissermaßen »unter sich«, wie er sonst gerne gesagt hätte, nur jetzt scheint er weniger zu Scherzen aufgelegt zu sein, was ich ihm auch nicht verübeln kann.

Und dann, als ich schon gar nicht mehr damit rechne, fällt mir doch noch was ein.

»Oppa«, sage ich, »zieh deine Hose aus, Unterhose auch. Ich drehe mich auch um.« Ich tue, was ich angekündigt habe, auch wenn es sich in der engen Kabine doch etwas schwierig gestaltet. Als ich das Manöver gerade erfolgreich vollzogen habe, spüre ich Opa Ludwigs Eisbärenpranke auf meiner Schulter. Erst denke ich, er will mich herumreißen und mir erst mal was erzählen, dass ich mich erdreiste, ihm solche Ansagen zu machen, und dann auch noch quasi in der Öffentlichkeit. Doch dann spüre ich, dass er sich nur an mir abstützt.

Ohne Widerworte und ohnehin ohne überhaupt irgendein Wort beginnt mein Großvater, seine Hose auszuziehen. So wie Soldaten durch die Grundausbildung zu widerstandslosen Befehlsempfängern werden, hat das strenge Regiment meiner Großmutter ihn anscheinend in jahrelanger und kleinteiliger Zermürbungsarbeit genau auf diesen Moment vorbereitet.

»Melde gehorsamst, Ambrosius. Die Hose ist aus.«

Er reicht mir Hose und Unterhose nach vorne, ein einziger nasser, stinkender Klumpen. Ich lege ihn vorsichtig auf dem geschlossenen Klodeckel ab, reiße großzügige Bogen des dünnen Toilettenpapiers von der riesigen Rolle und reiche sie nach hinten. »Trocken wischen, Soldat!« Mein Opa kichert.

Die Übung, die eigentlich gar keine Übung ist, sondern ein wenn auch etwas komischer Ernstfall, scheint ihm plötzlich Spaß zu machen.

Als er fertig ist, werfe ich das feuchte Papier in die Toilette, wobei mir seine nassen Hosen fast vom Toilettendeckel rutschen, dann trockne ich meine Hände an einem weiteren großen Bogen ab, den ich dieses Mal zur Sicherheit einfach auf den Boden werfe. Dann atme ich tief durch. Mein Großvater steht noch immer in stiller Erwartungshaltung mit entblößtem Unterkörper hinter mir. Es rührt mich, wie sehr er in diesem Moment meiner Führung vertraut. Ohne dass wir das Problem endgültig gelöst haben, scheint er bereits aufzuatmen. Von seiner endlosen Verzweiflung ist nichts mehr zu spüren. Ganz so erleichtert wie er bin ich allerdings nicht, habe ich doch immerhin einen halb nackten Rentner in meiner Obhut, dessen Penis sich vom Nordseewind, der sich unbarmherzig in unsere kleine Kabine vorbahnt, im Sekundentakt weiter und weiter in den Körper zurückziehen muss wie eine schüchterne Schildkröte.

Opa Ludwig, Eisbärhand und Krötenpenis. Klingt nach einem perfekten Titel für eine Biografie, die allerdings würde ich an einem anderen Tag schreiben müssen. Noch ist der Altvorderste nicht aus seinem porzellanenen Gefängnis geborgen.

Die Gedanken kreisen wie ein Rettungshelikopter. Dann landen sie.

Ich ziehe meine Hose aus.

Mein Großvater stößt einen ungläubigen Laut aus.

»Plottwist, Oppa Lerge«, denke ich. Fast so gut wie in diesen schrecklichen Trillern.

Auch an diesem Morgen habe ich statt einer Unterhose meine Badeshorts angezogen, auch wenn sie so sandig sind, dass sofort eine feine Spur aus meinem Hosenbein rieselt und jeden meiner Schritte im großelterlichen Apartment so zuverlässig markiert wie eine GPS -Fußfessel in amerikanischen Filmen.

Das Shirt, das ich unter dem Hoodie trage, hat einen Fleck direkt über dem Logo, ein klassisches Drunter-Shirt, das ich unter normalen Umständen niemals in der Öffentlichkeit tragen würde, aber extreme Zeiten erfordern eben extreme Maßnahmen.

 

Ich reiche ihm als Erstes die Hose, quasi als Schildkrötenschutzmaßnahme. Dann streife ich auch den Kapuzenpullover ab und helfe nach einer erneut sehr umständlichen Drehung meinem Großvater dabei, ihn überzuziehen.

Seine Weste, zentnerschwer von all den lebenswichtigen Utensilien, halte ich dabei mit einer Hand fest, nur um sie abschließend und mit einiger Anstrengung über meine eigenen Schultern statt über den nun wieder hygienisch verpackten Rentnerkörper zu wuchten.

Ich schaue mein Werk an, und mein Werk schaut mit roten Wangen zurück.

 

»Ambrosius«, sagt Opa Ludwig weihevoll und nimmt meinen Kopf in seine kalten Tatzen. »Ambrosius, es gibt fetzige Lergen und vollfetzige Lergen. Und du bist eine vollfetzige Lerge.«

Und dann machen wir los. Die nassen Hosen haben wir sicher in einer Plastiktüte der Elektronikbetriebe Köllermeier in Fehlsheim verpackt, die Ludwig wahrscheinlich schon jahrelang in einer seiner unzähligen Westentaschen mit sich herumgeschleppt hat. So spaziere ich mit der Plastiktüte in der einen und Opa Ludwig an der anderen Hand die Promenade von Westerland entlang. An Möwenmenschen und Aperolgourmets vorbei, ich mit Ludwigs Multifunktionsweste, Ludwig in meinem rosa Expeditionsanzug von Nike, in dem er aussieht wie der verlorene Bruder der Teletubbies oder der niedlichste Astronaut der Welt.

 

Ich mache mich auf diverse gehässige Kommentare meiner Großmutter gefasst, aber sie sagt zunächst einmal nichts, nimmt nur stumm die Tüte entgegen, zieht den Knoten etwas enger und verstaut sie unter ihrem Sitz. Wir lauschen den letzten Klängen des Shantychors und bleiben noch sitzen, während der Rest um uns herum aufsteht und verstohlene Blicke auf meinen Großvater wirft. Einige beginnen sogar zu tuscheln, und die Dame, die eben noch mit mir getanzt hat, zeigt plötzlich, jeglicher Eleganz beraubt, mit dem Finger auf uns.

Mein Großvater bemerkt das, stößt meine Großmutter mit dem Ellenbogen an und raunt: »Lore, die Leute gucken.«

Lore, die nur auf den Moment gewartet zu haben scheint, zischt mit erstaunlichem Tempo zurück: »Ich kann dir auch sagen, warum. Weil du aussiehst wie ein Schwuler.«

»Omma!«, entfährt es mir etwas hilflos. Sie sieht mich umso angriffslustiger an.

»Was denn?«, fragt sie. »Genauso sehen die aus.«

Ich sage gar nichts mehr und warte nur stumm ab, bis der Zorn in mir sich langsam ausschleicht, und was ich dann spüre, überrascht mich.

Es ist Erleichterung. Echte Erleichterung darüber, dass doch noch nicht alles anders ist.

Wenn die Ignoranz meiner Großeltern so unsterblich ist, dann sind sie es ja vielleicht einfach auch.

 

Wir essen an diesem Abend alle das gleiche Fischbrötchen, Lachsforelle mit Currysoße. Ich ziehe unter Lores tadelndem Blick die riesigen Zwiebelstücke aus meinem heraus. Ludwig atmet sie wie gewohnt wortlos weg. ›Lachsforelle‹, denke ich. Mehr als eine Forelle, weniger als ein Lachs, irgendwie auch wie ich. Ich verbiete mir, länger darüber nachzudenken.

Nach dem Abendessen schiebe ich vor, noch einen Spaziergang zu machen, gehe stattdessen zu McDonald’s und esse hektisch und ohne Genuss drei Chilicheeseburger und einen McFlurry mit Frozen-Joghurt-Geschmack und Erdbeersoße. Ich wasche mir auf der Toilette Hände und Gesicht und gehe zur Sicherheit doch noch ein paar Minuten am Strand entlang, um den Fast-Food-Gestank loszuwerden, dann schleiche ich zurück ins Apartment und lege mich, ohne Zähne zu putzen, in meine Ecke. Ich schlafe sofort ein.