Am nächsten Morgen stehe ich ohne Wecker vor meinen Großeltern auf und beschließe, noch einmal ins Meer zu gehen. Ich lasse mich für etwa zehn Minuten von den Wellen überrollen, bis es mir etwas besser geht.
Nach einem schweigsamen Frühstück nimmt Ludwig meine schmalen Hände in seine riesigen Pranken, schaut mir fest in die Augen und singt: »Wann und wo, wann und wo, sehen wir uns wieder und sind froh«, wie er es schon seit meiner Kindheit tut, aber dieses Mal muss ich mir auf die Zunge beißen, um nicht zu weinen.
Dann kneift er mir in die Wange und sagt: »Lerge, wie sagte Roger Whittaker? Abschied ist ein schweres Schaf«, er lacht, klatscht in die Hände und pikst mir so übermütig in die Rippen, dass ich meine feuchten Augen immerhin irgendwie darauf schieben kann.
Den Trainingsanzug wollte ich für ihn dalassen, aber Lore, wachsam wie immer, hat ihn bereits in eine Jutetasche der Bad Arberger Apotheke gepackt und drückt ihn mir mit einem Gesichtsausdruck in die Hände, der keine Widerrede zulässt.
Sie stellen sich auf den Balkon, um mir zu winken, aber ich verlasse das Gebäude zur anderen Seite, weil ich das gerade nicht auch noch ertragen kann. Auf dem Bahnhofsvorplatz lege ich mein heißes Gesicht für einige heilsame Sekunden an ein eiskaltes grünes Bein, dann steige ich in den Intercity zurück nach Berlin.
Mein Plan ist es, so schnell wie irgendwie möglich einzuschlafen, und als der Zug die kleineren Dörfer passiert und den unvermeidbaren Hindenburgdamm ansteuert, brennen mir schon die Augen vor sagenhafter Müdigkeit. Ich drücke den Jutebeutel an der Scheibe zurecht, um mir daraus immerhin ein halbwegs anständiges Kissen zu machen, als ich aus dem Inneren ein Knistern höre.
Ich greife in die Tasche und ziehe nach einigem Wühlen eine halb volle Tüte saurer Apfelringe heraus. Ich löse das dicke rote Gummiband und lege mir einen davon auf die Zunge. Der Apfelring ist genauso zäh und angetrocknet, wie ich sie am allermeisten mag.
Das Brausepulver brennt scharf an meinem Gaumen und schäumt meinen Speichel auf. Der Zug ist wieder stehen geblieben, mitten auf dem Hindenburgdamm, und niemand sagt irgendetwas, auch die anderen Passagiere wirken ruhig und gefasst, als das Wasser immer weiter um uns anzusteigen droht, bis man schließlich hören kann, wie die Wellen wirklich oben über dem Waggon zusammenschlagen. Ein Schaffner mit ölverschmierten Händen und käsigem Teint kontrolliert meinen Fahrschein, während der Apfelring sich in meinem Mund auflöst.
Als ich den nächsten auf meine aufgeraute Zunge lege, setzt sich das U-Boot endlich wieder in Gang und bringt mich und die anderen zurück in die Hauptstadt.
Bis hin in mein Zimmer, wo es Nacht ist und das Essen auf mich wartet. Und es ist noch warm.