Hinter den Fassaden

Michael Dietz

Blauer Himmel überspannte den Alten Markt, das historische Zentrum von Potsdam. Die Sonne verlieh Nikolaikirche, Stadtschloss und Palais Barberini einen goldenen Glanz. Mehr historischer Glamour geht fast nicht, dachte ich, als Tourguide Holger fragte, welches der Gebäude wohl das älteste sei.

Ich zögerte, registrierte sein verschmitztes Lächeln und witterte deshalb die Fangfrage. Unsicher zeigte ich auf einen entfernten Plattenbau, der den Prunk vor mir weit überragte.

»Mit Journalisten macht dit Spiel keenen Spaß«, sagte Holger. Meine Antwort war richtig! Das ehemalige Interhotel. Baujahr 1969. Alles, was älter aussieht, ist neuer.

»Und auch schöner?«, wollte ich von Holger wissen, der in Potsdam zu DDR-Zeiten geboren worden war und miterlebte, wie seine Stadt seit der Wende teilweise in die Zeit Preußens zurückgebaut wurde.

»Hm … schöner?! Das liegt im Auge des Betrachters«, rettete sich Holger gerade noch so in Diplomatie.

Denn Schönheit blendet eben auch.

Wenn wir als Reisende einen Ort wirklich begreifen möchten, lohnt ein Blick hinter das Schöne. Fast nirgendwo in Deutschland geht das so gut wie in Potsdam. Denn in der Stadt brodelt ein Streit. Seit vielen Jahren geht es darum, welches Stadtbild man möchte. Die eine Seite will so viel Preußen, wie finanzierbar ist, und so wenig Andenken an die DDR wie möglich. Die andere Seite kämpft um den Erhalt von besonderen Plattenbauten, Architekturschätzen des Ostens und damit auch um ein Stück Heimat.

Ich merke: Nicht ganz Potsdam ist offenbar dem Kult um Preußens Könige und insbesondere um Friedrich den Großen verfallen. Es herrscht Uneinigkeit hinter den Kulissen. Das ist die Erkenntnis der »Alternativen Stadtführung« mit Guide Holger.

 

Wo immer ich in der Welt bin, halte ich Ausschau nach solchen speziellen Führungen: City Walks mit ehemaligen Obdachlosen, Street-Art-Touren mit Kunststudenten oder Fahrradausflüge mit Umweltaktivistinnen. Oder ich suche im Netz oder in den Social Media nach Guides oder Menschen, die Lust haben, mir für ein paar Stunden Gesellschaft zu leisten, und mir ihr Viertel zeigen. Wenn sie aus ihrem Leben erzählen oder ihre Perspektive auf die Sicht der Dinge vor Ort preisgeben, baut sich für mich neben den ganzen Sehenswürdigkeiten, Klischees und dem Offensichtlichen ein gesamtes Bild eines Ortes auf. Das macht für mich das Reisen noch wertvoller. Denn ich will vom Glück und Unglück erfahren, das hinter jeder Straßenecke wohnen kann, und ich möchte begreifen, wie die Frauen und Männer hier leben.

 

In Moskau traf ich über eine Onlineplattform für lokale Reisebegleiter und Reisebegleiterinnen eine Buchhändlerin, die nebenbei Touristen durch die Stadt führt. In ihrer Bestätigungs-E-Mail fragte sie sehr freundlich nach meinen Wünschen.

»Was willst du sehen? Den Kreml, den Roten Platz oder ein bisschen Shopping im berühmten Kaufhaus Gum?«

All das wollte ich nicht. »Zeigst du mir dein Moskau? Wo bringst du Freunde oder Familie hin, wenn sie die Stadt besuchen?«

Ihre Antwort auf meine Wünsche war freundlich, aber sie war irritiert. »Ich glaube, ich habe dich nicht richtig verstanden, Michael. Lass uns erst mal vor dem Roten Platz im Zentrum treffen. Deine Natascha.«

Da will einer »unter die Haut Moskaus«, sehr gut, dann komm mal mit. Nataschas Freude war groß, dass sie mich nicht falsch verstanden hatte. Anstatt der Vorzeigekulissen des Russischen Reichs sah ich an diesem Nachmittag Hinterhofmärkte, sehr einfache Straßencafés, die zwar keinen Flat White im Angebot hatten, aber köstliche russische Teilchen mit Schokolade und Cremefüllung, Kartoschkas, sogenannte »süße Kartoffeln«, und Joschikis, kleine kugelförmige Törtchen, die an Igelchen erinnern. Außerdem lernte ich Nataschas Onkel kennen, der die besten eingelegten Gurken des Viertels verkauft und dazu einen Samogan, einen selbst gebrannten Wodka aus Roggen, reicht.

Gegen Ende des Tages war das Vertrauen groß genug, und Natascha erzählte mehr von sich. Von ihren zwei Kindern, die sie ohne Mann großziehen musste, vom Geld, das hinten und vorne nicht reichte, und dem großen Glück, dass ihre Mutter nach dem Fall der Sowjetunion darauf bestanden hatte, dass alle ihre Kinder Englisch lernten. Nur so, mit diesen Touristentouren und einer Sechzigstundenwoche, komme sie halbwegs durch.

Wir liefen an einer orthodoxen Kirche vorbei, und ich fragte Natascha, ob sie gläubig sei.

Nein, sie habe jeden Glauben verloren. Sie lebe in einem Staat, der seine Menschen ausraube und verarmen lasse. Warum Putin dann so viele Fans habe, wollte ich wissen. Die Mehrheit sei gegen ihn, antwortete Natascha. Das Problem: Wer nicht Putin-Fan sei, habe meist keine Zeit zu demonstrieren. »Wir einfachen Leute sind viel zu sehr mit dem tagtäglichen Überleben beschäftigt, als dass wir auf die Straße gehen könnten.«

 

Anderer Teil der Welt, ähnliche Probleme. Der Libanon. Als Reiseland eine der größten Überraschungen. Selten habe ich besser gegessen, selten so viel Gastfreundschaft genossen, und selten habe ich Schönheit, Ungerechtigkeit und Fanatismus so nah beieinander erlebt.

»Wer in Beirut ein gutes Leben führt, ist entweder sehr korrupt oder Überlebenskünstler«, so Aya, die Studentin, die uns auf der ATB, der »Alternative Tour Beirut«, durch die Gassen der Stadt führt. Sie berichtet von der unendlichen Korruption, der Vertreibung junger Leute aus den günstigen Ortsteilen, weil dort ein Wolkenkratzer eines reichen Investors gebaut werden soll. Dazu hallen der Bürgerkrieg, die Explosion im Hafen im August 2020 und die wirtschaftlichen Krisen nach.

»Wie hält man das alles aus?«, frage ich Aya.

Erst zitiert sie lächelnd Tschechow: »Jeder Idiot kann eine Krise meistern, es ist der Alltag, der uns zermürbt.« Dann schaut sie verliebt auf das baufällige wunderschöne Gebäude hinter sich, in dem sich venezianische und arabische Architektur imposant miteinander vereinen, und sagt: »Ich liebe meine Heimat, wir dürfen den Libanon nicht einer korrupten Elite überlassen. Deshalb machen wir diese Touren, deshalb ist es so wichtig, dass Leute wie du hierherkommen.«

Das höre ich oft von Menschen aus Ländern, die nicht von den Massen bereist werden: »Kommt zu uns und erzählt unsere Geschichte oder seid unsere Stimme.« Zu sehen und zu lernen, wie diese Menschen leben oder leben müssen, macht mich demütig und lässt in mir die Wut hochkochen. Eine Wut, die mich antreibt, für Demokratie und ein freiheitliches Miteinander einzustehen. Solche mentalen Mitbringsel sind kein leichtes Gepäck, aber wertvoller als jedes Bild auf Instagram.

Frau. Leben. Freiheit.

10 Dinge, die man einmal im Leben gemacht haben sollte

Michael Dietz und Jochen Schliemann

  • Einfach losreisen – ohne konkreten Plan
  • Allein reisen
  • Einen Roadtrip machen
  • Eine längere Auszeit nehmen – zum Reisen
  • Alle Passwörter (Arbeit, Rechner) aus dem Leben zu Hause vergessen
  • Vergessen, welcher Wochentag ist
  • Einen Kulturschock erleben (geht auch in der bayrischen Provinz)
  • Etwas tun, das in keinem Reiseführer/-portal steht
  • Etwas essen, das man noch nie gegessen hat
  • Ein Konzert auf Reisen besuchen