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Ich verließ Joe Bartonios Büro und lief ein paar Minuten auf dem Loftus-Gelände herum. Es war größer, als es vom Haupttor aus den Anschein hatte. Nach Süden hin gab es drei große Produktionsbereiche, flache Gebäude, die aussahen wie Bauelemente für einen gewaltigen Flugplatz. Man hätte nur die Verbindungswege verbreitern müssen, dann hätte dort selbst eine Concorde landen können. Lastwagen kamen angefahren, bereit, ihre Ladung aufzunehmen, um der wartenden Welt ihre Medizin zu bringen. Es herrschte ein ziemlicher Betrieb. Ich kämpfte mich weiter bis zu dem einzigen anderen Loftus-Gebäude innerhalb des Sicherheitsbereichs, das ich kannte, Forschung Drei. Ich war auf der Suche nach Dundree. Ich wollte ihm drohen.

Wieder trug ich mich auf dem Tisch neben der Eingangstür ein. Die Flure waren genauso menschenleer wie bei meinem letzten Besuch hier. Dagegen wirkten die Behelfsduschen am Ende eines jeden Korridors geradezu heimelig.

Ich sah in dem Büro nach, in dem ich am Tag zuvor mit Dundree, Dr. Merom und Lee Seafield gesprochen hatte, aber auch dort war niemand. Nichts hinderte mich daran, auf Entdeckungsreise zu gehen. Von Dundree wußte ich, daß Pighees Unfall im oberen Stock stattgefunden hatte, also ging ich die Treppe hinauf.

Auch dort war niemand in den Fluren, aber zumindest hörte ich ein paar Stimmen und das Summen einiger Maschinen. Ich wollte mich gerade der Entscheidung für links oder rechts stellen, als eine junge Frau durch die Tür direkt am Treppenhaus herausstürmte und mich beinahe umrannte.

»Oje«, sagte sie. »Tut mir leid.« Sie trug einen weißen Laborkittel und ein Haarnetz, das ihr Haar dicht an ihren Kopf drückte.

»Ist es hier immer so leer?« fragte ich. »Sie sind seit Tagen der erste Mensch, dem ich auf diesen Fluren begegne.«

Die Frage schien sie zu überraschen. Dann sagte sie: »Tja, ich schätze, in diesem Gebäude arbeiten wirklich nicht viele Leute. Hier laufen vor allem die ständigen Qualitätskontrollen - auf der Seite hier oben und im Erdgeschoß -, und vieles wird von Maschinen erledigt.«

»Aber man riecht hier ja überhaupt nichts«, sagte ich. »Ist das normal?«

»Ist das unnormal?«

»Na ja, das hier ist doch ein Forschungslabor.«

»Ja«, sagte sie. »Ich weiß, was Sie meinen, aber die Belüftung ist hier sehr gut.«

»Oh«, sagte ich.

»Wissen Sie, ob Dr. Dundree hier in diesem Gebäude ist?«

»Ich glaube nicht. Morgens ist er meistens im Verwaltungsbüro auf der anderen Seite des Tors. Haben Sie es schon einmal dort versucht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Er hat mir erzählt, daß in einem dieser Labors vor ein paar Monaten eine Explosion stattgefunden hat. Stimmt das?«

»Aber ja«, sagte sie. »Im Januar. Einer von unseren Leuten wurde dabei verletzt.«

»John Pighee. Haben Sie ihn gekannt?«

»Nein. Er hat hier nur Teilzeit gearbeitet. Und er war ein Einzelgänger.«

»Und Sie sind was?«

»Technikerin«, sagte sie. »Ich bin jetzt seit fast drei Jahren hier, und dann haben sie jemand anders von draußen geholt, der jetzt im Lagerraum arbeitet.«

»Im Lagerraum?«

»Oh, das ist die Bezeichnung, die auf der Tür steht. Das Labor, in dem der Unfall war. Es ist vor langer Zeit umgebaut worden, und sie betreiben seit Jahren irgendwelche streng geheimen Forschungen darin. Wir nennen es »Operation Lagerraums Das ist alles.« Sie zeigte auf eine Tür in der Mitte des Flurs auf der linken Seite.

»Darf ich mal reinsehen?«

Sie lachte. »Lee ist im Augenblick da drin. Und er läßt niemanden hinein. Die sind da alle sehr vorsichtig.«

»Sie meinen Lee Seafield? Den Hünen mit…«

»…dem lockigen, flachsblonden Haar, ja. Wir glauben, daß er es bleicht, aber bis jetzt hat noch niemand irgendwelche dunklen Haarwurzeln entdeckt.«

»Wie viele Leute arbeiten an diesem großen Projekt?« fragte ich.

»Lee, Marcia - das heißt, Dr. Merom - und seit Mr. Pighees Unfall ersatzweise auch Dr. Dundree.«

»Sonst niemand? Keine Techniker?«

»Keine. Oh, Lee ist natürlich Techniker, aber er ist schon seit Jahren hier. Es heißt, daß er nicht besonders gut bei Versuchsreihen ist, sonst hätte er schon längst seinen Doktor gemacht. An seinem Verstand liegt es nicht.«

»Sie waren nicht hier, als Mr. Pighee seinen Unfall hatte, oder?«

»Nein. Aber Ray.«

»Ray?«

»Ray McGonigle. Er ist auch Techniker. Er war als erster zur Stelle.«

»Ist er da?«

»Er war da, aber jetzt ist er wohl in der Mittagspause.«

»Schon?«

»Wir überwachen mehrere Kulturen gleichzeitig, und deshalb muß immer einer von uns da sein. Er ist früh gegangen. Wenn er zurückkommt, bin ich dran, in knapp einer Stunde. Er ist gerade erst weg.«

»Wissen Sie, wo er hingegangen ist? Gibt es irgendein Lokal, in dem ich ihn abpassen könnte?« 

»Er hat das Gelände verlassen. Wollte noch ein paar Platten kaufen, hat er gesagt. Es gefällt ihm hier nicht besonders, er geht mittags oft weg.«

»Gefällt es Ihnen?«

»Für mich ist es einfacher, ich bin nicht ehrgeizig. Im Gegensatz zu Ray. Hier herrscht ein solches Gerangel. Man muß schon ein Genie sein, sonst kommt man nicht weiter.«

»Ist Ray ein Genie?«

»Na ja, er ist schwarz«, sagte sie. »Und wenn er…«

Ein lauter Ruf übertönte unser Gespräch. »Sonia!«

»O Gott. Meine Kulturen!«

Sie lief den Flur hinunter auf eine Tür zu, durch die eine wütende Marcia Merom ihren Kopf gesteckt hatte. Ich wandte mich diskret ab und hörte noch, wie die Tür hinter der sündigen Technikerin ins Schloß fiel.

Wieder einmal war ich allein im Flur.

Ich verließ das Gebäude und ging zurück zum Sicherheitstrakt am Haupteingang, wo ich meinen Weggang schriftlich niederlegte. Dann ging ich hinüber ins Verwaltungsbüro der Klinischen Forschung.

Dr. Jay Dundrees Sekretärin war diesmal nicht beim Essen, als ich in ihr Büro kam. Das war immerhin schon etwas. »Sie sind immer noch zu dünn«, sagte ich.

»Was? Oh.«

»Ja, ich bin es schon wieder. Ist Dr. Dundree da?«

»Er ist da drin«, sagte sie, »aber ich weiß nicht, ob er Sie sehen will.«

Ich gab ihr meine Karte, nachdem ich John Pighees Namen auf die Rückseite geschrieben hatte. »Geben Sie ihm das, und warten Sie’s ab.«

Sie ließ mich allein, und ich dachte noch einmal darüber nach, weswegen ich gekommen war.

Die Sekretärin lächelte, als sie zurückkam. »Er ist bereit, Sie zu empfangen«, sagte sie.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich wichtig bin.«

»Ja. Ich bin beeindruckt.«

Ich ging hinein zu Dundree.

In seinem Büro verzichtete er auf den Laborkittel und trug statt dessen einen angeberischen Dreiteiler. Er stand auf, als ich eintrat, machte aber keinen besonders fröhlichen Eindruck. »Ich dachte, wir hätten diese Angelegenheit gestern geregelt«, sagte er.

»Und ich sagte Ihnen, daß ich meiner Klientin Bericht erstatten würde.« 

»Und wer ist diese Klientin?«

»Pighees Schwester.« Er nickte langsam und setzte sich. Ich setzte mich ebenfalls und sah ihn an. »Und sie ist nicht zufrieden.«

»Aber warum nicht?«

»Wir haben unsere eigenen Ärzte konsultiert, und die sehen keinen medizinischen Grund für den Ausschluß von Besuchern. Selbst wenn es ihnen langweilig würde, dazusitzen und zuzusehen, wie Pighee nicht aufwacht. Wir können uns das Besuchsverbot Ihrer Klinik nur auf zwei Arten erklären…«

»Und die wären?«

»Entweder betreiben Sie den Ausschluß von Besuchern willkürlich und ohne zwingende Gründe…«

»Ja?«

»Oder es gibt einen Grund für das Besuchsverbot, den Sie uns noch nicht genannt haben. Jedenfalls werden wir die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen.«       

»Was haben Sie vor?«

Ich sagte es nicht noch einmal. Er hatte mich gut genug verstanden.

»Das«, sagte er nach einer ganzen Weile, »sprengt nun doch jegliches Maß.«

»Sowas Ähnliches ist mit John Pighee wohl auch passiert.«

»Ich habe mich wohl unglücklich ausgedrückt. Aber Sie - Ihre Klientin - scheint wirklich das gesunde Maß zu verlieren. Es ist gewiß keine leichte Zeit und keine leichte Situation für sie, und ich versichere Ihnen, daß wir von Loftus es aufs tiefste bedauern, wenn unseren Mitarbeitern etwas zustößt, egal ob im Dienst oder in der Freizeit. Um so mehr, wenn es sich um eine so ernste Verletzung handelt, wie es hier der Fall zu sein scheint.«

»Sie erlauben mir also, ihn zu besuchen?«

Er hob abwehrend die Hände. »Das ist nicht meine Entscheidung. Darüber haben wir doch gestern schon gesprochen.«

»Versuchen Sie nicht, mir weiszumachen, daß Sie keinen Einfluß auf Dr. Meroms Entscheidungen haben, ob jemand an John Pighees Bett sitzen darf oder nicht. Sie können bestimmt, wenn Sie nur wollen.«

»Nun ja«, sagte er. »Ich nehme an, ich könnte mal ein Wörtchen mit Dr. Merom sprechen.«

»Wenn Sie den Namen Loftus nicht in der Zeitung sehen wollen, tun Sie das bitte.«

»Aber die Entscheidung, die letzte Entscheidung, muß bei ihr liegen.«

»Ich sehe Sie vor Gericht«, sagte ich sanft.

»Dieses Vorgehen scheint mir doch einigermaßen übertrieben.«

»Für Sie vielleicht, aber nicht unbedingt für Mr. Pighees Schwester.«

»Ich werde heute mit Dr. Merom reden«, sagte er. »Und falls sie mit Rücksicht auf Mrs. Thomas’ schwesterliche Gefühle ihre Entscheidung noch einmal überdenken sollte, werde ich…« Er zögerte. »Würden Sie mir den Namen und die Adresse seiner Schwester geben, so daß wir uns direkt mit ihr in Verbindung setzen können. Wir hier bei Loftus denken gerne, daß wir die besten Entscheidungen für unsere Leute treffen, aber wenn wir tatsächlich mal einen Fehler machen, möchten wir uns auch gern persönlich dafür entschuldigen. Wenn sich die Dinge in dieser Weise entwickeln sollten, werden wir natürlich Ihren Anteil an dem Ganzen voll anerkennen. Sie waren schließlich derjenige, der uns darauf aufmerksam gemacht hat.«

Ich gab ihm Mrs. Thomas’ Namen und Adresse. Da er sie durch einen Anruf bei Linn Pighee ohne Schwierigkeiten herausbekommen hätte.

*

Unten angekommen, konnte ich mich nicht entschließen, schon zum Parkplatz und zu meinem Lieferwagen zurückzugehen. Ich hielt Ausschau nach einem Gebäude mit P. Henry Rushs Namen darauf. Schließlich fragte ich jemanden und gelangte zu der Sekretärin, die vor der Direktion den Cerberus spielte. Sie musterte mich kalt. »Haben Sie einen Termin?«

»Nein. Aber es geht um einen Mann namens Pighee, der auf dem Firmengelände einen Unfall hatte.«

Sie rief Rushs Sekretärin für mich an. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Mr. Rush ist im Augenblick außer Landes und nicht erreichbar.«

Ich hinterließ meine Karte, auf deren Rückseite ich John Pighees Namen notiert hatte und die die Sekretärin, wie sie mir hoch und heilig versprach, so schnell wie möglich an Rushs Sekretärin weitergeben wollte.