12

Zwei Durchbrüche in weniger als einem halben Tag. Ich ging zurück zu Sam, die geduldig in meinem Wagen gewartet hatte.

»Ich habe die Leute beobachtet, die vorbeigegangen sind«, sagte sie. »Warum machst du so ein unglückliches Gesicht?«

»Weil ich meinen Job gemacht habe. Wieder einmal«, sagte ich.

»Ist das nicht gut?«

»Es sind da ein paar Sachen ans Tageslicht gekommen.«

»Wie bitte?«

Ich erklärte ihr die offenkundige Eigenartigkeit der finanziellen Situation der Pighees, während ich mir gleichzeitig Notizen über mein Gespräch mit P. Henry Rush machte.

Aber Sam interessierte sich weniger für die Frage der Abfindung als für die Notizen. »Dauert es nicht furchtbar lange, wenn du das für jedes deiner Gespräche machst?«

»Doch«, sagte ich.

Als ich fertig war, fuhr ich fort: »Aber sie helfen mir beim Nachdenken. Wenn ich meine Notizen schon sehr bald nach einem Gespräch mache, erinnere ich mich beinahe an alles, was gesagt wurde, und manchmal, wenn ich sie mir später noch einmal durchlese, sehe ich die Dinge klarer als während des Gesprächs selbst.«

»Oh«, sagte Sam. Nicht übermäßig beeindruckt. Den wenigsten Kindern imponiert es, wenn man erst auf Umwegen ans Ziel kommt.

»Haben wir schon gegessen?« 

»Nein«, sagte sie.

»Willst du irgendwo essen gehen?«

Es lag ihr offensichtlich auf der Zunge zu fragen, ob ich es mir leisten konnte, aber sie sagte: »Okay.«

Ich nahm sie mit zu Bud’s Dugout. Während Mom sich ihren Weg durch das Ende des Mittagsansturms bahnte, spielten wir Flipper. Ein Flipper für jeden, und als wir unsere ersten Freispiele bekamen, sagte Sam: »Das macht Spaß.« In dem Tonfall eines Kindes, das sich über solcherlei Zerstreuung eigentlich erhaben fühlt. Eben eine Schülerin von Madame Graumier.

»Natürlich tut es das«, sagte ich herablassend. »Und es trägt zum Unterhalt deiner Großmutter bei. Du kannst deiner Mutter erzählen, daß ich regelmäßige Beiträge zum Unterhalt deiner Großmutter leiste.«

»Paß auf, du hättest beinahe deinen Ball verloren.«       

Ich verlor ihn tatsächlich.

»Oh, Daddy! Laß mich allein spielen!«

*

Nach dem Mittagessen ließ ich Sam bei Mom, damit sie ihr beim Abwaschen half, und fuhr selbst nach Beech Grove. Gegen halb vier kam ich dort an.

Ich beschloß jedoch, zuerst einen Besuch bei Mrs. Pighee zu machen, bevor ich zu meiner Klientin ging. Ich klingelte am Haus. Keine Reaktion, also klingelte ich noch mal.

»Gehen Sie weg, ja? Ich versuche zu schlafen.«

Bevor ich noch irgend etwas tun konnte, wurde innen der Schlüssel umgedreht, und Linn Pighee öffnete die Tür. Sie trug einen Bademantel und ein Glas und sagte: »Oh, Mr. Albert ist zurückgekommen, um meine Wenigkeit zu besuchen. Hallo, Mr. Albert.«

»Hallo, Mrs. Pighee. Kann ich auf ein Wort hereinkommen?«

Sie lächelte. »Dafür ist es eigentlich schon zu spät«, sagte sie. »Weil ich nämlich schon ein kleines bißchen drüber bin.« Sie trat nicht beiseite, um mich einzulassen.

Ich sagte: »Ich bin froh, daß ich Sie zu Hause angetroffen habe.«

»Das ist der einzige Ort, wo Sie mich überhaupt antreffen.« Sie hielt inne. »Sagen Sie, würden Sie vielleicht gern reinkommen?«

»Ja, bitte«, sagte ich.

Sie führte mich auf die Veranda mit dem Moskitonetz und nahm auf dem Liegesofa wieder ihre Position vom Vortag ein. Ich setzte mich auf meinen Stuhl. Unser letztes Gespräch hatte ein jähes Ende gefunden. »Das könnte langsam zur Gewohnheit werden.«

»Ach, wirklich?« fragte sie rhetorisch. »Was wollen Sie, Mr. Albert?«

»Samson«, sagte ich.

»Sam«, sagte sie.

»Nein, Albert Samson«, sagte ich.

Sie wartete.

»Ich hatte heute ein ziemlich beunruhigendes Gespräch.«

»Wie traurig.«

»Beunruhigend, weil ich glaube, daß es Ihre finanzielle Zukunft ein wenig zweifelhaft erscheinen läßt.« 

Sie saß eine Weile mit gerunzelter Stirn da. Und sagte dann: »Ich wußte gar nicht, daß ich der Gegenstand Ihrer Nachforschungen bin.«

»Sind Sie auch nicht. Ein Mann hat voreilig den Schluß gezogen, daß ich für Sie arbeite, und mir etwas erzählt, was mich stutzig macht.«

»Und das wäre?«

»Das wäre zum Beispiel die Frage, warum Ihr Mann seine Unfallversicherung mit einem anderen Mann, nämlich P. Henry Rush, abgeschlossen hat statt mit Loftus oder deren Versicherung.«

»Hat er das?«

»Ja.«

»Ist das schlimm?«

»Es ist ungewöhnlich«, was sie nicht weiter beeindruckte, »und es ist riskant, weil Ihre Ansprüche sich jetzt nur gegen das Vermögen dieses Mannes richten statt gegen das Vermögen der Versicherungsgesellschaft.«

»Hm. Das hört sich nicht sehr gut an.« Sie nippte an ihrem Glas. Ich wartete. Sie sagte nichts mehr, daher fragte ich: »Warum haben Sie das getan?«

»Ich war es nicht. Das hat alles Walter in die Hand genommen.«

»Aber er hat doch gewiß auf Ihre Anweisung hin gehandelt. Er muß Ihnen die verschiedenen Möglichkeiten erklärt und Ihnen eine vorgeschlagen haben. Und er muß Ihnen die Gründe dafür genannt haben und so weiter.«

»Nichts dergleichen.«

»Aber Sie haben doch bestimmt irgendwelche Papiere unterzeichnet.«

Sie schüttelte den Kopf. »Walter ist ein paarmal hierhergekommen. Er hat mir gesagt, daß ich weiter Johns Gehalt bekäme und was ich bekommen würde, wenn John stirbt. Ich habe ihm gesagt, daß ich nicht darüber nachdenken möchte, also verwaltet er die ganzen Geldangelegenheiten, und ich schreibe einfach Schecks aus, wenn ich Bargeld will. Nicht, daß ich besonders viel wollte. Ich habe nicht genug Energie zum Geldausgeben.« Sie sah mich prüfend an und sagte: »Sie wirken überrascht.«

»Normalerweise wird so etwas anders gehandhabt. Ich verstehe das nicht. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mal mit Ihrem Rechtsanwalt rede?«

»Ich habe nichts dagegen.«

»Würden Sie mir eine Vollmacht geben, damit ich mir die Abmachungen, die er mit Loftus und Henry Rush getroffen hat, ansehen kann?«

»Rush«, sagte sie langsam. »Ich glaube, so hieß der Mann, der mir von dem Unfall erzählt hat.«

»Er war das?«

»Er war furchtbar aufgeregt. Kam damals noch in der Nacht zu mir. Er war wirklich sehr zittrig. Eigentlich hätte er gar nicht fahren dürfen, so zittrig, wie er war.«

»Ist es in Ordnung, wenn Weston mir die entsprechenden Papiere zeigt, Mrs. Pighee?«

»Hm? Oh, natürlich. Völlig einverstanden.«

»Er wird Sie wahrscheinlich anrufen, damit Sie ihm das bestätigen.«

Sie zuckte die Achseln. »Aber warum interessiert Sie das, Mr. Albert?«

Ich lächelte. »Ich verstehe nicht, was da vorgeht, und ich kann nicht schlafen, wenn ich etwas nicht verstehe.«

»Ich kann nicht schlafen, wenn ich etwas verstehe«, sagte sie. Sie mixte sich einen neuen Drink. »Möchten Sie etwas zu trinken?«

»Nein, danke.«

»Was ist los, trinken Sie nicht mit einer Dame, die trinkt?«

»Ich habe keinen Durst«, sagte ich.

Sie kostete ihre neue Mischung und sagte: »Ich dachte, Sie arbeiten für meine geliebte Schwägerin.«

»Das tue ich auch. Aber ich habe ihren Auftrag so gut wie erledigt. Es kann jetzt nicht mehr lange dauern.«

»Sie wollte ihn besuchen, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Verflixt, das sollte doch keine große Sache sein.«

»Da bin ich Ihrer Meinung.«

»Ich hoffe, sie hat Sie im voraus bezahlt.«

Mein Schweigen verriet das Gegenteil.

»Schwester Thomas mit dem gebrochenen Herzen. Sie ist die knickerigste Frau in ganz Beech Grove, und wenn Sie ihr Kredit geben, sind Sie der letzte aus der Gattung der Optimisten.«

»Bitte sagen Sie nicht so was«, sagte ich.

Sie zuckte die Achseln, aber ohne besonderes Mitleid.

»Wer hat ihr von Johns Unfall erzählt?«

»Ich. Am Tag, nachdem dieser Mann hier war. Am Nachmittag. Am Morgen habe ich nicht dran gedacht.«

Ich sagte nichts.

Plötzlich setzte sie sich auf.

»Was ist los?« sagte ich.

»Ihre Socken.«

»Was ist damit?« Ich warf einen Blick darauf. »Gütiger Gott. Zwei verschiedene.«

Sie lachte. Ich dachte einen Augenblick nach und versuchte mich zu erinnern, was aus dem anderen gelben und dem anderen roten geworden war.

Nachdem ihr Gelächter abgeklungen war, sagte ich: »Haben Sie eine Vorstellung davon, was Ihr Mann in den Forschungslabors von Loftus tat? Ich habe mehrere Leute gefragt, und sie schienen alle nicht zu wissen, was er eigentlich vorhatte.«

»Mit seiner Arbeit, meinen Sie?«

»Ja.«

»Keine Ahnung.«

»Und außerhalb seiner Arbeit?«

»Das weiß ich auch nicht«, sagte sie, nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Glas und sah unglücklich aus. Ich wollte gerade etwas sagen, als sie klirrend ihr Glas auf den Tisch stellte und bemerkte: »Ihre Socken.«

»Ich habe…«

»Sie müssen sich ziemlich dumm Vorkommen deswegen. Ich werde Zusehen, daß Sie sich wohler fühlen. Ich ziehe jetzt etwas an, damit Sie sich behaglicher fühlen.« Sie stand ein wenig unsicher auf und verließ die Veranda. Sie war etwa fünf Minuten weg. Ich fühlte mich sehr unbehaglich.

»Sind Sie fertig?« rief sie schließlich von der Tür aus.

Ich wartete.

Sie kam auf die Veranda herausmarschiert und hielt ihren Morgenmantel hoch, um ein Paar knielanger, gestrickter Strümpfe in Kastanienbraun und Orange zu zeigen. »Sind die nicht toll?« fragte sie. »Ich habe sie gestern in einer Schublade gefunden. Sie haben Simmy gehört, einer meiner Töchter. Sie hat sie in einem billigen Warenhaus gekauft, als sie sechs war. Sechs! Sie wollte mir nicht erlauben, sie zurückzubringen, weil sie in die Strümpfe hineinwachsen wollte. Sind sie nicht einfach zum Schreien! Ich habe so gelacht, als ich sie fand. Was Kinder sich alles in den Kopf setzen! Haben Sie schon je so was Komisches gesehen? Ich habe gelacht und gelacht, bis ich weinen mußte.« Sie lachte und fing dann an zu weinen. Ich stand auf und nahm sie in die Arme.

»Sie wären jetzt zwölf geworden. Warum sollte ich John hassen?« fragte sie sich selbst. »Er hat doch nur mein Leben ruiniert und mir dann die einzige Entschädigung dafür genommen.«

»Es tut mir leid«, sagte ich.

»Weswegen?« Sie trat einen Schritt zurück, und wir sahen einander an.

»Ich fühle mich jetzt wohler«, sagte ich.

»Nun, Sie könnten schlimmer dran sein«, sagte sie. »Spendieren Sie uns eine Umarmung, Mr. Albert. Jede gute Frau sollte dreimal am Tag umarmt werden.«

Ich umarmte sie.

»Ich bin so müde«, sagte sie, »so müde.« Ich bettete sie auf ihr Sofa und zupfte den Morgenmantel für sie zurecht. Dann ging ich zurück durchs Haus und ins Freie.