Ein paar Minuten vor acht tauchte Raymond McGonigle auf.
»Lange nicht gesehen, wie?« sagte ich.
»Dein alter Herr ist ein komischer alter Herr«, sagte er zu Sam.
Linn stand von ihrem Stuhl auf und sagte: »Ich bin sehr müde.«
»Das ist Ray McGonigle«, sagte Sam. »Das ist Linn Pighee.«
»Pighee?« fragte McGonigle.
»John Pighees Frau«, sagte Sam. »Der Mann, der bei dieser Explosion verletzt wurde.«
»Oh«, seine Augen weiteten sich und wurden dann schmal. »Erfreut, Sie kennenzulernen.« Er schüttelte ihr die Hand.
»Sie wohnt im Augenblick hier«, sagte Sam.
»Ich gehe zu Bett«, sagte Linn und verließ das Zimmer.
»Nach dreizehneinhalb Monaten zwischen daheim und Sir Jeff«, sagte Ray, »sind Sie beide für mich der Himmel auf Erden.«
»Bier?« fragte Sam.
»Ja, bitte. Mann, das bei Loftus ist wirklich keine reine Freude. Ihr Mann hat Glück, daß er da raus ist.«
»Ach, wirklich?«
»Nun ja, ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht hatte er es ja auch besser als ich.«
»Ich bin mir nicht im klaren darüber, wieviel er eigentlich dort gearbeitet hat«, sagte ich. »Hat er Teilzeit gearbeitet oder Vollzeit?«
»Das kann ich nicht sagen, weil er meistens zu anderen Zeiten gearbeitet hat als ich - nachmittags und abends -, aber für Teilzeit war er ziemlich viel da. Ich weiß immer noch nicht, woran er eigentlich gearbeitet hat. Heute habe ich ein paar Techniker gefragt, und sie wußten es auch nicht. Ich glaube nicht, daß ich das noch lange aushalten werde. Meine einzige Chance besteht darin, zu einem der Feldversuche irgendwo versetzt zu werden. Sonst halte ich das einfach nicht durch.«
»Feldversuche ?«
»Sie probieren neue Medikamente an Menschen aus, da unten in Afrika und so. Wenn sie nicht für Versuche in den Krankenhäusern hier geeignet sind.«
»Wie in ihrer Klinik im Entropist Hospital.«
»Ja, ich glaube wohl.«
»Was passiert da eigentlich?«
»Das weiß ich auch nicht. Eine Art Unfallforschung, glaube ich.«
»Aber Sie arbeiten doch mit Dr. Merom zusammen?«
»Ja, manchmal schon. Weshalb fragen Sie?«
»Ist sie nicht zuständig für die Arbeit in der Entropist Klinik?«
»Ist sie das? Wenn ja, dann verbringt sie da bestimmt nicht viel Zeit, weil sie nämlich eine Reihe von Projekten in Forschung Drei leitet.«
Es klopfte an der Tür.
Ich stand auf, um zu öffnen. Sam holte Ray noch ein Bier. Es war meine Herzdame mit ihrer Tochter Lucy. Ich stellte die beiden vor. Sam stellte sich selbst und Ray vor, der fragte: »Und wer ist das, bitte?«
»Das ist Daddys Freundin.«
»Ach, wirklich?« fragte er und warf einen Blick in Richtung Schlafzimmertür. »Wow. Das ist wirklich eine irre Bude hier. Sie sind ein komischer Mann, Mann.«
»Wem gehört das neue Bett im Büro, Albert?« fragte meine Herzdame.
»Mir«, sagte ich. »Das ist eine lange Geschichte.«
Dann erzählte ich sie. Auch wie es dazu kam, daß eine fremde Frau in meinem anderen Bett schlief. Ich habe nur eben einen Spaziergang im Wald gemacht, ja? Und als ich zurückkam, hatte nicht nur jemand meinen ganzen Haferbrei aufgegessen, sondern…
Meine Herzdame glaubte mir, auch wenn Ray McGonigle es nicht tat.
*
Ich war schon vor neun aus den Federn. Früh für einen Sonntag. Früh für jeden Tag.
Und anstelle eines Gruppenfrühstücks nahm ich Linn Pighees Schlüssel und machte mich auf den Weg nach Beech Grove.
Als ich aus dem Wagen stieg, nahm ich zu meiner Überraschung eine Bewegung auf der Veranda von Linn Pighees Haus wahr. Ich ging darauf zu und sah Mrs. Thomas die Tür hinter sich schließen. Dann drehte sie sich um und bemerkte mich ebenfalls.
»Hallo, Mrs. Thomas«, sagte ich, um zu zeigen, daß ich ihr nichts nachtrug.
»Wenn Sie gekommen sind, um meine Schwägerin zu besuchen - sie schläft noch«, sagte Mrs. Thomas.
»Nicht in der Kirche?«
»Sie schläft immer lange«, sagte Mrs. Thomas, mit einer Stimme, die halb gedämpft und halb schrill klang.
»Sie ist früh ausgegangen, nicht wahr?« sagte ich. In Anbetracht des Mangels an familiären Gefühlen, den beide Schwägerinnen mir gegenüber hatten durchblicken lassen, interessierte es mich, was sie im Haus getan hatte.
»Ich muß Johns Interessen wahren«, sagte Mrs. Thomas. Aber sie war ebenfalls überrascht, mich zu sehen. »Was tun Sie hier?« fragte sie, ohne lange um den heißen Brei herumzureden.
Mir war nicht danach zumute, ihr zu erzählen, daß ich gekommen war, um die Schecks und die Rechnungen ihres Bruders durchzusehen. »Ich bin mit meiner Arbeit für Sie fertig, das weiß ich«, sagte ich. »Gestern habe ich die Rechnung abgeschickt.«
»Die besser nicht zu hoch sein sollte«, sagte sie. »Sie haben nicht viel getan.«
»Ich habe für Sie eine Besuchserlaubnis bei Ihrem Bruder erwirkt, was genau das ist, was Sie wollten. Bis Sie zu dem Entschluß kamen, daß Sie doch nicht so besorgt sind, wie Sie dachten.«
»Es ging mir nur ums Prinzip«, sagte sie.
Wir standen auf der Veranda und warteten jeder darauf, daß der andere ging. Schließlich sagte sie: »Sie können klingeln, soviel Sie wollen. Mich geht das nichts an.«
Ich sah ihr nach, wie sie ums Haus ging. Erst als sie um die Ecke bog, blickte sie noch einmal zurück.
Im Haus selbst war alles sauber und ordentlich. Viel sauberer und ordentlicher als bei meinem letzten Besuch. Ich hatte eigentlich Unordnung erwartet. Vorurteile bezüglich verstörter Menschen legen die Erwartung eines unnormalen Chaos’ nahe. Wenn hier irgend etwas unnormal war, dann war es die Ordnung.
Dann fiel mir Mrs. Thomas wieder ein. Die gewohnt war, für ihren Bruder das Haus zu führen. Vielleicht waren ihre alten Gepflogenheiten mit ihr durchgegangen.
Ich fand die gesuchten Unterlagen von John Pighee ohne Schwierigkeiten, nachdem mir erst einmal klargeworden war, daß er ein eigenes Schlafzimmer hatte. Hier wurden längst keine Luftschlösser mehr gebaut.
Ich ging seine Bankunterlagen durch, entdeckte jedoch in der Unmenge von Zahlen Jahr für Jahr nichts Erhellendes. Dann sah ich mir die Papiere noch einmal etwas genauer an und machte eine Liste der jährlichen Einlagen auf seinem Giro- und seinem Sparkonto. Er hatte einen Taschenrechner, den ich benutzte, um die Zahlen an Ort und Stelle zusammenzurechnen. In dem Wissen, daß mir ohne dieses Gerät die Finger ausgegangen wären.
Aber abgesehen davon, daß er seine Karriere bei Sir Jeff mit etwa siebentausendfünfhundert Dollar im Jahr begonnen und diese Summe im Laufe ihrer fünf Jahre währenden Verbindung auf etwas weniger als zwölftausend Dollar erhöht hatte, schien es nichts weiter Dramatisches zu geben. Keine plötzlichen Aufwärtsbewegungen; keine plötzlichen Abwärtsbewegungen. Oberflächlich betrachtet bestätigten diese Dinge nur das, was ich ohnehin wußte: Jeder verdiente mehr Geld als ich.
Ich arbeitete mich von hinten nach vorn durch die eingelösten Schecks, wurde diese Beschäftigung aber nach zwei Jahren leid. Es gab nichts Ungewöhnliches, außer den regelmäßigen Unterhaltszahlungen an Mrs. Thomas. Die ganze Sache irritierte mich. John Pighees Leben war mir irgendwie zu durchsichtig. Viele streben nach dieser Art Kontrolle über die Parameter ihres Lebens, aber nur wenige sind auserwählt. Und wenn er einer dieser wenigen war, stimmte das nicht mit der Art von Aktivitäten überein, die ihn schließlich in die Luft fliegen ließen. Pighee war nicht verschuldet, er zahlte seine Rechnungen pünktlich und hatte mehr als dreitausend Dollar auf seinem Sparkonto. Eine unantastbare eiserne Reserve, die er tatsächlich niemals angetastet hatte.
Ich wandte mich von Pighees Papieren ab und kämmte Zimmer für Zimmer das Haus durch. Oben gab es neben den beiden großen Schlafzimmern ein spärlich möbliertes Gästezimmer und ein Zimmer mit Etagenbetten. Keiner dieser Räume wies irgendwelche verdächtigen Anzeichen dafür auf, daß er benutzt wurde. Aber es war deutlich zu sehen, welches Linn Pighees Hauptaufenthaltsorte waren, denn nur dort fanden sich die kleinen Spuren, die regelmäßige menschliche Benutzung hinterließ. Sie benutzte die Veranda, wo sie mich ausgefragt hatte, sie benutzte die Küche, und sie benutzte ihr Schlafzimmer. Alles andere sah unbewohnt aus. Alles andere sah aus, als hätte niemals jemand dort gewohnt. Selbst John Pighees Schlafzimmer. Wenn er ein ehrgeiziger Mann war - und darin stimmten alle überein dann umgab er sich jedenfalls nicht mit den traditionellen Egoverstärkern, die die meisten Männer benutzen, um jeden weiteren Schritt auf der Leiter zu feiern. Es gab keine phantastischen Stereoanlagen, keine teuren Hobbygeräte und keine kostspieligen Renovierungen.
Ich ging hinaus zu der Doppelgarage und fand nur einen Wagen vor. Einen kleinen 74er Ford; nichts Besonderes. Wahrscheinlich Linns Wagen. Die Scharniere an der Tür auf der leeren Seite der Garage schienen intakt zu sein. Aber ich war nicht in der Lage, durch bloßen Augenschein festzustellen, ob etwas, das sieben Monate lang unbenutzt war, sich davor irgendwann regelmäßigerer Benutzung erfreut hatte.
Ich stieg in den Wagen, der dort stand, und versuchte den Autoschlüssel an Linns Schlüsselring. Der Wagen sprang sofort an. Der Tank war halbvoll, und der Meilenzähler stand beinahe auf elftausend Meilen. Im Handschuhfach fand ich einige Serviceunterlagen sowie Versicherungspapiere. Alles auf dem neuesten Stand. Ich legte die Sachen zurück und ging wieder ins Haus. Statt sofort in John Pighees Zimmer zu gehen, ging ich in Linns Schlafzimmer, an den Schreibtisch, den sie dort hatte. Dann sammelte ich ihr Scheckbuch und einige Umschläge ein, die Rezepte und Kontoauszüge zu enthalten schienen, und nahm sie in das nächste Zimmer mit.
An der Schwelle von John Pighees Schlafzimmer hielt ich inne, denn plötzlich überfiel mich das machtvolle Gefühl einer unguten Vertrautheit mit der Situation. Es traf mich völlig unvorbereitet, traf mich wie ein Blitz. Die Sache erinnerte mich an zwei verschiedene Fälle, an denen ich früher mal gearbeitet hatte. Bei einem Fall hatte ich elende, langweilige Stunden damit zugebracht, Fotos von den finanziellen und sonstigen Unterlagen eines Mannes durchzugehen, der eine Art Doppelleben geführt hatte. Eines Mannes, der jetzt im Gefängnis saß. Bei dem anderen Fall hatte ich ein Haus durchgekämmt auf der Suche nach einem Kasten mit Karteikarten. Ich war müde geworden und hatte ein paar Stunden geschlafen. Das Haus - das Bett, auf dem ich geschlafen hatte - gehörten einem Toten, einem Ermordeten, einem Mann, der zu Lebzeiten Privatdetektiv gewesen war.
Keine der beiden Erinnerungen war besonders erfreulich.
Aber ich trat trotzdem in das Zimmer und setzte mich an Pighees Schreibtisch. Eine Weile kritzelte ich unentschlossen vor mich hin. Dann ging ich seine Schubladen durch, eine nach der anderen. Ich machte einen Stapel mit allem, was seine Finanzen betraf, was so gut wie alles war. Außerdem fand ich auch eine Pistole. Das führte mich Jahre zurück, in eine Zeit, in der ich einen Mann erschossen hatte, weil er etwas zu stehlen versuchte, das ich bewachen sollte. Noch eine Narbe. Ich packte alles zusammen und verließ das Haus. Und ließ die Waffe, wo ich sie gefunden hatte.