21

Ich ging zurück ins Büro, wo ich Sam vorfand, die Linn Pighee mit ernstem Blick musterte.

»Was ist los?« fragte ich sie.

»Sie will ihr Frühstück nicht essen«, sagte Sam.

»Ich habe keinen Hunger.« Linns Stimme klang sehr schwach.

»Sie müssen Ihre Kräfte beisammenhalten«, sagte ich. »Wir haben ein volles Programm für heute nachmittag.«

»Ich fühle mich wirklich nicht besonders wohl«, sagte Linn.

»Sie will nicht gehen, Daddy«, sagte Sam.

»Sie will nicht?« fragte ich scharf. »Sie wollen nicht?«

»Das habe ich nie gesagt«, sagte Linn.

»Aber Sie wollen doch nicht, oder?« fragte Sam.

»Keiner von uns will«, sagte ich.

»Ich gehe«, sagte Linn, »wenn Sie es für das beste halten.«

»Wenn wir herausfinden wollen, was mit Ihrem Mann los ist, müssen wir wohl gehen.«

»Glauben Sie wirklich, daß John irgendwo anders ist?« fragte Linn.

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Aber nach dem heutigen Tag werden wir manches viel besser wissen.«

»Du solltest ihr keine Hoffnungen machen, Daddy«, sagte Sam.

»Und du solltest nicht herumlaufen und den Leuten sagen, was sie wollen und was sie sollen«, fuhr ich sie an.

»Es geht ihr aber nicht gut! Sie sollte nicht ausgehen. Und du hast dich beschwert, als ich versucht habe, sie zu etwas zu drängen.«

»Streitet euch nicht«, sagte Linn klagend. »Mit mir ist schon alles in Ordnung. Ich habe nur letzte Nacht nicht so gut geschlafen. Ich mache jetzt ein Nickerchen, damit ich heute nachmittag fit bin.«

»Wollen Sie nicht erst etwas essen?« fragte ich.

»Ich versuch’s später noch mal«, sagte sie.

Sam und ich sahen zu, wie sie ins Schlafzimmer ging.

»Ich verstehe dich nicht, Daddy«, sagte Sam, sobald Linn die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Was soll das nun wieder heißen?«

»Sie möchte nicht gehen. Das sieht doch ein Blinder.«

»Aber sie möchte wissen, was mit ihrem Mann los ist. Die Leute haben oft widersprüchliche Wünsche. Und sie ist diejenige, die wählen muß.«

»Das verstehe ich«, sagte Sam scharf. »Ich bin nicht dumm. Aber was ich nicht verstehe, ist, daß du sie so dazu drängst. Du bist derjenige, der sie zu Entscheidungen drängt.«

Ich begann mich zu verteidigen. Hörte jedoch bald wieder damit auf. Sie hatte nicht ganz unrecht. Ich zuckte die Achseln.

»Warum muß sie unbedingt heute gehen? Warum nicht morgen?«

Nicht, daß es wahrscheinlich gewesen wäre, daß sie morgen mehr Lust dazu gehabt hätte. Aber ich sagte: »Ich habe einfach das Gefühl, daß es der richtige Zeitpunkt ist.«

Sam verstand es immer noch nicht.

»Ich fühle es, Sam. Ich fühle, daß es ein perfektes Timing ist. Das möchte ich nicht verlieren.«

»Das Gefühl?«

»Und die Konzentration. Ich hasse es, etwas sausen zu lassen, an dem ich hart gearbeitet habe. Ich habe eine Abmachung getroffen wegen einer Angelegenheit, die ich nicht verstehe. Einen Tag später bin ich mir vielleicht nicht mehr so sicher. Ich will das einfach nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.«

Sie schwieg eine Weile.

Das gab mir die Zeit, die ich brauchte, um mich selbst davon zu überzeugen, daß ich Linn nicht bedrängen würde. Wenn sie wirklich nicht gehen wollte, würde ich ihr nicht damit drohen, sie an Händen und Füßen zu fesseln und die Treppe hinunterzurollen. Wenn ihr Problem hauptsächlich ein psychisches war, würde ihr die Überwindung eines kleinen Hindernisses vielleicht dabei helfen, genug Selbstvertrauen aufzubauen, um die größeren anzugehen.

»Du und Mami, ihr müßt eine Menge Schwierigkeiten gehabt haben, als ihr noch zusammen wart«, sagte Sam.

»Was?«

»Ihr müßt doch einmal etwas füreinander empfunden haben. Du hättest das alles doch nicht grundlos weggeworfen.«

»Das habe ich auch nicht«, sagte ich, als ich nach einer Weile aus längst vergangenen Zeiten wieder auftauchte.

»Und genau genommen war auch nicht ich derjenige, der es weggeworfen hat.«

»Mami sagt das aber.«

»Ihr sprecht über mich?«

»Natürlich!« brach es aus ihr hervor. »Du bist mein Vater. Sie ist meine Mutter. Natürlich möchte ich etwas über dich wissen. Ich bin schließlich auch neugierig, weißt du?«

Und endlich wurde mir klar, warum ein lebenshungriges Kind sich ein paar Sommerwochen Zeit nahm, um mit einem alten Herrn herumzuhängen, den sie kaum jemals gesehen hatte, noch dazu in Indianapolis. Der Grund dafür war, daß es ihr alter Herr war und daß sie, hilflos in das Leben anderer Menschen hineingeworfen, wenig genug besaß, was ihr gehörte, ganz ihr gehörte.

»Wir… deine Mutter und ich… wir haben uns sozusagen kennengelernt zu einer Zeit, als wir beide dachten, wir wären etwas anderes, als wir waren, etwas anderes, als wir sind.«

»Sie glaubt, daß es dumm von dir ist, deine Zeit als Detektiv zu verschwenden.«

Trotz all der Jahre tat es weh.

»Und ich glaube, daß sie dumm ist, sich damit zufriedenzugeben, die Frau eines reichen Mannes zu sein. Das alles hat sie schon getan, während sie einfach nur die Tochter ihres reichen Vaters war. Sie hatte ’ne Menge drauf, unter all der Seide.«

»Tut es immer noch weh?«

Ich wollte ihr gegenüber nicht zugeben, was ich bereits mir gegenüber zugegeben hatte. »Gebranntes Kind…« sagte ich. In dem Versuch, mich undurchsichtig zu geben. Aber ich konnte ihr nichts vormachen.

»Das habe ich mir gedacht«, sagte sie. Dann, ohne jeglichen logischen Grund fuhr sie fort: »Du hast mir tolle Briefe geschrieben, als ich noch klein war.«

»Wir waren ja auch Spielkameraden. Briefspielkameraden. Jetzt bist du mir über den Kopf gewachsen.«

»Daddy, warum bist du Privatdetektiv geworden?«

»Damals kam es mir einfach so vor, als wäre es eine gute Idee. Und jetzt - tja, jetzt weiß ich viel mehr darüber als am Anfang. Und es wäre doch eine Schande, all das schöne Wissen einfach wegzuwerfen. Außerdem mag ich diese seltenen Gelegenheiten, alle ein bis zwei Jahre, wenn jemand mir etwas Interessantes erzählt.« 

»Aber warum gibst du dir dann nicht mehr Mühe damit? Warum arbeitest du nicht härter daran?«

»Es gibt keine Belohnung für harte Arbeit. Nur mehr Geld und weniger Zeit, es zu genießen.«

»Aber…«

»Und ich verschwende nicht gern meine Gedanken und meine Gefühle an Dinge, die nicht wirklich interessant sind. Ich hebe sie mir lieber für Situationen wie diese auf, so daß ich mein Bestes geben kann, selbst wenn das nicht gut genug ist.«

Die Antwort schien sie zu befriedigen. Auch wenn sie mich selbst nicht befriedigte.

Zumindest stellte sie keine weiteren Fragen mehr. Ich sagte: »Ich möchte Linn nicht dazu zwingen, heute nachmittag ins Krankenhaus zu fahren. Aber wenn sie dazu bereit ist, dann werde ich sie unterstützen.«

Gelassen akzeptierte Sam diese Rückkehr zu unserer Arbeit. »Könntest du nicht noch irgend etwas anderes für sie tun?«

»Irgendwelche Vorschläge?«   

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich weiß im Grunde genommen überhaupt nicht viel darüber, nicht wahr?«    

Den Rest des Nachmittags brachte ich damit zu, meine Notizen über den Fall mit ihr durchzugehen.

*

Als ich dachte, daß Linn eigentlich schon vor zehn Minuten hätte aufgestanden sein sollen, sagte ich: »Ist Linn wach?«

»Nein«, sagte Sam. »Wenn ja, hat sie jedenfalls nicht das kleinste Geräusch gemacht.«

»Ich geh’ mal nachsehen.«

Leise öffnete ich die Tür zum Schlafzimmer. Linn Pighee lag ganz still da, mit dem Gesicht zur Wand, so daß ich nicht sehen konnte, ob sie wach war oder nicht.

»Linn?« sagte ich.

Sie rührte sich nicht.

Noch einmal sagte ich ihren Namen.

Sie drehte sich um. Ihre Augen waren noch immer geschlossen, aber sie klammerte sich an der Bettkante fest. Sie machte merkwürdige Geräusche, atmete zuerst schwer und begann dann, leise zu weinen. Undeutlich hörte ich das Wort »John«. Einmal, zweimal. Dann drehte sie sich erneut zur Wand und war wieder still.

Ich verließ das Zimmer und dachte darüber nach, wieviel Streß sie wohl aushalten konnte. Und beschloß, erst Kaffee zu kochen, bevor ich sie endgültig aufweckte.

Ich goß den Kaffee gerade in drei Tassen, als die Schlafzimmertür sich öffnete und Linn lächelnd ins Zimmer trat.

»Ich gewöhne mich langsam an den Kittel Ihrer Mutter, Mr. Albert«, sagte sie. »Glauben Sie, ich kann ihn ihr abkaufen?«

»Kaum. Aber sie würde ihn Ihnen schenken. Etwas Kaffee?«

»Schrecklich gern«, sagte sie und nahm ihre Tasse entgegen. »Wann fahren wir los?«

»In knapp einer Stunde.«

»Wissen Sie«, sagte sie, »ich habe nichts Passendes anzuziehen.«

*

Sie beschloß, ihre Wahl unter Sams Kleidern zu treffen statt unter meinen, und als wir um zwanzig vor vier die Treppe hinunterstiegen, sahen sie wie Schwestern aus. Auf zu einem Spaziergang mit Papa. Linn war weiterhin fröhlich. Erst als wir an die Haustür kamen, schauderte sie und fragte: »Wie weit ist es bis zum Wagen?«

»Es ist ein Lieferwagen, und er steht um die Ecke.«

»Könntest du ihn nicht herbringen, Daddy?«

Ich konnte.

Sam setzte sich auf den Rücksitz auf die Kissen, die ich dort liegen hatte. »Ich habe nur selten zwei Passagiere gleichzeitig«, sagte ich.

»Sie sollten meinen Wagen holen«, sagte Linn. »Ich wäre sehr glücklich, wenn Sie ihn benutzen würden. Er sollte wirklich gefahren werden.«

Wir schwiegen eine Weile, während wir uns langsam dem Krankenhaus näherten. Danach sagte Linn: »Ich wette, Dougie macht sich Sorgen um mich. Er ist in dieser Hinsicht sehr verantwortungsbewußt, wissen Sie.«

»Wer ist Dougie?« fragte Sam.

»Das ist der Junge, der mir immer meine Medizin gebracht hat, als ich noch in Beech Grove war.«

»Wie nett von ihm«, sagte Sam.

»Ich bin sicher, daß Mrs. Thomas mittlerweile gemerkt hat, daß Sie nicht mehr zu Hause sind«, sagte ich. »Wenn er fragt, wird sie ihm schon Bescheid sagen.«

»Das denke ich auch«, sagte Linn.

Ich sah im Rückspiegel, wie Sams Gesicht sich in Falten legte. »Wahrscheinlich wird er in ein paar Tagen mal bei uns vorbeischauen, und dann können Sie es ihm selbst sagen.«

Linn sagte nichts.

Ich auch nicht.

»Dann geht es Ihnen bestimmt schon besser«, sagte Sam.

»Ich gehe nicht wieder zurück in dieses Haus«, sagte Linn. »Nicht, nachdem ich endlich rausgekommen bin. Nie wieder.«