Walter Weston saß im Warteraum der Loftus-Klinik. Er sah uns nicht gleich, als wir hereinkamen; er schien zu grübeln.
»Hallo, Walter«, sagte Linn, als wir direkt vor ihm standen. Er schnellte buchstäblich in die Höhe. »Linn! Hallo.«
»Hallo, Walter«, sagte sie noch einmal.
»Du siehst nicht gut aus. Setz dich.«
Sie tat es.
Er nickte mir zu und sah dann zu Sam hinüber. »Wer ist die junge Dame?«
»Meine Tochter«, sagte ich. »Aber sie ist außerdem auch ein Detektivlehrling. Familienunternehmen.«
Weston sagte nichts, strich sich nur das Haar aus der Stirn.
Sam fragte Linn, ob sie sich wohl fühle. Sie bejahte, aber ihrer Stimme fehlte die Überzeugungskraft, selbst in meinen Ohren.
»Bringen wir’s endlich hinter uns«, sagte Weston. »Wenn wir diese bizarre Angelegenheit schon über uns ergehen lassen müssen.«
»Wir sind noch nicht vollzählig«, sagte ich.
»Nein?«
»Mein Freund von der Polizei wollte eigentlich auch um vier hier sein.«
»Polizei?« sagte er. Aber er ging nicht weiter darauf ein, weil der Umschlag mit den gebrauchten Hundertern auch ihm nicht aus dem Sinn ging.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war fünf nach vier. »Wir können ebensogut schon mit den Vorbereitungen beginnen.« Ich ging zum Empfang und sagte: »Wir sind die Begleiter von Mrs. Linn Pighee. Wir wollen ihren Mann sehen, John Pighee.«
Die Schwester war dieselbe, mit der ich es auch vor vier Tagen zu tun gehabt hatte. Wortlos drehte sie sich um und rief in den Raum hinter ihr: »Evan!«
Der Rausschmeißer. Ich dachte, sie hätte ihn gerufen, damit er wieder einmal Blindekuh mit mir spielen konnte. Aber er kam zu uns herüber und ging vor uns her durch die Pendeltüren, hinein in die eigentliche Klinik.
Ich ging zurück zu meinen Leuten. Es war sieben nach vier. »Ich habe die Dinge ins Rollen gebracht«, sagte ich. Linn sah seekrank aus.
»Was genau ist dieser Freund von Ihnen bei der Polizei?« fragte Weston.
»Detective Lieutenant«, sagte ich, aber im Augenblick interessierte es mich weniger, was er war, als wo. Er hatte mir nicht versprochen zu kommen. »Er hat gesagt, er würde es versuchen«, sagte ich.
Hinter mir schwang eine Tür auf, und als ich mich umdrehte, fand ich mich Jay Dundree und Evan gegenüber.
»Mit so vielen Leuten habe ich nicht gerechnet«, sagte Dundree. Er runzelte die Stirn und machte nicht den Versuch, ein besonders erfreutes Gesicht zu zeigen. »Henry Rush sagte, Mrs. Pighee würde hier sein.«
»Das ist Mrs. Pighee«, sagte ich und stellte Linn vor. Dann Weston und Sam. Dundree sagte: »Dr. Merom ist soweit. Wollen wir hineingehen?«
»Ich würde gern noch eine Weile hier sitzenbleiben.«
Dundree sah mich an; ich sah Linn an. Sam vermittelte. »Ich bleibe hier bei ihr, Daddy. Du und Mr. Weston, ihr könnt schon mal anfangen. Er kennt doch Mr. Pighee, oder?«
*
Evan begleitete uns durch die Pendeltüren hinein in die Klinik. An der zweiten Tür links klopfte Dundree einmal an und führte uns dann in ein behagliches Arztbüro, in dem Marcia Merom bereits auf uns wartete. »Ich habe Dr. Merom gebeten«, sagte Dundree, »Mr. Pighees Zustand und seine Krankheitsgeschichte für uns zu beschreiben und die Behandlung, die er bisher erfahren hat, zu erklären. Dann werden wir zu ihm hineingehen.«
»Okay«, sagte ich.
»Der Patient«, begann sie, »kam in der Nacht des 27. Januar mit schweren Kopfverletzungen in die Klinik.« Sie beschrieb die Verletzungen ziemlich im Detail, aber ich stellte fest, daß meine Gedanken zu den zweiundzwanzigtausend Dollar wanderten, die Pighee ihr offensichtlich hinterlassen hatte. Ich sah Weston an und bemerkte, daß er sich bei der Vorstellung ihren Namen notiert hatte. Ich war ungeheuer neugierig, in welcher Beziehung Pighee zu ihr gestanden hatte. Mit straff nach hinten gekämmtem Haar und wachen Augen bot sie uns eine präzise Wiedergabe der Krankengeschichte - und ich konnte absolut nichts an ihr finden.
»Unserer Meinung nach«, fuhr sie fort, »wäre der Patient noch in jener Nacht gestorben, wenn man ihn in irgendeine andere Unfallklinik im Umkreis von vierhundert Meilen gebracht hätte. Zu seinem Glück und zum Glück seiner Familie hatte die Gesellschaft erst vor kurzem ein Forschungsprojekt begonnen, das in Verbindung mit der Entwicklung und Untersuchung möglicher chemotherapeutischer Hilfsmittel bei der Behandlung von schweren physischen Traumata steht. Das Anfangsproblem in solchen Fällen ist, wie Sie vielleicht wissen, die sehr kurze Zeit, in der es gelingen muß, die kritischen Körperfunktionen des Patienten zu stabilisieren. Sonst haben die natürlichen Heilungsmechanismen des Körpers keine Zeit, ihre Arbeit aufzunehmen, weil der Patient dann nämlich bereits tot ist.«
»Natürlich«, sagte ich.
»Wollen Sie, daß ich weiter ins Detail gehe?«
»Wir wollen den Patienten sehen.«
»Das habe ich gehört«, sagte sie. Sie erhob sich von ihrem Stuhl. Man führte uns in ein weiteres Zimmer, wo wir angezogen wurden: Gesichtsmasken, Haarnetze und lange Gewänder. Teil des Versuchs, eine überzeugende Schau abzuziehen, sonst nichts.
Dr. Merom führte uns in Pighees Zimmer.
Zuerst konnte ich gar nichts sehen. Um das, was sich schließlich als Bett erwies, stand ein ganzer Maschinenpark. Pighee steckte bis zum Hals in einem Plastiksack. Elektrische und mechanische Anschlüsse wuchsen wie Haare aus ihm heraus. Eine Maschine hing direkt über seiner Brust.
Sein Kopf war bis auf die Nase mit einem braunen Stoff verhüllt, der wie eine mit irgendwelchen Chemikalien imprägnierte Bandage aussah. Seine Augen und der Rest der linken Seite seines Gesichts waren bedeckt.
»Mein Gott«, sagte Weston. Es war kein schöner Anblick.
»Ich bitte Sie alle, dem Patienten nicht zu nahe zu kommen«, sagte Dr. Merom. Dundree, der hinter ihr stand, nickte langsam. »Ich werde die Apparaturen, die Sie vor sich sehen, nicht näher beschreiben. Nur ein paar von den offensichtlicheren Dingen.«
Welche die Monitore seines Herzens einschlossen, seines Atems, seiner Nierenfunktion, seiner Nährstoffaufnahme, der Körperausscheidungen, der Temperatur, des Salzhaushaltes, der verschiedenen Blutwerte und der Leberfunktion.
»Sind Sie zufrieden?« fragte Dundree uns.
»Ja«, sagte Weston scharf.
»Nein«, sagte ich. Dann, an Weston gewandt: »Sehen Sie ihn sich gut an.«
»Was soll ich mir da ansehen?«
»Ist das John Pighee?«
»Wer könnte das sagen?«
Dundree runzelte die Stirn. »Wollen Sie damit andeuten, daß das hier möglicherweise nicht John Pighee ist?«
»Genau«, sagte ich.
»Lächerlich.«
Wir diskutierten die Sache im Ankleideraum weiter. »Ich finde es nicht lächerlich«, sagte ich. »Wenn ihr keinen in seine Nähe lassen wollt, woher sollen wir dann wissen, wer er ist?«
»Ihre Phantasie muß mit Ihnen durchgehen, oder Sie sind krank. Das ist ganz eindeutig John Pighee.«
»Ich hätte gern einen Satz seiner Fingerabdrücke«, sagte ich. Nur, um meinen Beliebtheitsgrad zu einem neuen Weltkrekord aufzuschwingen.
Merom war gelassen, aber Dundree war außer sich vor Wut. »Was glauben Sie, wer Sie sind?« rief er. »Was sind Sie für ein Verrückter?«
»Ich glaube, ich bin der bevollmächtigte Repräsentant von Mrs. Linn Pighee, und ich habe das Recht, eine eindeutige Identifikation zu verlangen.«
Dundree wandte sich an Weston. »Sie sind der Anwalt. Stimmen Sie dieser… dieser beleidigenden Forderung zu?«
Weston schien sich ausgesprochen unwohl zu fühlen. Aber er entschied sich schließlich doch für die richtige Seite. »Wenn es ohne übertriebenes Risiko gemacht werden kann, sehe ich nicht ein, warum Sie dagegen sein sollten.«
Sie nahmen dem Patienten auf einem sterilen Glas Fingerabdrücke ab, und zehn Minuten später waren Weston und ich auf dem Weg aus dem Krankenhaus.
Aber bevor ich Dr. Merom verließ, sagte ich: »Ich hoffe, Sie nehmen das Ganze nicht persönlich. Ich versuche nur, im besten Interesse meiner Klientin zu handeln, so wie Sie wahrscheinlich im besten Interesse Ihres Patienten handeln.«
Sie machte keinen übermäßig liebenswerten Eindruck.
»Wie ist die Prognose für Pighee?« fuhr ich fort.
»Das kann man unmöglich sagen.«
»Er könnte also trotz allem immer noch sterben?«
»Das ist durchaus möglich, obwohl sein Zustand jetzt schon seit einiger Zeit stabil ist.«
»Was ist mit dem Gehirnschaden?« Das war das einzige Organ, auf das sie nicht eigens unsere Aufmerksamkeit gelenkt hatte.
»Wir überwachen natürlich seine zerebrale Aktivität«, sagte sie. »Das ist so ungefähr das einzige, was wir tun können. Es sähe besser aus, wenn er bei Bewußtsein wäre, aber das kann durchaus noch kommen.«
»Wenn er stirbt, hat es wenigstens eine gute Seite«, sagte ich mit gespielter Unbeschwertheit.
»Und die wäre?« fragte Dr. Merom.
»Ich kann dann einen Umschlag öffnen, den ich in meinem Büro habe. Ein Vermächtnis von John Pighee. Darf nur im Falle seines Todes geöffnet werden.«
Merom und Dundree tauschten Blicke miteinander, die für einen kurzen Moment Besorgnis, Angst und Verwirrung zeigten. Dann sagte Dr. Merom: »Nun, ich hoffe doch sehr, daß es dazu nicht kommen wird.«
Ich war nicht allzu stolz auf meine Bemerkung, aber zumindest hatte ich eine Reaktion bekommen. Wir gelangten an die Pendeltüren, und Weston und ich waren wieder zurück in der Besucherzone der Klinik.
Sam und Linn waren nicht da.
Die Krankenschwester hinter dem Schreibtisch kam meiner Frage zuvor. Sie sagte: »Der älteren Frau ist schlecht geworden, während sie hier gewartet hat. Die junge Dame hat sie zur Untersuchung in die Notaufnahme gebracht.«
»Nicht hier!« sagte ich, ohne nachzudenken.
Die Schwester verstand nur allzu schnell, was ich meinte. »Das ist eine Versuchsklinik«, sagte sie. »Wir nehmen hier nicht jeden.«
»Das war kein besonders erfolgreiches Unternehmen, Mr. Samson«, sagte Weston zu mir.
Beklommen tastete ich nach dem Fingerabdruckglas in meiner Tasche. Im Innersten wußte ich, daß es Pighees Fingerabdrücke waren und daß es Linn nicht gut ging.
Wir fanden Sam im Warteraum der Notaufnahme. Reglos und mit auf die Hände gestütztem Kopf saß sie da. Ich setzte mich neben sie und legte ihr meinen Arm um die Schultern.
»Man hat sie aufgenommen«, sagte Sam. »Mir ist nichts anderes eingefallen. Sie war sehr traurig, Daddy.«