24

Ich borgte mir fünfzehn Dollar von Sam und fünf von McGonigle und ein paar Zehncentstücke aus der Tasche meiner anderen Hose. Dann fuhr ich zurück zu Russell Fincastle. Seine Liste war sechs Seiten stark. Ich kaufte sie und fuhr dann auf direktem Weg wieder nach Hause, wo ich mich wie ein ausgeleierter Jo-Jo in meinen Sessel fallen ließ.

Sam und Ray hatten meine durcheinandergebrachten Besitztümer an einer der freien Wände aufgestapelt, ohne auch nur zu versuchen, sie zu sortieren oder sie an ihren alten Platz zurückzulegen. Sam war damit beschäftigt, uns ein Mittagessen zuzubereiten. Ich betrachtete mein Königreich. Beschloß, es bei den unordentlichen Stapeln zu belassen. Ich würde ohnehin bald umziehen.

Das Mittagessen bestand aus Gänsepastete auf heißen Pfannkuchen.

»Essen Sie immer so komische Sachen hier, Mann?« fragte Ray.

»Ich kaufe nur die Sorten mit einem Witz auf der Verpackung«, sagte ich. »He, warum sind Sie nicht bei der Arbeit?«

»Ich habe heute morgen einen Anruf vom Boss bekommen. Angeblich habe ich zu viele Überstunden gemacht, und da meinte er, daß ich die kompensieren und diese Woche Urlaub nehmen sollte.«

»Ist das nicht ein Glücksfall, Daddy?«

»Also habe ich diese junge Dame hier angerufen, und sie sagte, sie brauche ein paar Räder, und da bin ich rübergekommen.«

»Räder?«

»Ich mußte doch irgendwie ins Krankenhaus kommen, Daddy.«

»Konntest du zu ihr?«

Sams Gesicht wurde traurig. »Nein. Sie hat geschlafen. Wir haben fast eine Stunde gewartet, aber sie hat immer noch geschlafen.«

»Hast du rausgefunden, was mit ihr los ist?«

»Sie machen immer noch irgendwelche Untersuchungen. Aber sie haben gesagt, daß sie unterernährt ist. Sie hat ja auch die ganze Zeit hier bei uns kaum was gegessen. Ich habe wirklich ein schlechtes Gewissen deswegen.«

»Es dauert mehr als ein paar Tage, um in einen solchen Zustand zu kommen«, sagte ich. »Es hat sich schon ewig niemand mehr um sie gekümmert, und sie selbst hat auch keinen großen Drang verspürt, für sich zu sorgen.«

»Aber wir sorgen jetzt für sie, nicht wahr, Daddy?«

»Ja, Liebes«, sagte ich. »Wir sorgen jetzt für sie. Wenn wir auch nur die geringste Chance dazu bekommen.«

*

Ich setzte Sam an die Bearbeitung der Liste von Fincastle. Sie sollte Buch führen über jeden der Leute, die sich in dem Kalenderjahr vor Pighees Unfall aus Forschung Drei abgemeldet hatten. Ich hoffte auf Muster, irgendwelche Gesetzmäßigkeiten. Ich selbst machte mich noch einmal auf den Weg zu Lieutenant Miller.

»Aber sie haben mich ausgeraubt!«

»Jemand hat dich ausgeraubt«, sagte er. »Du weißt nicht, wer es war.«

»Ich glaube nicht an Zufälle«, sagte ich.

»Was für Zufälle?«

»Gestern in der Loftus-Klinik habe ich erwähnt, daß Pighee einen Umschlag hinterlassen hat, der erst nach seinem Tod geöffnet werden darf. Sie wirkten überrascht oder vielmehr besorgt. Ich sagte, der Umschlag sei in meinem Büro.«

»War er in deinem Büro?«

»Natürlich nicht. Der Anwalt der Pighees hat ihn. Aber am nächsten Tag wird mein Büro auf den Kopf gestellt, und aus lauter Frustration rauben sie mir neunhundertachtunddreißig Dollar.«

»Das ist eine Menge Zeug, um es offen herumliegen zu lassen.«

»Ich habe immer gern ein wenig Kleingeld zur Hand. Für den Fall, daß ich mal keine Lust habe, zur Bank zu gehen.«

»Aber wer immer es war, er hat das Geld genommen. Also weißt du nicht, ob sie hinter etwas anderem her waren.«

»Bis auf die Tatsache, daß alle meine Aktenordner rausgerissen wurden. Sie haben nicht die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt. Ich glaube nicht an Zufälle. Die einfachste Erklärung ist, daß die Loftus-Leute einen Burschen für diesen Einbruch engagiert haben. Er sollte nach dem Umschlag suchen, der nicht da war. Es gibt natürlich noch andere Möglichkeiten, aber das ist die einfachste, also akzeptiere ich sie als Arbeitshypothese. Man soll die Dinge nicht unnötig komplizieren.«

Er dachte darüber nach und sagte: »Für mich hört es sich nicht ganz so einfach an.«

»Die Schlußfolgerungen sind kompliziert.«

»Selbst wenn es stimmt«, sagte Miller, »ich verstehe nicht, was ich deiner Meinung nach in dieser Angelegenheit unternehmen soll.«

»Du findest auch, daß das Ganze stinkt?«

»Nicht gerade der Terminus technicus dafür«, aber er nickte.

»Also, was sollen wir als nächstes tun?« 

»Ich kann keinen Fall daraus machen, Albert. Was ist das Verbrechen, das ich aufklären soll? Da ist etwas Geld, für das es keine Erklärung gibt. Ein Einbruch in deinem Büro, das du für die Allgemeinheit offenhältst. Sowie eine gewisse Widerwilligkeit seitens der Ärzte, Verwandtenbesuche bei einem Mann zuzulassen, der schon tot wäre, wenn sie sich nicht so gut um ihn gekümmert hätten. Da ist ein kleines Geheimnis, was seine Arbeit betrifft - was war so gefährlich an dem, was er tat?« Er breitete die Hände aus und zog die Achseln so hoch, wie er nur konnte. »Aber wo ist der Hebel, mit dem ich ansetzen soll? Ich bin für Mord und Raub zuständig. Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich da hineinpasse.«

»Selbst inoffiziell?«

»Aber was denn? Was soll ich tun? Wie die Dinge liegen, kann ich die Sache mit dem Geld an die Steuerleute weiterleiten, und die werden sagen, daß er eine ihnen unbekannte Einkommensquelle gehabt haben muß. Dann werden sie das Geld nehmen und auf eine Erklärung warten, bis er aufwacht.«

»Nur daß es sehr unwahrscheinlich ist, daß er aufwachen wird.«

»Ich kann die Sicherheitsleute bitten, die Unterlagen aller Unfälle in den Loftus-Laboratorien durchzuchecken. Ich meine, Teufel, Albert! Was kann ich denn noch tun? Du lieferst mir absolut keine Handhabe.«

Also beschloß ich, ihm eine zu besorgen.

*

Während ich mit dem Lift nach unten fuhr, begann ich aus den Fakten, die ich hatte, einfache Schlüsse zu ziehen. Wie zum Beispiel das Geld in dem Umschlag. Angenommen, es kam von der unbekannten, aber gefährlichen Arbeit, die Pighee in Forschung Drei tat. Eine Arbeit, die explodiert war? Was für Dinge explodieren?

Und er hatte das Geld Marcia Merom hinterlassen. Schlußfolgerung: Er mochte sie… 

Und Merom, Dundree und Rush, die alle verhindern wollten, daß irgend jemand Pighee zu sehen bekam? Aus Angst, daß die Leute Fragen stellten, die dazu führen konnten, daß ihre geheime Arbeit nicht mehr geheim war.

Und das war… das war genau das, was ich herausfinden wollte.

Selbst wenn das bedeutete, daß ich größere Risiken eingehen mußte, als ich sie mir normalerweise gestattete. Risiken, die mich meine Lizenz kosten konnten. Ich lachte leise in mich hinein. So, wie die Dinge lagen, war meine Lizenz ohnehin nicht mehr viel wert.

Dr. Marcia Merom stand nur als »Merom, M.« im Telefonbuch. Bescheidenheit, kein Zweifel. Ich wählte ihre Nummer. Während es klingelte, legte ich mir zurecht, wie ich es anstellen wollte, daß sie mich auf eine Tasse Tee einlud. Aber nach fünfundzwanzigmaligem Klingeln hängte ich ein. Schon recht: Ich hatte ohnehin keinen Durst.       

Plan B. Ich ging zu der Adresse auf dem North Washington Boulevard und stellte wie erwartet fest, daß es sich um einen Wohnblock handelte. Aber nicht um eins dieser glänzenden, neuen Dinger. Es war ein Steinhaufen aus den Vierzigern, drei Stockwerke hoch. Gut in Schuß gehalten, mit Klimaanlagen, die aus den Fenstern herausragten, als seien diese von rechteckigen Parasiten befallen. Die von der Infektion verseuchten Fenster waren in der Überzahl.

Ich parkte auf der anderen Straßenseite und beobachtete das Haus eine Weile. Und wurde mit einem Mangel an verdächtigen Aktivitäten belohnt; das Gebäude war an einem Arbeitstag weitgehend leer. Also ging ich hinein in den Hausflur, wo ich Marcia Meroms Apartmentnummer sowie die Klingel fand, die ich schließlich auch betätigte. Viermal, und das mit Gefühl.

Nachdem weder in der Gegensprechanlage noch am Türöffner eine Reaktion erfolgte, befaßte ich mich mit dem Problem, wie ich ins Haus kommen sollte. Ich klingelte bei allen Apartments im ersten und zweiten Stock und wartete. Dann drückte ich noch einmal auf die Klingelknöpfe. Endlich kam ein Knistern aus der Gegensprechanlage. Eine männliche Stimme drang zu mir durch: »Wer ist denn da, in Dreiteufelsnamen?«

Mit meiner eigenen knisternden Fistelstimme sagte ich: »Ich bün briddel elektrischer rumbel stringrangl dringend signalialli farumsia fliemickallie Angestellter.«

Die Gegensprechanlage sagte: »Scheiße!« Der Türöffner summte. Ich war im Haus.

Die Treppen bis zum dritten Stock nahm ich im Laufschritt, nur für den Fall, daß mein Gesprächspartner aus der Gegensprechanlage seine Tür öffnen würde, um zu sehen, wen er da hereingelassen hatte.

Ich rang nach Luft. Dann drückte ich auf die Türklingel von 3 c. Ich erwartete keine Reaktion und versuchte es nur zweimal.

Mit einigen Dietrichen und einem Plastiklineal machte ich mich an die Arbeit.

Ich brauchte sieben Minuten, um mich davon zu überzeugen, daß Marcia Merom ein besseres Schloß an ihrer Tür hatte als der Durchschnitt. Die meisten Leute sichern ihre Türen mit Schlössern, die gut aussehen, aber schlecht schließen. Mit denen werde ich fertig.

Aber nun war ich allein mit Plan C.

Ich ging wieder nach draußen, stieg in den Wagen und fuhr um den Block herum in die Gasse hinter dem Gebäude. Dort blieb ich direkt hinter dem Haus stehen und stellte fest, welche Feuerleiter zu Marcia Meroms Wohnung hinaufführte. Der Besitz eines Lieferwagens ist immer ein Vorteil, wenn man versucht, mitten am Nachmittag in ein Apartmenthaus einzubrechen. Man sieht mehr nach einem Reparaturdienst aus.

Ich nahm ein paar Werkzeuge und stieg langsam die Leiter hinauf. Am Notausgang von Marcia Meroms Wohnung angelangt, beschloß ich, das Schloß zu vergessen und sofort zu Plan C, Unterplan b, überzugehen. Ich schlug den Kitt von einer Glasscheibe in der Tür ganz ab, zog mit einer Kombizange den Rahmen heraus und löste das Glas aus seinem Gestell.

Plötzlich spürte ich etwas hinten an meinem Bein. Ich war so überrascht, daß ich beinah das Glas fallen ließ.

Es war eine grauweiße Katze, die sich in der Hoffnung auf eine Geschenkmaus halbherzig an meinem Bein rieb. Dann rieb sie sich noch an meinem anderen Bein, aber auch das ohne große Überzeugung.

»Geh weg. Schhh«, flüsterte ich.

Die Katze sah mich an und faßte ihren eigenen Beschluß. Sie ging ein halbes Dutzend Stufen hinunter und setzte sich neben das Geländer. Sie beobachtete mich. Machte mich nervös. Wenn ich unartig bin, mag ich keine Zeugen.

»Schhh«, wiederholte ich. »Geh weg.«

Sie ignorierte mich. Gähnte nicht einmal und legte sich hin. Und ließ das schillernde Spektakel des Lebens vor ihren tigerbraunen Augen Revue passieren.

Ich habe ja schon ein paar ziemlich erniedrigende Dinge in meinem Leben getan, aber den Pausenclown für eine Katze zu machen - das war ein neuer Tiefpunkt. »Schhh«, sagte ich noch einmal, aber nicht mehr besonders hoffnungsvoll.

Ich legte das Glas auf den Treppenvorsprung neben der Tür und griff in das Fenster hinein, um die Tür von innen zu öffnen.

Ich bekam den Türriegel zu fassen.

Im selben Augenblick schlang sich eine Hand mit einem kraftvollen Griff um mein Handgelenk und zog. Mein Arm hatte kaum eine andere Wahl, als ins Innere zu folgen. Wo sich ein Körper von der anderen Seite der Tür dagegenpreßte.

Eine wütende Stimme sagte: »Keine Bewegung, Lee. Ich habe hier einen Revolver, der genau auf deinen Magen zielt, und ich weiß, wie man ihn benutzt.«

»Was benutzt?« fragte ich instinktiv. »Meinen Magen?«