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Ich wachte ungewöhnlich früh auf. Vor lauter Aufregung darüber, einen Job zu haben.

Das Leben im Entropist Hospital schien jedoch um zehn nach neun, als ich dort ankam, bereits in vollem Gang zu sein. Das Entropist ist eins der größten Krankenhäuser der Stadt - weder das feinste noch das schäbigste. In der Stadt stand es in dem Ruf, eine medizinische Forschungseinrichtung zu sein - ob zu Recht oder zu Unrecht, wußte ich nicht.

Am Empfangstisch fragte mich eine Krankenschwester mit Zahnpastalächeln: »Kann ich etwas für Sie tun, Sir?«

»Können Sie mir sagen, wann die Besuchszeiten sind, bitte?«

»Hat Ihre Frau ein Baby bekommen?« fragte sie.

»Wenn ja, hat es nichts mit mir zu tun.«

Von da an ging es mit unserer Beziehung abwärts. Am Ende war alles, was ich von ihr bekommen hatte, ein Zischen und ein vervielfältigtes Blatt, auf dem die Besuchszeiten für die verschiedenen Stationen aufgelistet waren. Die Loftus-Klinik selbst war nicht aufgeführt, aber ich fand einen Loftus-Pavillon.

Ich hatte nicht nach der Richtung gefragt und hatte -nachdem die Empfangsschwester siegreich aus einer Auseinandersetzung mit einer fetten Frau und einem kleinen Jungen hervorgegangen war - auch keine Lust mehr, mir ein weiteres Zischen einzuhandeln. Also ging ich einfach auf die nächstgelegenen Türen zu, die so aussahen, als führten sie eher in das Gebäude hinein als heraus.

Zwei Türen rechts und eine links später fand ich mich einem freundlichen Mann in einer Art Uniform gegenüber. »Sie gehen in die falsche Richtung, mein Sohn«, sagte er.

Genau das hatte meine Mutter auch gesagt, als ich in den fünfziger Jahren an die Ostküste ging. Und beide hatten sie recht.

*

Nach ihrem Spender benannte Stationen der großen Krankenhäuser spiegeln für gewöhnlich eher dessen Brieftasche als dessen Persönlichkeit wider. Der Prunk des Loftus-Pavillons schien das Wenige, was ich über Jeffrey Loftus wußte, den großen, alten Mann, der die Gesellschaft gegründet hatte, zu bestätigen. Er entsprach ganz dem Bild eines britischen Adligen und war vor langer Zeit einmal nach Indianapolis gekommen, um hier sein Glück zu machen. Mittlerweile war er Ende Achtzig, aber immer noch gut in Form. Im Fernsehen wurde er nie anders als Sir Jeff genannt, und anders als aus dem Fernsehen kannte ich ihn nicht. In den letzten zwanzig Jahren hatte er zu denen gehört, die die Modernisierung von Indianapolis vorantrieben. Einer der Burschen, die mich heimatlos machten. Er war sehr großzügig, wenn es um Bauprojekte ging, die man grob gesagt als »Hilfe fürs Volk« bezeichnen konnte - welche steuerlichen oder sonstigen Vorteile sie auch für den Spender selbst mit sich bringen mochten.

Nicht, daß Loftus etwas anderes gewesen wäre als eine relativ armselige Ausgabe von Carnegie; Loftus war nicht einmal der größte Pharmahersteller in der Stadt - diese Ehre gebührte ganz entschieden Eli Lilly & Company.

Aber aus welchem Grund auch immer, der Loftus-Pavillon unterschied sich in puncto Stil jedenfalls deutlich von dem altmodischen, eher nüchternen Charakter des übrigen Entropist-Hospital. Natürlich war es ein Neubau, aber er fiel vor allem durch seine so zweckmäßige Anlage auf. Im Erdgeschoß kam man, ohne Umwege direkt in die Aufnahme und zu einer kleinen Nische, in der man, wenn nötig, ungestört warten konnte. Der Pavillon machte mit seinen dicken Teppichen vor allem einen sehr wohlhabenden Eindruck, so, als wäre die väterliche Hand von Sir Jeff mit ein paar Extramünzen aus der Tasche gekommen, damit die Architekten wirklich ganze Arbeit leisten konnten.

Die Krankenschwester im Loftus-Pavilion war nicht dumm. Sie hatte scharfe Augen und erkannte in mir auf den ersten Blick den Feind. »Was wollen Sie?« fragte sie. 

»Ich möchte wissen, wann ich John Austin Pighee besuchen kann, bitte.« Ich glaube, ich habe wirklich bitte gesagt.    

»Mr. Pighee darf keine Besucher empfangen«, erwiderte sie, ohne zu zögern.   

»Warum nicht?«

Sie schien beleidigt darüber zu sein, daß man ihr eine andere als eine Wann- und Wo-Frage stellte. »Weil es eben so ist«, sagte sie. »Ansteckungsrisiko: Anordnung des Arztes.«

»Könnte ich dann bitte einmal mit seinem Arzt sprechen?«

»Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«

»Ich repräsentiere ein Mitglied von Mr. Pighees Familie, das ihn besuchen möchte und sich nicht damit zufriedengibt, von irgend jemandem am Empfangstisch abgespeist zu werden. Das reicht einfach nicht. Wenn es einen echten Grund gibt, warum er keinen Besuch haben darf, schön. Aber wir wollen mehr darüber wissen, und zwar von dem Arzt, der für seinen Fall zuständig ist.«

»Dr. Merom ist im Augenblick nicht im Haus.«

»Nun gut, dann möchte ich eben mit jemandem sprechen, der da ist«, sagte ich.

Sie drehte sich zu einem Mann in einem Büro um, das durch eine Wand und ein Fenster von dem Empfangstisch abgetrennt war. »Evan«, sagte sie.

Der Mann stand auf, und ich sah, daß er eine polizeiähnliche Uniform trug. Er war eindeutig ein Sicherheitsmann.

»Also, hören Sie doch…«, sagte ich.

Aber Evan kam, ohne zu zögern, auf mich zu, bis er neben mir vor dem Empfangstisch stand. »Sie wollen einen Mann besuchen, der nicht besucht werden darf«, begann er. Offensichtlich hatte er unseren Wortwechsel von Anfang an verfolgt. »Ich habe jedes Verständnis für Ihre Situation, glauben Sie mir. Aber ich denke, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich die ganze Sache einfach fallenlassen, denn wenn Sie weiterhin versuchen, diesen Mann zu sehen, kann niemand sagen, was geschehen wird. Sie könnten ihn infizieren oder schuld daran sein, daß er einen Rückfall erleidet. Nun, ich zeichne das schwärzest-mögliche Bild, wirklich das schwärzeste, aber wenn Sie diesen Mann infizieren, könnte er möglicherweise sogar sterben, nur weil Sie darauf bestanden haben, ihn zu sehen. Man könnte Sie vor Gericht stellen wegen Totschlags oder sogar wegen Mordes.«

Evan hatte keine Waffe, aber er hatte seine Zunge.

»Ich entnehme daraus, daß Sie mich nicht zu John Austin Pighee lassen wollen und daß Sie mich auch nicht mit dem diensthabenden Arzt sprechen lassen wollen. Ist das korrekt?«

»Er darf keinen Besuch empfangen«, sagte Evan nachdrücklich.

»Ich komme wieder«, sagte ich. Und ging.

Aber ich ging nicht so weit, wie sie es von mir erwarteten. Nur bis zu den Verwaltungsbüros des Krankenhauses.

»Ja?« sagte der Mann, der in dem Raum, an dem »Verwaltungschef« stand, am Schreibtisch saß. »Kann ich etwas für Sie tun?«

»Der Verwaltungschef möchte mich sprechen«, sage ich.

»Haben Sie eine Verabredung?« Er spähte in einen offenen Terminkalender.

»Besser, er spricht jetzt mit mir, als daß er wartet, bis mein Klient das Krankenhaus verklagt.«

»Ei… einen Augenblick«, sagte er und verschwand in einem weiteren Zimmer.

Es dauerte tatsächlich nur einen Augenblick.

Der Verwaltungschef war eine kleine, müde Frau mit sorgfältig frisierten, schon ein wenig spärlich gewordenen weißen Haaren. Ihre Stimme war fest in den Tiefen Indianas verwurzelt und ohne überflüssige Schnörkel. »Ich höre, daß Sie mich dringend sprechen wollen.«

Ich zeigte ihr meinen Ausweis, der bewies, daß ich ordnungsgemäß als Detektiv des Staates Indiana zugelassen war, und zwar gemäß der Indiana Acts von 1961, Kapitel 163.

»So, so, ein Privatdetektiv«, sagte sie nüchtern. Die Frau hatte also schon früher mit solchen wie mir zu tun gehabt. »Und in welcher Angelegenheit wollen Sie mich sprechen?«

»Ich habe eine Klientin, die ihren Bruder besuchen möchte und das nicht darf. Die Gründe, die man ihr dafür nennt, genügen ihr nicht.«

»Hmm«, sagte sie. »Ein Patient von uns?«

Ich nickte.

»Und der Name des Patienten?«

Ich nannte ihn ihr.

»Und wo liegt er? Welche Station?«

»Meine Klientin sagt, er liege in der ›Loftus-Klinik‹, aber ich habe nur etwas finden können, was ›Loftus-Pavillon‹ heißt.«

»Aaah«, sagte die Verwaltungschefin und entspannte sich.

»Und was genau soll dieses ›Aaah‹ heißen?«

»Nun, die Loftus-Klinik ist ein Teil des Loftus-Pavillons. Sie ist eine Versuchsstation, und ein Patient von dort kann durchaus unter anderen Auflagen stehen als die Patienten im übrigen Teil des Pavillons.«

»Versuchsstation?« fragte ich.

Sie gab mir keine Antwort. »Die Verwaltung der Loftus-Klinik ist nicht meine Sache.«

»Ich dachte, Sie wären die oberste Verwaltungschefin des Krankenhauses.«

»Die bin ich auch«, sagte sie. 

Ich wartete einen Augenblick auf eine Erklärung, aber es kam keine. »In der Klage, die meine Klientin erhebt, wird Ihr Name stehen«, sagte ich.

»Wenn Sie irgend etwas unternehmen, das mich involviert, werden Sie damit ins Leere laufen. Im Gegenzug für die Errichtung eines zweiundfünfzig Betten umfassenden Anbaus, genannt Loftus-Pavillon, behält Loftus Pharmazeutika die Kontrolle und die legale Verfügungsgewalt über eine zehn Betten umfassende Forschungseinheit, genannt Loftus-Klinik. Das Erdgeschoß des neuen Flügels umfaßt die Klinik sowie technische Einrichtungen und die Aufnahme. Die oberen Stockwerke, genannt Loftus-Pavillon, stehen unter meiner Aufsicht, aber wenn der Verwandte Ihrer Klientin in der Loftus-Klinik liegt, müßten Sie sich an die Gesellschaft wenden.«

»Und die ist völlig unabhängig?«

»Wir stellen das Basispersonal, Wartung, Material und einige Dienstleistungen. Unsere Sanitärabteilung besorgt die Wäsche für sie, und sie können unsere Kücheneinrichtungen mitbenutzen. Außerdem können sie unsere Spezialausrüstungen benutzen, und, nach Absprache, unsere Ärzte und Krankenschwestern zur Beratung hinzuziehen. Andere Dinge legen sie jedoch selbst fest, und zwar entsprechend ihren eigenen Bedürfnissen. Dazu gehören der Zutritt zum Krankenhaus, ihre allgemeine und spezieile Forschungspolitik, ihr reguläres medizinisches Personal und - für Ihre Zwecke noch wichtiger - das Besuchsrecht für ihre Patienten.«

»Und dazu gehört auch ein Rausschmeißer?«

»Ein Rausschmeißer?«

»Ein Bursche in Uniform, der Leute, die zu viele Fragen stellen, abwimmelt, indem er das Blaue vom Himmel herunterredet - und keinen Zweifel läßt, daß er einen notfalls mit bloßen Händen rauswerfen wird.«

»Nun«, sagte sie, »für Ihre Art von Problem ist es ein eigenes Krankenhaus.«

»Wer ist dafür zuständig?«

»Eine Forschungsabteilung. Die Klinische Forschung.«

*

Murrend fuhr ich los, in Richtung Süden. Aber ich wollte meinen Auftritt bei Loftus Pharmazeutika nicht von meinem kläglichen Empfang bei den verschiedenen Stellen des Entropist Hospital beeinflussen lassen, daher hielt ich an, um eine Tasse Kaffee zu trinken, und nutzte die Gelegenheit, um meine morgendlichen Gespräche für mein Notizbuch zu rekonstruieren.

Bürokratie ist Bürokratie ist Bürokratie, und die gewöhnliche Art und Weise, wie man hindurchkommt, ist, von Tür zu Tür zu gehen, bis man endlich jemanden findet, der für irgend etwas zuständig ist. Abgesehen von ein paar Kleinigkeiten war die Frage nun, wie lange es dauern würde, die entsprechende Tür zu finden, und was es dann kosten würde, den Betreffenden dazu zu bringen, sich mit meinem Problem zu befassen. Zumindest hatte ich aber den Namen von Pighees Arzt: Merom.

Aber mal angenommen, dachte ich, nur mal angenommen, ich habe bei Loftus auch kein Glück. Was dann? Pighees Anwalt, dachte ich. Habeas corpus? Oder vielleicht ein wenig medizinische Nachhilfe? Ein Zweitgutachten?