31

Von einer Telefonzelle aus rief ich bei Dr. Merom zu Hause an, aber es ging niemand an den Apparat. Dann rief ich in der Loftus-Klinik an, und nachdem ich zwei Minuten gewartet hatte, erklärte man mir, Dr. Merom sei nicht da. Ich hätte noch Miller angerufen, aber ich hatte kein Kleingeld mehr.

Auf dem Weg zu Loftus wurde mir klar, daß ich meine zehn Cent für einen Anruf bei Miller hätte benutzen können, wenn ich vorher darüber nachgedacht hätte, denn Freitag war nach Fincastles Liste Dr. Meroms Abend im Labor. Aber andererseits hätte ich auch nicht gewußt, ob ich Miller zu Hause oder auf dem Revier hätte anrufen sollen. Wahrscheinlich hätte ich meine zehn Cent ohnehin verloren.

Im Sicherheitsgebäude war wieder Fincastle im Dienst. Ich erzählte ihm, daß Dr. Merom mich in Forschung Drei erwarte. Er schob mir kommentarlos das Dienstbuch hin. Es war Viertel nach acht.       

Mit schnellen Schritten ging ich auf das Gebäude zu. Es brannte nur noch ein Licht darin. Das Lagerraumlabor. Ich machte mir nicht die Mühe, mich in dem Dienstbuch neben der Tür von Forschung Drei ebenfalls einzutragen.

Marcia Merom sang vor sich hin. Ich hörte sie, als ich oben an der Treppe angekommen war, und blieb einen Augenblick stehen, um zu lauschen. Sie hatte eine klare und ziemlich hübsche Stimme, und mit viel Gefühl, was mich auf den Gedanken brachte, daß sie oft sang. Nur die Worte vertrugen sich nicht mit der freudigen Überraschung, ein neues Talent entdeckt zu haben. Es war eins dieser Rock-Klagelieder aus den späten Fünfzigern, unerfüllte Liebe, die zu einem gewaltsamen, unvorhergesehenen Tod führt. »Curly Shirley, sure woke early on the day-ay she died.« Schlurfend ging ich den Flur hinunter auf die offene Tür zu. Marcia Merom hörte auf zu singen. Sie horchte. Und sagte: »Lee?« Sie klang kühl und geschäftsmäßig und erwartungsvoll. »Lee?«

Ich trat in den Türrahmen. »Nein«, sagte ich, »nicht Lee.«

Sie wirbelte zu mir herum, und ihre Hände zitterten. Sie ließ einen Füller fallen. »Mein Gott«, sagte sie. Dann faßte sie sich wieder. »Sie haben mir einen furchtbaren Schrecken eingejagt. Tun Sie das nie wieder!« Es war eher eine Redewendung als eine passende Reaktion auf mein Erscheinen.

»Tut mir leid«, sagte ich. Aber ich konzentrierte mich mehr auf das Labor. Der Raum war vom Fußboden bis zur Decke voll mit Maschinen. Es gab buchstäblich keine Arbeitsfläche mehr für irgendwelche zusätzlichen Dinge. Das erste, was mir ins Auge fiel, waren einige Meßgeräte mit Zifferblättern, ein Stapel Verpackungsmaterial in einem Ständer unter dem Fenster und ein offener Kasten mit kleinen Metallfläschchen, auf denen das dreiblättrige Kleeblatt zu sehen war, das Symbol für radioaktive Strahlung.

Die Zifferblätter schienen verschiedene Meßbereiche anzuzeigen; zu dem Verpackungsmaterial gehörten kleine, zusammengefaltete Pappkartons und ein Stapel durchsichtiger Plastiktüten. In dem Karton für die Fläschchen war genug Platz für mehrere Dutzend solcher Behälter, aber er war nur halbvoll.

Marcia Merom bemerkte, daß ich mich im Raum umsah. »Sie haben hier drin nichts zu suchen. Verschwinden Sie. Sofort.«

»Ich will mit Ihnen reden«, sagte ich.

»Draußen.«

Wir gingen hinaus auf den Flur. Sie schloß die Labortür hinter sich, was zur Folge hatte, daß wir nun im Dunkeln standen. Ein wenig verunsichert öffnete sie die Tür wieder einen Spalt breit, so daß wir zumindest sehen konnten, wo der andere stand.

»Es sind jetzt fast anderthalb Tage vergangen«, sagte ich zu ihr. »Sie wollten mit Ihren Leuten sprechen. Ich habe Ihnen meine Karte mit meiner Telefonnummer gegeben.«

Ihre Stimme nahm etwas Verschlagenes an. »Haben Sie denn in der Zwischenzeit nicht mit der Polizei zu tun gehabt, Mr. Samson?« 

»Oh, doch«, sagte ich. »Ihre Leute sind zur Polizei gegangen, und die Polizei ist zu mir gekommen. Und jetzt bin ich wieder bei Ihnen, weil einige Dinge einer Erklärung bedürfen.«

Ich war zum Angriff übergegangen. Sie hatte mich als ein bereits gelöstes Problem betrachtet, und plötzlich tauchte ich wieder auf. »Wie meinen Sie das?« fragte sie.

»Warum zum Beispiel haben Sie dafür gesorgt, daß John Pighees Herz noch sieben Monate nach seinem Tod weiterschlägt?«

»Was -? Wie -?«

»Und nachdem Sie das schon dermaßen ins Stottern bringt, können Sie mir auch noch verraten, wie Sie dazu kommen, ohne einen medizinischen Abschluß als Ärztin zu praktizieren?« Es war ein Angriffsspiel. Ich hatte ihre Promotionsurkunde in Biochemie an ihrer Wand hängen sehen. Wenn sie auch in Medizin einen Doktor gehabt hätte, hätte die entsprechende Urkunde wohl daneben gehangen.

Sie öffnete den Mund, sagte aber nichts.

»Jetzt hätte ich gern ein paar Antworten. Ich meine, die Zeit wäre reif.«

»Ich…?« sagte sie. Dann fügte sie mit plötzlicher Entschlossenheit hinzu: »Hier können wir nicht reden.«

Ich schüttelte den Kopf, aber bevor ich Worte finden konnte, die präzise und nachdrücklich genug waren, um zu zeigen, daß ich mit meiner Geduld am Ende war, daß ich mich nicht länger von Leuten an der Nase herumführen lassen wollte, die mehr als ein halbes Jahr lang mit dem Kadaver von John Pighee herumgespielt hatten, sagte sie: »Lee wird jeden Augenblick hier sein, und wenn er Sie hier findet… Lassen Sie uns in meine Wohnung fahren. Geben Sie mir eine Minute Zeit, nur eine Minute, damit ich die Dinge da drinnen in Ordnung bringen kann. Dann können wir reden.«

Sie tauchte wieder im Lagerraumlabor unter. Ich stand im Dunkeln, aber bevor ich unruhig wurde, war sie wieder da und schloß die Tür hinter sich zu. Wir gingen die Treppe hinunter und verließen das Haus. Am Sicherheitsgebäude studierte sie das Dienstbuch. Seafield hatte sich noch nicht eingetragen. Sie entspannte sich sichtbar. Unsere Wagen standen auf demselben Parkplatz. Ich folgte ihr zu ihrem Apartmenthaus und parkte hinter ihr.

Während sie die Haustür aufschloß, sagte sie: »Gestern nachmittag habe ich das Glas in der Küchentür reparieren lassen.«

»Ach?«

»Aber es macht mir Sorgen, daß nur diese Glasscheibe zwischen mir und der Außenwelt war. Vielleicht lasse ich mir eine neue Tür machen.« Ich fragte mich, ob ich ihr vielleicht Ray McGonigle empfehlen sollte.

Sie ging mir in ihre Wohnung voran. Mir fiel wieder ein, daß sie vor Seafield Angst hatte, nicht vor der Außenwelt im allgemeinen. Der Gedanke an Seafield erfüllte mich eigentlich nicht mit Angst. Aber sie kannte ihn besser als ich.

Während sie die Tür hinter uns schloß, setzte ich mich auf ihre Couch. Sie selbst setzte sich auf einen dazu passenden Sessel und sagte: »Bitte sagen Sie mir, was Sie wissen, Mr. Samson.«

»Nein«, sagte ich. »So habe ich mir das nicht vorgestellt. Ich stelle mir vielmehr vor, daß Sie mir sagen, was zum Teufel Sie mit John Pighees Leiche gemacht haben.«

»Vielleicht«, sagte sie, »vielleicht hätte ich Sie gestern, als ich die Gelegenheit dazu hatte, doch töten sollen.« Es klang spekulativ und ohne offenkundige Boshaftigkeit. Ich ignorierte es. Dann sagte sie: »John war bereits tot, als er in die Klinik kam. Wir haben ihn an ein paar exzellente Maschinen gehängt, und wir haben dafür gesorgt, daß sein Herz schlug, daß seine Lungen atmeten und was sonst noch dazu gehört. Aber er war ein paar Minuten nach seinem Unfall bereits tot.«

Das war’s also. »Aber was ich nicht verstehe, ist warum.«

»Weil Unfälle auf dem Firmengelände, die zum Tod oder zu einer dauerhaften Verletzung führen, von der Versicherungsgesellschaft gründlich untersucht werden«, sagte sie. »Um zu klären, ob ein Anspruch besteht oder nicht. Auf diese Weise aber, wenn es keinen Bericht über einen Todesfall oder eine Verletzung gibt, müssen sie keine Nachforschungen anstellen. Unsere Situation - nun ja, es wäre in höchstem Maße nachteilig für uns gewesen, wenn uns die Versicherungsdetektive Fragen gestellt hätten. Sie waren schon schlimm genug. Aber diese Leute sind gut, und sie dürfen sich überall frei bewegen.«

»Wollen Sie mir damit sagen, daß Pighee nicht als »dauerhaft verletzt‹ gilt?«

»Wenn ein Mensch im Koma liegt, ohne Bewußtsein, dann kann man keine vernünftige Diagnose stellen. Und wenn kein Anspruch besteht…«

Es fiel mir ein wenig schwer, das alles zu verdauen. »Und Sie hatten vor, ihn für immer und ewig an den Drähten hängen zu lassen?«

»Nein, nur ein Jahr und einen Tag.«

»Ein Jahr und einen Tag?« Ich schüttelte verwundert den Kopf.

»Nach einem Jahr und einem Tag«, sagte sie, »wäre sein Tod nicht länger eine Folge des Unfalls.«

»Was?«

»So ist das Gesetz. Nicht nur in Indiana. In den meisten Staaten. Und außerdem hoffen wir, daß die Operation bis dahin zum Abschluß gebracht ist.«

»Am 28. oder 29. Januar wollten Sie ihm also einfach den Stecker rausziehen?«

»Er ist schließlich tot«, sagte sie. Und: »Ja, das werden wir tun.«

»Das ist ein bißchen viel auf einmal für mich«, sagte ich. »Aber wie genau kam es eigentlich dazu, daß Sie ohne Zulassung als Ärztin praktiziert haben?«

»Das habe ich nicht getan«, sagte sie. »Man kann niemanden medizinisch behandeln, der bereits tot ist. Ich habe niemals jemanden behandelt, der noch lebte.«

»Aber er ist nicht für tot erklärt worden.«

»Hm. Nein.«

»Mein Gott. Was für eine Bagage.«

»Sehen Sie, Mr. Samson…«

Aber ich ließ sie nicht zu Wort kommen. »Na schön. Soweit es Sie betrifft, ist das Ganze nur eine Begleiterscheinung der Operation, die Sie durchführen sollen.«

»Es ist sehr wichtig«, sagte sie fromm.

»Die Polizei in Form von Captain Gartland scheint zu glauben, daß Sie und Ihre Kollegen für das FBI arbeiten.«

»Das tun wir auch«, sagte sie.

»Sind Sie denn eine Agentin?«

»Nicht im eigentlichen Sinne, nicht Vollzeit. Man hat uns für ein spezielles Forschungsprojekt rekrutiert. Man brauchte dazu Spezialisten, Wissenschaftler. Was wir tun, erfordert eine Menge wissenschaftlicher Feinarbeit.«

»Was zum Beispiel?«

»Das werde ich Ihnen nicht erzählen.«

»Pighee ist bei einer Explosion ums Leben gekommen. Hatte er etwas mit Sprengstoffen zu tun?«

»Kein Kommentar.«

»Sie müssen da drin irgendwelche radioaktiven Stoffe haben. Was ist das für eine Arbeit, zu der man radioaktive Stoffe braucht?« 

»Sehen Sie, Mr. Samson…«

»War auch radioaktives Material im Labor, als Pighee in die Luft flog? Ist er damit verseucht? Hat das etwas zu tun mit dem, was da vorgeht?«

»Ich… ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich habe noch nie darüber nachgedacht, ob er vielleicht…«

Aber was auch immer da übersehen worden war, radioaktive Verseuchung spielte keine Rolle dabei. Ihre Überraschung war echt, so wie es aussah.

»Wieviel von dem Labor wurde zerstört, als Pighee seinen Unfall hatte?«

»Eine ganze Menge«, sagte sie.

»Aber es scheint jetzt wieder in Ordnung zu sein und voller Spielzeuge, die ziemlich teuer aussehen.«

»Das sind sie auch.«

»Für das FBI werden keine Kosten gescheut. Ist es das?«

»Etwas in der Art.«

»Und diese Wohnung hier«, sagte ich und zeigte auf die Einrichtungsgegenstände im Zimmer. »Ebenfalls keine Unkosten gescheut. Das FBI zahlt ziemlich gut, nicht wahr?«       

»Hm…« Das hieß ja. Ich wußte bereits, daß sie gut zahlten. Schon wegen des vielen Geldes, das John Pighee sie kostete.

»Wie hat man Sie rekrutiert?«

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen sagen sollte…«

»Wer war es? Dundree? Rush? Wie lange sind Sie schon dabei?«

»Seit einigen Jahren. Es… Lee war derjenige, der in dieser Sache den ersten Vorstoß gemacht hat. Wir haben zusammengearbeitet, und dann erzählte er mir davon.«

»Er hat Ihnen den Hof gemacht, als Sie damals zu Loffus kamen, nicht wahr?«

»Mir den Hof gemacht?« sagte sie mit einem schmerzlichen Lächeln. »Sie benutzen ein komisches altes Wort.«

»Ich bin ein komischer alter Mann«, sagte ich.

»Es war nichts derartiges«, sagte sie. »Wir haben einfach nur zusammen gearbeitet… Der Kontakt zu mir ist über ihn zustande gekommen.«

»Woher wußten Sie, daß sie echt waren?« fragte ich.

»Echt?«

»Wenn jemand auf der Straße auf Sie zukommt und sagt, er arbeitet für das FBI, dann glauben Sie ihm doch nicht nur aufgrund seiner schönen blauen Augen, oder?«

»Sie sind nicht auf der Straße zu mir gekommen.«

»Aber sie müssen ihre Identität doch irgendwie unter Beweis gestellt haben. Werden Sie von Washington bezahlt? Oder kriegen Sie Weihnachtsgrüße vom Chief?«

»Ich… ich werde nicht von Washington bezahlt. Ich arbeite im geheimen. Es hat Briefe gegeben und Ausweise. Und außerdem sind es respektable Leute.«

»Wie zum Beispiel Lee Seafield?«

»Lee ist in Ordnung. Er ist durchaus respektabel. Aber die anderen sind…«

Sie wollte etwas wie »über jeden Verdacht erhaben« sagen, aber statt dessen klingelte es an der Tür.

Sie erstarrte. Lauschte konzentriert, als hätte sie es beim ersten Mal nicht richtig gehört. Es gab eine Pause. Dann klingelte es wieder. Sie sprang von ihrem Sessel auf. »Wer kann das sein?« fragte sie.

»Es ist Ihre Wohnung«, sagte ich.

Es klingelte noch einmal. »Wie ist er hier raufgekommen, ohne unten zu klingeln? Gott. O Gott. Lassen Sie mich nicht allein. Er weiß, daß ich hier drin bin, weil der Wagen draußen vor der Tür steht. Er sollte eigentlich im Labor sein. Und ich auch. Mein Gott. Gehen Sie nur nicht weg!« Mit diesen Worten rannte sie ins Schlafzimmer.