Wir gingen die Hintertreppe hinunter und um das Apartmentgebäude herum zu meinem Lieferwagen. Ich brauchte nicht lange, um herauszufinden, wie es kam, daß ich in der dunklen Augustnacht Hand in Hand mit Marcia Merom ging.
Aber lange genug. Was mir passiert war, mußte schon einer Menge Leute passiert sein, die sie kannten. Seafield sagte, sie habe es gern grob, und er hatte wohl irgendwie die Warhrheit gesagt. Marcia Merom schien es im Umgang mit Menschen an etwas zu fehlen. Eine fehlende Synapse, was zur Folge hatte, daß sie auf zivilisierte und freundliche Bitten nicht reagieren konnte. Aber wenn jemand schrie oder forderte, wenn jemand sie grob behandelte, dann war die Kluft überbrückt, und sie gab, worum man sie gebeten hatte. Entweder Seafield, der von Natur aus ein Grobian war. Oder mir, der ich hartnäckig war, weil mir nichts anderes übrigblieb. Ich hatte eine kleine Schlacht mit Seafield gewonnen, dann, um sie zur Eile anzutreiben, hatte ich Ärger gezeigt. Also gehörte sie mir.
Sie stieg an der Beifahrerseite ein.
Ich ließ den Motor an und versuchte mir auszumalen, wie unerfreulich ich werden mußte, um die Antworten zu bekommen, die ich haben wollte. Und wohin ich fahren sollte, um die dazugehörigen Fragen zu stellen. Wir konnten nicht bleiben, wo wir waren. Seafields Zeit war bald abgelaufen, und seine Geduld würde sicherlich nicht weit reichen. Der Mann war nicht dumm; er würde schnell merken, daß wir uns durch die Hintertür verzogen hatten.
Zuerst fuhr ich in Richtung Büro. Aber als ich bereits den Monument Circle durchquert hatte und von der Meridian auf die West Maryland einbiegen wollte, begriff ich, daß Seafield wahrscheinlich direkt in mein Büro fahren würde, sobald er herausgefunden hatte, daß wir nicht mehr da waren. Er war in meiner Abwesenheit ja schon einmal da gewesen, mindestens einmal.
Trotzdem bog ich auf die Maryland ein. In der Nähe meines Büros war kein Thunderbird zu sehen. Aber das war nur noch eine Frage der Zeit.
Ich fuhr an den Straßenrand, um nachzudenken. Eine Folge davon war, daß ich alle meine Taschen durchstöberte und auf eine Idee kam. Es ist wirklich eine gute Sache, daß ich nicht jede Woche automatisch eine neue Hose anziehe. Ich hatte noch immer die Schlüssel zu Linn Pighees Haus bei mir.
Also fuhr ich wieder los, und zwar in Richtung Süden, auf die Madison, dann nach Südwesten, mit Ziel Beech Grove. Der Gedanke, Marcia Merom im Haus der Pighees auszufragen, gefiel mir.
Wir waren bereits in Garfield Park, als mir auffiel, was an der Idee nicht stimmte. Wir hatten gerade den Pleasant Run überquert, einen der kleinen Nebenflüsse des White River, und näherten uns einer Brücke über den Bean Creek, einem Nebenfluß des Pleasant Run. Ich schlug den Lenker ein und fuhr die gleiche Straße wieder zurück.
Marcia Merom rutschte auf ihrem Sitz hin und her, als wir plötzlich mitten in der Dunkelheit in einem Park anhielten. »Was ist los?« fragte sie.
Ich hätte ihr befehlen sollen, den Mund zu halten. Statt dessen sagte ich: »Ich denke nach.« Nicht annähernd so beeindruckend für sie.
Das Thema, um das sich meine Gedanken drehten, waren Sam und Ray McGonigle. Ich wußte nicht, wann sie wieder in meinem Büro sein würden. Es würde Ray ganz bestimmt nicht gut tun, wenn Seafield ihn in meiner Wohnung fand und mit mir in Verbindung brachte.
Das einzige, was ich tun konnte, war zurück zum Büro zu fahren.
»Ich sollte wirklich wieder zurück ins Labor. Ich war mit meiner Arbeit dort noch nicht fertig.«
»Ruhe«, sagte ich, aber ohne entsprechende Überzeugung. Mein Oberwasser sank langsam gegen den Nullpunkt. Ich wendete den Wagen und fuhr auf der anderen Straßenseite wieder zurück.
»Wir fahren in mein Büro«, sagte ich. Ich versuchte, energisch zu sein, aber es klang eher erklärend und daher schwach. Innerhalb der Kategorien, nach denen Marcia Merom meiner Meinung nach funktionierte.
Unterwegs fragte ich mich, ob ich recht hatte, was sie betraf. Gewißheit machte Verwirrung Platz. Ich bin kein geborener Despot.
Ich versuchte, meine Entschlossenheit zurückzugewinnen. Es gab noch einige Dinge, die ich in Erfahrung bringen mußte. Seafield hatte sie beschuldigt, mir verraten zu haben, was »mit dem verräterischen John Pighee geschehen« sei. Ich wollte, daß sie seine Anschuldigung wahr machte. Außerdem mußte ich wissen, präzise und im Detail, welcher Natur dieses FBI-Projekt war. Und ich mußte wissen, wie die Leute da hineingezogen worden waren.
»Stammen Sie aus Indianapolis?« fragte ich Marcia Merom.
»Nein.«
»Woher kommen Sie?«
»Ursprünglich aus Lewisburg. Pennsylvania.«
»Und was hat Sie hierher verschlagen?«
»Es ist nicht leicht, einen Job in der Forschung zu kriegen. Es gibt zu viele Leute mit Doktortitel. Sogar zuviele Frauen. Für die Jobs, meine ich. Es war das beste Angebot, das ich hatte.«
»Wie lange sind Sie jetzt bei Loftus?«
»Etwas mehr als viereinhalb Jahre.«
»Haben Sie von Anfang an in Ihrem jetzigen Apartment gewohnt?«
»Nein«, sagte sie.
»Wann sind Sie eingezogen?«
»Etwa…« Aber sie beschloß schließlich, mir doch keine Antwort zu geben. »Bringen Sie mich jetzt zurück ins Labor oder nicht?«
»Wir haben unser Geschäft noch nicht abgeschlossen«, sagte ich.
»Ich glaube nicht, daß ich Ihnen irgend etwas zu sagen habe. Ich glaube nicht, daß wir überhaupt ein Geschäft miteinander haben.«
»O doch, das haben wir«, sagte ich und spürte, wie mir wieder der Kamm schwoll.
»Ich glaube nicht.« Sie lümmelte sich auf ihrem Sitz und sah aus dem Fenster. »Ich will wieder ins Labor.«
»Wissen Sie, was mit dem letzten Loftus-Chemiker passiert ist, der in Ihrem Apartment wohnte?«
»Nein«, sagte sie gleichgültig.
»Er ist versehentlich vor der Küche von der Feuerleiter gefallen und hat sich das Genick gebrochen.«
Ihr Kopf fuhr zu mir herum. Sie schenkte mir wieder ihre Aufmerksamkeit, sagte jedoch von sich aus kein Wort.
»Was«, fragte ich, »hat John Pighee getan, um euch zu dem Entschluß zu bringen, ihn zu töten?«
»Wir haben gar nichts beschlossen«, sagte sie. Und verkrampfte sich plötzlich.
»Ihr Freund Lee hat die Sache im Alleingang erledigt, nicht wahr?«
»Er… so war es nicht.« Sie schien weitersprechen zu wollen, dann wieder nicht, dann schließlich doch: »Sie stecken in einem ziemlich üblen Schlamassel, wissen Sie. Die Sachen, in denen Sie herumstochern, könnten - werden - viele andere Menschen einem großen Risiko aussetzen.«
»Ist es das, was John Pighee getan hat? Hat er den Rest von Ihnen einem Risiko ausgesetzt?«
»John war zum Verräter geworden«, sagte sie.
Das war Stoff zum Nachdenken. Und ich dachte nach. Wir kamen meinem Büro immer näher. »Also hat Lee ihn umgebracht.«
»Er mußte irgendwie aufgehalten werden. Aber das, was dann passierte, war nicht das, was wir im Sinn hatten.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Lee ist auf eigene Faust losgegangen und hat die Sache in die Hand genommen.«
»So ungefähr.«
»Und dasselbe wird er jetzt mit mir machen, wie?«
»Sie sind eine schreckliche Gefahr für uns«, sagte sie. »Und es sieht nicht so aus, als ob die Polizei fähig wäre, Sie unter Kontrolle zu halten.«
»Sehen Sie mal«, sagte ich, »ich bin keine Bedrohung für Sie, wenn Sie sind, was Sie zu sein behaupten.«
»Und was genau soll das nun wieder heißen?« fragte sie.
»Echte FBI-Leute mit einem echten Projekt.«
»Natürlich sind wir das«, fuhr sie mich an. »Seien Sie doch nicht dumm.«
»Alles, was ich brauche, ist eine kleine Bestätigung; was auch immer sie dazu benutzt haben, Sie zu überzeugen.«
»Fragen Sie die Polizei«, sagte sie.
»Was immer sie benutzt haben, um die Polizei zu überzeugen, wird mir reichen«, sagte ich. »Mir geht es darum, die Wahrheit zu überprüfen. Das ist alles. Überbringen Sie diese Nachricht den zuständigen Leuten. Nicht Seafield, sondern Jay Dundree. Henry Rush. Oder sonst jemandem.«
Sie sagte nichts.
Wir hielten ganz in der Nähe meines Büros hinter einem neuen Plymouth. Ich sah mich nach einem Thunderbird um, entdeckte aber keinen.
»Wo sind wir hier?« fragte Marcia Merom.
Ich wollte ihr gerade antworten, als ich Sam und Ray aus dem Plymouth steigen sah. Statt irgendwelcher Worte sagte ich nur noch: »Ah, eh, eh, hm.«
Dann: »Ist das nicht Seafields Wagen da drüben?« Ich zeigte auf die andere Straßenseite. Dort stand nur ein alter Kleintransporter.
»Wo?« fragte sie.
»Da drüben, an der Straßenecke.«
»Ich sehe nichts.«
Ich ließ den Wagen an.
»Wo fahren wir hin?«
»Sie wollten doch ins Labor«, sagte ich. »Ich bringe Sie zu einem Taxi.«
»Ein Taxi?«
»Sie wollen doch nicht zu Fuß gehen, oder?«
Wir fanden einen Taxistand in der Nähe der Bushaltestelle. Neben dem ersten Taxi blieb ich stehen und begleitete sie bis zum Wagen. Dann hielt ich ihr die Tür auf und wies den Fahrer an: »Zum Loftus-Gelände.«
»Und wie soll ich Ihrer Meinung nach wieder nach Hause kommen?« fragte Marcia Merom mich.
»Sehen Sie zu, daß Lee Ihnen für die Nacht Quartier gewährt«, sagte ich.
Sie schien das durchaus für einen konstruktiven Vorschlag zu halten.
*
Als ich in mein Wohnzimmer kam, spielten Sam und Ray Cribbage und teilten sich eine Tasse heißer Schokolade.
»Oh, Daddy!« sagte Sam.
»Hallo, Mann«, sagte Ray.
»Hallo«, sagte ich. »Auf Wiedersehen.«
»Willst… willst du irgend wohin gehen?« fragte Sam.
»Nein«, sagte ich. »Aber du willst.«
»Ach ja?«
»Ihr beide wollt«, sagte ich.
»Aber wohin?« fragte Sam.
»Das spielt keine große Rolle. Mir ist danach, heute abend alleine zu sein, also müßt ihr weg. Vielleicht kannst du ja bei Ray übernachten.«
»Ma wäre bestimmt begeistert«, sagte er. Aber er dachte darüber nach.
Sam nicht. »Daddy, was ist los? Wird etwas passieren?«
»Ja«, sagte ich. »Ihr beide macht euch fertig und verschwindet jetzt. Auf der Stelle. Tout de suite. Subito. Wenn Ray dich nicht nach Hause zu seiner Mutter mitnehmen will, dann kannst du meiner Mutter auf der Tasche liegen. Oder in ein Hotel ziehen. Warum soll ich dich hier unterbringen, wenn dein reicher Stiefvater nichts Besseres zu tun hat, als Geld zu verdienen, um es dir nachzuwerfen ?«
»Er verdient es nicht«, sagte sie. »Er hat es geerbt.«
»Ein unmaßgeblicher Einwand«, sagte ich. »Und nun los, auf geht’s.«
»Nicht, bevor du mir erzählt hast, was eigentlich los ist«, sagte Sam und mimte die Aufsässige.
»Wenn ihr nicht in genau dreißig Sekunden durch diese Tür da marschiert seid, will ich deinen Detektivausweis zurückhaben. Und wenn ihr heute abend auch nur noch einen Augenblick in der Nähe dieses Büros herumlungert, rufe ich deine Mutter an und sage, sie soll kommen und dich nach Hause holen.«
»Du meinst es ernst«, sagte sie.
»Ich meine es ernst.« Sie war verletzt. Pech. »Jemand kommt heute abend zu mir zu Besuch«, sagte ich. »Und ich möchte dabei keine Gesellschaft haben.«
»Aha«, sagte Ray.
»Genau«, sagte ich. »Und sie hat keine Lust, noch länger draußen zu warten.«
Widerwillig gab Sam nach. »Du wirst mir doch morgen davon erzählen?« sagte sie.
»Du bist zu jung«, sagte Ray.
»Ich werde dir morgen früh davon erzählen«, versprach ich. Und fügte, nachdem ich die Tür sorgfältig hinter ihnen verschlossen hatte, hinzu: »Wenn es ein Morgen gibt.«
*
Die äußere Tür von meinem Büro hatte kein Schloß. Seit Ray sich daran zu schaffen gemacht hatte, ging sie auch kaum noch zu. Zum ersten Mal bedauerte ich das.
Ich verschloß die Innentür und brachte zwanzig Minuten mit der Zusammenfassung dessen zu, was ich wußte, was ich herausgefunden hatte und was ich vermutete. Dann versteckte ich meine Notizen in Sams Rucksack und hatte das Gefühl, daß die Gerechtigkeit nun einen gewissen Schutz genoß. Im Gegensatz zu mir.
Ich dachte kurz darüber nach, ebenfalls das Büro zu verlassen, entschied mich aber dagegen. Wenn ich gleich nicht da war, war es zumindest wahrscheinlich, daß mein Besucher zurückkam und mich irgendwann doch antraf. Ich wollte, daß es passierte, solange Sam außer Haus war.
Aber ich hatte nicht die Absicht, mich ins Bett zu legen und in der Nase zu bohren, bis er kam.
Ich begann mit einem kleinen Möbelarrangement, indem ich meinen bequemen Sessel hinter die Tür schob. Dann stellte ich meine Baseballkeule daneben und verlegte ein Fernbedienungskabel zu meinem Kassettenrecorder.
Ich brauchte nicht viel Zeit.
Ich glaubte auch nicht, daß ich sehr viel Zeit hatte.
Wenn Seafield erst herausgefunden hatte, daß ich mit Marcia Merom getürmt war, blieben ihm nur drei Möglichkeiten. Und ich glaubte nicht, daß eine der Möglichkeiten darin bestand, daß er in ihrer Wohnung warten würde.
Er hätte direkt zu mir kommen können. Er könnte auch in das Loftus-Labor fahren. Er könnte mit Leuten wie Rush und Dundree reden.
Und ich war ziemlich sicher, daß selbst die zweite und dritte Möglichkeit ihn letzten Endes zu mir führen würden.
Aber das Bild, das ich mir von ihm machte, zeigte ihn als unbesonnenen Menschen. Ich rechnete damit, daß er direkt zu mir kommen würde.
Ich ging zur Treppe und blickte hinunter.
Als ich wieder in meinem Büro war, hatte ich einen Geistesblitz und tauchte in meiner Dunkelkammer unter, um meinen Elektronenblitz und eine Kamera zu holen.
Diese Utensilien stellte ich dann auf dem Ofen in meinem Hinterzimmer auf, der dort an der Wand stand, und zwar an der Seite, zu der ein Besucher sich umdrehen würde, um mich hinter der Tür sehen zu können. Der Gedanke dahinter war, daß ich den Blitz auslösen würde, falls Seafield sich zu mir umdrehte und ich ihn aufhalten mußte. Er wäre dann vorübergehend geblendet, und ich hätte genug Zeit, um an mein Schlagholz heranzukommen. Der Blitz war die einzige Waffe, die ich besaß. Ich brauchte zwanzig Minuten, um alles aufzustellen. Dann legte ich einen Film in die Kamera. Ich glaubte nicht, daß ein Foto irgend etwas nützen würde, aber es konnte auch nichts schaden, und der Versuch, die Linse so auszurichten, daß ich damit das Gesicht eines zwei Meter großen Angreifers fotografieren konnte, gab mir ausreichend Beschäftigung.
Und er kam immer noch nicht.
Ich setzte mich auf den Stuhl und kritzelte eine Weile vor mich hin.
Dann stand ich von dem Stuhl auf und durchwühlte Sams Rucksack nach Geld. Ich fand nur ein paar lose Münzen.
Ich versuchte zu lesen.
Ich versuchte, einen Brief an Sam zu schreiben, wie ich es früher getan hatte, über Tiere und Dinge, die sich wie Menschen benahmen, und Menschen, die sich wie…
Aber es nützte alles nichts.
Ich schlief auf dem Stuhl ein. Ich träumte davon, einem Mann einen schweren Kinnhaken zu versetzen, aber es war mein Kinn, das weh tat. Ich wachte auf. Ich döste. Ich schlief.