37

Als ich die Wandleiter hinunterkletterte, sah ich, daß Thomas Jefferson Walker senior immer noch dort war. Als ich mich zu ihm umdrehte, runzelte er die Stirn.

Wir gingen gemeinsam zur Haustür, und als wir aus der Wohnung traten, sagte er: »Es tut nicht gut, allzu klug zu sein.«

»Was?«

»Es ist eine Krankheit. Die Menschen sind nicht dafür gemacht, in dieser Welt zu klug zu sein. Es bringt ihnen nichts als Schwierigkeiten. Tommy junior, der hat seine Klugheit nicht von mir; ich gräme mich um den Jungen.«

»Sie haben gehört, was sie da oben gesagt hat?«

»Ich hab nix mit den Ohren«, sagte er.

»Sie haben gehört, was sie über Ihren Sohn sagte?«

»Er ist klug, aber er ist nicht weise«, sagte Walker. Kopfschüttelnd ging er weg, und das, ohne mich noch einmal zu einem Kaffee einzuladen.

*

Ungefähr eine halbe Meile von Seafields Haus entfernt fand ich einen Drugstore mit einer Telefonzelle. Außer den Zehndollarscheinen, die Mrs. Thomas mir gegeben hatte, besaß ich ein Fünfundzwanzigcentstück, ein Zehncentstück und zwei Pennies. Ich opferte die zehn Cent.

»Heiliger Strohsack«, sagte Maude. »Als du sagtest ›Minuten‹, da meintest du das wohl auch.«

Es war zehn nach zehn. »Es ist jetzt mehr als eine Stunde her, Maud. Was hast du für mich?«

»Sehr wenig. Nichts über irgend jemanden außer P. Henry Rush. Ich habe einen Kontaktmann bei Loftus, der sagt, er sei nicht besonders wichtig dort. Ein Direktor ohne Einfluß, der nichts riskiert, weil er Angst hat, kaltgestellt zu werden. Mein Kontaktmann sucht weitere Informationen über ihn und die anderen. Davon abgesehen habe ich Rushs Privatadresse und seine Telefonnummer, falls du die noch nicht hast.«

»Habe ich nicht, aber ich habe ein Telefonbuch.«

»Wird dir nicht viel nützen. Er steht nicht drin. Aber das liegt ganz bei dir.«

Sie gab mir die Nummer und eine Adresse, auf der Roland Road.

»Was ist mit weiteren Kontakten? Polizeiakten? Zwielichtige Geschäfte?«

»Bisher nichts. Aber ich dachte, du hättest Freunde bei der Polizei.«

»Freunde ist nicht direkt der Ausdruck, den ich im Augenblick benutzen würde«, sagte ich und seufzte deutlich hörbar.

»Du hörst dich nicht besonders glücklich an.«

»Bin ich auch nicht.«

»Willst du, daß ich dranbleibe?«

»Ich will jedenfalls nicht, daß du aufhörst. Und füg noch einen Namen zu der Liste hinzu. Thomas Jefferson Walker junior. Er hat früher bei Loftus gearbeitet, aber jetzt nicht mehr. Macht in Immobilien und so weiter.«

»Okay. Ruf mich in ein paar Stunden noch mal an.«

Ich hatte gehofft, ein wenig mehr für meine zehn Cent zu bekommen, aber man muß schon ein Optimist sein, um als Privatdetektiv überhaupt überleben zu können.

Ich ging hinaus zum Kassierer des Drugstores und bat ihn, mir meinen Vierteldollar zu wechseln.

Er benahm sich, als hätte ich nach dem Schlüssel für den Keuschheitsgürtel seiner Frau gefragt. »Nicht, wenn Sie nichts kaufen«, sagte er kopfschüttelnd.

Ich war dumm genug, auf sein Spiel einzugehen. Mit einem Blick auf den Vierteldollar und die beiden Pennies in meiner Fland fragte ich: »Was kann ich für siebzehn Cent kaufen?«

»Ein Eis am Stiel«, sagte er.

»Na schön«, sagte ich.

Er legte die Zeitschrift, die er durchgeblättert hatte, weg und streckte die Hand aus. »Her damit.«

Ich überreichte ihm den Vierteldollar und die beiden Pennies. Er gab mir ein orangefarbenes Eis am Stiel und ein Zehncentstück.

Ich ließ das Eis eingepackt auf der Theke liegen und ging zurück in die Telefonzelle. Aus dem Telefonbuch bekam ich die Nummer, die ich wollte.

»Federal Bureau of Investigation…«

»Könnte ich bitte mit einem FBI-Agenten sprechen?«

»Einen Augenblick bitte.«

Nach einem Augenblick sagte dieselbe Stimme: »Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen?«

»Sind Sie ein Agent?«

»Jawohl, das bin ich. Und dürfte ich jetzt bitte Ihren Namen erfahren?«

Ich nannte ihn.

»Und Ihre Adresse, Mr. Samson?«

Ich nannte sie.

»Also gut. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Es handelt sich um einen Mann, der möchte, daß ich ihm bei einer ziemlich fragwürdigen Sache helfe.«

»Fragwürdig?«

»Illegal«, sagte ich. »Und ich möchte es nicht tun, aber er sagt, er arbeitet für das FBI an einem geheimen Projekt.«

Es entstand eine Pause. »Wie alt sind Sie, Mr. Samson?«

»Vierzig. Warum?«

Und dann rundheraus: »Sind Sie nüchtern?«

»Und ob ich das bin. Für mich hört sich die Sache auch nicht besonders gut an.«

»Na schön. Weiter.«

»Er sagt, es handelt sich um ein sehr großes, wichtiges, geheimes Projekt. Was ich wissen will, ist, wie ich herausfinden kann, ob er mir die Wahrheit sagt.« 

»Ich kann es Ihnen sagen«, sagte der Agent. »Er tut es nicht.«

»Er ist ziemlich überzeugend. Und er hat irgendwelche Ausweise.«

»FBI-Papiere?«

»So sieht es aus, aber ich weiß nicht, woran ich. erkennen soll, ob die Papiere echt sind. Und er hat ein paar Briefe aus Washington. Unterschrieben und alles. Er hat sie mir gezeigt.«

»Wie heißt dieser Mann, Mr. Samson?« Die Stimme klang nun ein winziges bißchen interessierter.

»Rush«, sagte ich. »P. Henry Rush.« Ich nannte ihm die Adresse auf der Roland Road. »Er ist Direktor bei Loftus, hier in Indianapolis.«

Ich war wohl etwas übereifrig. Die Stimme sagte: »Sie hören sich an, als hätten Sie etwas gegen diesen Mann, Mr. Samson. Ist das so?«

»Sehen Sie«, sagte ich, »ich versuche lediglich herauszufinden, ob ich ihm glauben und meinem Land helfen soll oder ob er nur versucht, mich ziemlich weit an der Nase herumzuführen. Er sagt, das Projekt sei zu groß, als daß Ihr Büro davon Kenntnis hätte, aber er hat die Polizei auf seiner Seite - die glauben ihm.«       

Mein Agent antwortete nicht sofort. Ich wußte jedoch, was das Schweigen mir sagen wollte. Es war durchaus möglich, daß das, was ich beschrieb, der Realität entsprach. Schließlich sagte er: »Das fängt langsam an, sich ziemlich ernst anzuhören, Mr. Samson.«

»Wissen Sie irgend etwas über diesen Mann? Weiß überhaupt jemand etwas? Gibt es eine Möglichkeit, das zu überprüfen?«

»Ich… ich glaube nicht, daß es sehr wahrscheinlich ist, daß der Mann für uns arbeitet. Wir würden sicher über jede Operation in unserem Gebiet Bescheid wissen. Und Sie können versichert sein, daß das FBI sich nicht in illegale Aktionen verwickelt. Das überlassen wir den Kriminellen.«

»Irgendwie überzeugen Sie mich nicht richtig«, sagte ich.

»Aber ich glaube, es wäre ratsam, der Sache nachzugehen.«

»Da stimme ich Ihnen zu«, sagte ich wahrheitsgemäß.

»Können Sie jetzt in unser Büro kommen? Wo sind Sie, Mr. Samson?«

Ich war mir nicht sicher, ob ich auf der Stelle zum FBI gehen wollte. »Ich bin in Muncie«, sagte ich. »Aber ich mache mich gleich auf den Weg.«

Ein paar Minuten blieb ich in der Zelle sitzen und dachte darüber nach, was ich als nächstes tun sollte. Dann hielt ich mir die Fakten vor Augen und machte mich für die schwere Aufgabe, die vor mir lag, bereit.

Ich ging zurück zu dem Mann hinter der Theke. Er spitzte einen Bleistift an. »Das ist bestimmt ein sehr spitzer Bleistift, den Sie da haben.«

Er blickte zu mir auf. Mein Eis am Stiel war weg. Das machte mich wütend. Ich nahm einen Zehndollarschein aus meiner Brieftasche. Den legte ich auf die Kasse. Dann zeigte ich mit dem Finger auf den Mann, was ziemlich rüde ist. Und sagte: »Ich bin ein gefährlicher Verbrecher. Ich werde von der Polizei gesucht. Ich will sie anrufen und mich stellen. Geben Sie mir Wechselgeld für das Telefon. Geben Sie es mir jetzt.«

Er zögerte. Dann legte er den Bleistift weg und gab mir Wechselgeld. Ich schob ihm die zwei Vierteldollar zurück und sagte: »Mehr.«

»Wenn Sie die Cops anrufen wollen, gibt es eine Notfallnummer, und Sie bekommen Ihr Zehncentstück zurück.«

»Vielleicht will ich ja auch die Telefonseelsorge anrufen«, sagte ich.

»Ich wollte ja nur helfen.« Das war genau die Art von Hilfe, die ich jetzt schon seit einer Woche bekam. Mit den notwendigen Voraussetzungen für zehn Ortsgespräche ausgerüstet, ging ich zurück zur Telefonzelle. Der erste Anruf galt meinem Büro. Ich wollte kurz mit Sam reden. Aber sie war nicht da; Dorrie, mein Anrufdienst, schaltete sich in das Gespräch ein, aber ich legte auf, ohne mit ihr zu sprechen. Ich wollte keine Nachricht hinterlassen. Sam war wahrscheinlich im Entropist Hospital.

Dann rief ich Miller an: »Du bist also wieder zurück in deinem Büro, ja?« Seit unserer frühmorgendlichen Begegnung war mir genug widerfahren, um mich leichten Herzens daran zu erinnern.

Ganz im Gegensatz zu ihm. »Du bist in Schwierigkeiten, Albert.«

»Das habe ich angeblich schon zu mir selbst gesagt, als ich zum ersten Mal begriff, daß ich geboren worden war.«

»Laß den Scheiß. Und sieh zu, daß du deinen Arsch hierherbewegst. In der ganzen Umgebung wird nach dir gefahndet.«

»Nur, weil ich dir einen kleinen Schubs gegeben habe? Ist das nicht in bißchen übertrieben?«

»Du hast mir einen Zahn ausgeschlagen«, sagte er.

»Das wußte ich nicht. Tut mir leid.«

»Wo bist du?«

»Ich komme nicht ins Hauptquartier, nicht jetzt, Jerry«, sagte ich.

Er schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Du bist doch sonst immer vernünftig gewesen. Falls du nicht plötzlich übergeschnappt bist, muß ich davon ausgehen, daß du weißt, was du da tust.«

»Ich habe ein paar Dinge herausgefunden.«

»Was für Dinge?«

»Daß einer der Loftus-Wissenschaftler John Pighee ermordet hat. Zum Beispiel.«

»Pighee ist tot? Wann ist das passiert?«

»Er war schon immer tot«, sagte ich.

»Das hast du schon einmal gesagt, aber was zum Teufel soll das heißen? Ist Pighee tot und hinüber oder nicht?«

»Nun, sein Zustand hat sich nicht geändert, wenn es das ist, was du meinst. Aber der Notarzt und Marcia Merom haben mir beide gesagt, daß er bei dem Unfall getötet wurde und daß sie lediglich sein Herz und die lebenswichtigen Organe künstlich in Gang gehalten haben.«

Ich spürte förmlich, daß Miller alle möglichen Dinge durch den Kopf gingen. Er sagte: »Kannst du das beweisen?«

»Nur Leuten, die keine Watte im Ohr haben. Aber nicht deinem Freund Gartland.«

»Meinem Vorgesetzten«, sagte Miller.

»Tut das FBI solche Dinge?« fragte ich ihn. »Oder falls das FBI so etwas tut, kommt es dann ungeschoren mit so etwas davon?«

»Du fängst also schon wieder damit an, wie?«

»Ich glaube nichts, nur weil irgend jemand es mir sagt. Selbst wenn es sich um deinen… Vorgesetzten handelt. Selbst wenn er seine Informationen von jemandem mit überragenden persönlichen Referenzen hat. Und vor allem glaube ich nichts, was nicht in mein Konzept vom üblichen Gang der Dinge paßt. Jemand legt hier jemanden rein, und wenn ihr da nicht eine Menge mehr wißt, als es den Anschein hat, gehört ihr möglicherweise zu den Reingelegten.«

»Das ist nicht sehr wahrscheinlich«, sagte Miller.

»Was braucht man, um euch Polizisten dazu zu bringen, die Nasen in euren Gesichtern zu sehen?«

»Spiegel.«

»Ist das Merom-Weibsbild mittlerweile wieder aufgetaucht, um euch zu erzählen, wie ich sie entführt habe?«

»Nein.«

»Wenn sie kommt, wirst du sie dann über ihre angeblichen FBI-Aktivitäten befragen?«

»Nein«, sagte Miller. »Das ist nicht nur mehr, als mir mein Job wert ist, ich halte es auch nicht für notwendig.«

»Wirst du sie nach John Pighees tatsächlichem Zustand fragen?«

Er sagte nicht sofort nein. Also war es möglich.

»Jerry, was genau braucht man, um dich dazu zu bringen, dich gegen deinen Vorgesetzten Captain Gartland zu stellen?«

»Mehr, als du mir wahrscheinlich geben kannst.« 

»Im Ernst.«

»Greifbare Beweise, würde ich sagen. Genau das, was du nicht hast.«

»Du würdest es nicht in Erwägung ziehen, einen unabhängigen Mediziner in die Klinik zu schicken, damit der sich Pighees Leiche ansieht, oder?«

»Nur auf dein Wort hin?« Das hieß nein.

»Wie wäre es, wenn du die Fahndung nach mir abblasen würdest, damit ich meinen Wagen benutzen kann? Ich bin es leid, zu Fuß zu gehen.«

»Die Sache liegt nicht mehr in meinen Händen«, sagte Miller unheilverkündend. »Aber wenn du herkommst, kannst du deine Aussage machen, und wir sehen, was wir für dich tun können.«

»Warum erfüllt mich das nicht mit Zuversicht?«

Ich weiß nicht, ob er mir noch eine Antwort gegeben hat. Ich legte einfach auf. Zumindest würden seine Leute immer noch nach meinem Lieferwagen suchen, nicht nach Linn Pighees Auto. Die arme, alte Linn. Ich dachte darüber nach, ob ich vielleicht Zeit hätte, sie zu besuchen.

Ich saß in der Telefonzelle und versuchte nachzudenken. Ich sah, wie der Mann hinter der Theke im Drugstore mich beobachtete. Ich öffnete die Tür und rief ihm zu: »Ich bin in einer Minute draußen, aber im Augenblick nagt gerade eine Ratte an meinem Fuß.« Dann schloß ich die Tür wieder.

Jede Menge Zehncentstücke und eine Telefonzelle, die funktionierte. Gemessen an modernem Standard wahre Reichtümer. Ich rief noch einmal in meinem Büro an, auf die unwahrscheinliche Chance hin, daß Sam mittlerweile zurückgekommen war. Aber Dorrie nahm nach viermaligem Klingeln das Gespräch entgegen. Diesmal sprach ich mit ihr.

»Hallo, Mr. Samson. Ich habe eine Nachricht für Sie«, sagte sie. »Na ja, sozusagen.«

»Von meiner Tochter?«

»Nein, von einem Mann. Er… er hörte sich ziemlich wütend an. Um genau zu sein, er war wütend. Er sagte, Sie wären in Schwierigkeiten, wenn er Sie erwischt.«

»Hat er Ihnen seinen Namen gesagt?«

»Nein. Wahrscheinlich hat er gedacht, Sie würden es wissen.«

»Es ist nur so, daß im Augenblick so viele Leute wütend auf mich sind, daß mir die Wahl schwerfällt.«

»Ach, du liebe Güte«, sagte sie. »Ich habe eine schlimme Woche mit meinem Rod hinter mir, aber so schlimm war es nun doch nicht.«

»Klang dieser Mann wie ein Polizist?«

»Oje. Ich weiß nicht. Wirklich nicht.«

»Nun, das engt die Möglichkeiten auf etwa hundert ein.«

Ich benutzte ein weiteres Zehn-Cent-Stück, um im Entropist Hospital anzurufen. Es bestand immerhin die Chance, daß ich dort vielleicht Sam antreffen würde, bei ihrem Besuch bei Linn Pighee. Ich kam zur Stationsschwester durch, die sehr hilfsbereit war.

»Ich versuche, meine Tochter zu erreichen«, sagte ich. »Sie ist möglicherweise zu Besuch bei Mrs. Linn Pighee. Meine Tochter ist knapp achtzehn Jahre alt, mit rot-braunem Haar, braunen Augen und Sommersprossen. Normale Größe. Langes Haar. Wie ein Junge eben.«

Die Krankenschwester wußte sofort, wen ich meinte. »Ja, die junge Dame war hier. Aber sie ist wieder gegangen«, sagte sie. »Direkt, nachdem ich ihr erzählt hatte, daß Mrs. Pighee in der Nacht gestorben ist.«