»Noch ein wenig früh fürs Mittagessen, oder?« fragte ich eine Frau, die gerade in ein gewaltiges Sandwich beißen wollte. Sie zögerte.
»Ui, meinen Sie wirklich?«
»Ja, aber machen Sie sich nichts draus. Sie sind sowieso zu dünn.«
»Ui, meinen Sie wirklich?«
»Also«, sagte ich. »Draußen hat man mir gesagt, daß ich hier den Verantwortlichen für die Loftus-Klinik im Entropist Hospital finde. Stimmt das?«
»Mr. Dundree? Ja, das ist wahrscheinlich der, den Sie suchen. Aber er ist im Augenblick nicht in seinem Büro.«
»Wo kann ich ihn finden?«
»Nun ja, er ist drüben in Forschung Drei, aber da kommen Sie nicht rein, weil die Abteilung im Sicherheitsbereich liegt und er Sie nicht erwartet. He, es sei denn, Sie sind jemand Wichtiges, dann könnte ich Sie wahrscheinlich hineinbekommen. Sind Sie jemand Wichtiges? Sie sehen nicht wichtig aus.«
»Ich bin aber wichtig«, sagte ich. Ich habe so selten die Gelegenheit dazu.
»Na, in dem Fall stelle ich Ihnen einen Passierschein aus, mit dem Sie durch die Pforte kommen, aber Sie müssen sich an- und abmelden.«
»Strenge Sicherheitsmaßnahmen, hm?«
»Ziemlich streng. Vor zehn Jahren gab es da mal irgendwelchen Ärger, und die Leute wollten, daß Sir Jeff jedesmal eine große Aktion veranstaltet - alle durchsuchen, die rein oder raus wollen und so was, aber Sir Jeff wollte nicht.«
»Nein?«
»Nein, er glaubt, daß man den Arbeitern vertrauen muß, um das Beste aus ihnen herauszuholen.«
»Und trotzdem hatten Sie vor zehn Jahren Ärger…«
»Ja, aber Sir Jeff fand, daß das Leute von draußen gewesen sein mußten. Jetzt haben wir Zäune und dazu noch Wachtposten, die überprüfen, wer das Gebäude betritt und wer es verläßt. Ausweise und solche Dinge.«
»Muß bei Schichtwechsel ein ziemliches Durcheinander geben.«
»Na ja, viele von den Leuten haben gestaffelte Arbeitszeiten, und die Arbeiter haben außerdem zwei eigene Eingänge für sich. Und die Wachtposten kennen ja inzwischen auch die gewohnten Gesichter. Es sind die Fremden, die ihnen Sorgen machen. Und Sie sind ein Fremder. Sind Sie ganz sicher, daß Sie wichtig sind?«
»Jawohl.«
»Nun, dann ist es ja in Ordnung.« Sie hielt mir eine gelbe Karte hin. »He, warten Sie, ich habe Ihren Namen nicht draufgeschrieben. Wie heißen Sie?«
Ich sagte es ihr.
»Okay«, sagte sie und gab mir die Karte. »Wenn man die Arbeiter natürlich dabei erwischt, daß sie Tabletten stehlen oder sonst irgend etwas, dann heißt es pffft.«
»Einfach so?«
»Ja. Aber bei freier medizinischer Behandlung und freier Versorgung mit Medikamenten müßten sie ja verrückt sein, so etwas zu tun, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich. »Einfach verrückt.«
»Zumindest ist es das, was Sir Jeff glaubt. Und es scheint zu funktionieren.«
*
Das Betriebsgelände von Loftus erstreckte sich über ein großes Gebiet westlich der Meridian-Schnellstraße im Süden der Stadt. Ich war durch den Haupteingang hineingegangen und hatte ein Gemisch von alten und neuen Gebäuden vorgefunden, die eindeutig nach Verkauf und Verwaltung aussahen. Ein Wachmann, der in Personalunion auch als Parkplatzwächter fungierte, hatte mich zur Abteilung Klinische Forschung gelotst.
Er nickte mir zu, als ich das Gebäude mit der gelben Karte wieder verließ. »Wollen Sie rein? Dann immer die Straße hinunter, und zeigen Sie Ihre Karte dem Wachtposten in diesem kleinen Bau dort, ja?«
Ich ging die zweihundert Meter auf das runde Backsteingebäude zu, das wie ein Aussichtsturm Fenster nach allen Seiten hatte. Von mir aus gesehen rechts davon befand sich ein hoher Maschendrahtzaun; links von dem Haus blockierte eine drehbare Schranke den Zugang für Fahrzeuge aller Art. Und dahinter noch mehr Maschendrahtzaun. Als ich die Straße überquerte und auf das Tor zuging, sah ich auf der linken Seite einen großen Parkplatz mit mehreren hundert Wagen. Die Sicherheitsvorkehrungen waren offensichtlich so streng, daß »die Arbeiter« nur zu Fuß und nicht mit dem Wagen hineingelassen wurden.
An dem runden Pförtnerhaus wurde ich von einem hochgewachsenen Wachmann angesprochen, der meine gelbe Karte sorgfältig studierte. Sie schien in Ordnung zu sein, und nachdem er mich eingetragen hatte, fragte er: »Kennen Sie den Weg zu Forschung Drei?«
Ich kannte ihn nicht, also gab er mir Anweisungen.
»Danke«, sagte ich.
»Auch da müssen Sie sich ein- und austragen. In ein Buch, direkt hinter der Tür.«
»Oh. In Ordnung.«
»Und melden Sie sich auch wieder bei mir ab, wenn Sie gehen.«
»Was passiert, wenn ich es vergesse? Werde ich dann in kleine Stücke gehackt und Sir Jeff zum Frühstück serviert?«
Es war ein ziemlich armseliger Scherz, und ich hatte Sir Jeffs Namen ganz umsonst mißbraucht. Der Wachtposten brummte vor sich hin und sagte: »Vergessen Sie es einfach nicht.«
Ich fand Forschung Drei ohne Schwierigkeiten. Das Gebäude war ein zweistöckiger Schuhkarton jüngeren Datums. Die meisten anderen Verwaltungsbauten, an denen ich vorbeigekommen war, waren relativ alt, aber modernisiert und umgebaut. Offensichtlich hatte man verschiedentlich der Versuchung widerstanden, das ganze Gebiet leerzufegen und alles neu zu bauen.
Hinter der Tür, einsam und allein auf einem kleinen Holztisch, fand ich das Buch, in das ich mich eintragen sollte. Es war niemand da, der mich dazu bringen konnte, es zu tun. Also tat ich es.
Der Flur zu meiner Rechten wie zu meiner Linken war leer. Selbst die in einem hellen Meergrün gestrichenen Wände waren kahl, bis auf vier Telefone, zwei an jeder Seite. Am Ende eines jeden Flurs gab es etwas, das wie eine Dusche aussah.
Ich fühlte mich zwar nicht unsauber, ging aber hin, um mir die Sache einmal näher anzusehen. Ein graues, steigbügelförmiges Stahlding hing von einer Kette herab. Dahinter konnte man auf einem Schild lesen: »Vorschriftsmäßige Notfalldusche. Ziehen Sie den Griff fest nach unten. Stellen Sie sich direkt unter den Hahn. Entfernen Sie betroffene Kleidungsstücke.«
Ein bißchen zu öffentlich für meinen Geschmack, aber in einem vorschriftsmäßigen Notfall kann man eben nicht alles haben.
Zum ersten Mal, seit ich das Gebäude betreten hatte, hörte ich menschliche Stimmen, und zwar anscheinend aus dem Stockwerk über mir. Ich ging zurück zur Treppe, und noch während ich das tat, kam ein Mann in einem weißen Laborkittel herunter. Ich lief auf ihn zu.
»Entschuldigen Sie bitte, hier soll es einen Mr. Dundree geben. Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«
»Ich bin Dr. Dundree«, sagte er.
»Ich möchte Sie bitten, mir ein paar Minuten Ihrer Zeit zu opfern«, sagte ich. »Ich bin Privatdetektiv und glaube, daß Sie mir weiterhelfen können.«
Er zögerte, führte mich dann jedoch in die Ungestörtheit eines kleinen Zimmers mit einem Schreibtisch und ein paar Stühlen. Bei den Menschenmengen, die in der Nähe waren, um unser Gespräch mitanzuhören, wären wir unter der Dusche genauso ungestört gewesen. Er war ein eher kleiner Mann mit Neigung zu Übergewicht, hatte ein rundes Gesicht und helle, braune Augen. »Sie sind also Privatdetektiv?«
»Ja«, sagte ich. »Ich repräsentiere ein Mitglied der Familie von John Austin Pighee.«
»Pighee?« Bei diesem Namen schien er sich augenblicklich zu verkrampfen.
»Genau.«
»Sie sind kein Versicherungsdetektiv, oder?«
»Nein.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte er nachdenklich. »Nun, jedenfalls ist das Labor innerhalb von zwei Wochen wieder aufgebaut worden. Es gibt kaum noch ein Zeichen dafür, daß irgend etwas passiert ist.«
»Wo ist es denn passiert?« fragte ich.
»Oben.«
»In diesem Gebäude?«
»Ja.« Er zögerte. »Aber wenn Sie kein… Was genau wollen Sie eigentlich?«
»Mr. Pighee ist augenblicklich Patient in der Loftus-Klinik im Entropist Hospital.«
»Das stimmt.«
»Nun, ich arbeite für Mr. Pighees Schwester. Man hat ihr wiederholt die Erlaubnis verwehrt, ihren Bruder zu besuchen. Ich versuche, den Grund dafür herauszufinden, und ich versuche, ihr Klarheit zu verschaffen. Die sie, wie ich meine, wohl erwarten kann. Können Sie die Sache für uns aufklären? Dann würde ich Sie nicht mehr weiter belästigen.«
Er schien keineswegs erfreut zu sein. »Ihr Name ist?« Ich sagte es ihm. »Sie müssen verstehen, Mr. Samson, daß das, wonach Sie fragen, eine medizinische Angelegenheit ist, keine, die die Verwaltung betrifft. Ich bin lediglich der Verwaltungschef der Loftus-Klinik.«
»Aber Sie sind doch Doktor, oder?«
»Ja, aber ich bin Naturwissenschaftler, kein Mediziner.«
»Wer zum Teufel hat hier denn nun den Schwarzen Peter?«
Er steckte eine Hand in die Tasche seines Laborkittels. »Ich jedenfalls kann Ihnen nicht weiterhelfen.«
Langsam wurde ich wütend. »Lassen Sie uns die Dinge doch mal klarstellen. Gibt es in der Loftus-Klinik irgendeine grundsätzliche administrative Richtlinie, die allen Patienten dort jeglichen Besuch untersagt?«
Er zögerte. »Nein… Jeder Fall wird für sich entschieden.«
»Na, das ist doch immerhin etwas. Also, irgend jemand sagte mir, die Klinik sei eine Versuchseinheit. Stimmt das?«
»Ja.« Er schien mit irgend etwas in seiner Tasche herumzuspielen.
»Welche Art von Experiment haben Sie an Pighee gemacht? Ich hätte nicht gedacht, daß eine Arzneimittelgesellschaft ein solches Interesse an Unfallopfern hat. Er hat doch keine Krankheit, die zu behandeln wäre. Meines Wissens ist er in eine Explosion geraten.«
»Ja, in eine Explosion hier im Labor. Ein Teil unseres experimentellen Interesses an Mr. Pighee hat damit zu tun, daß er sich dabei eine schwere Verletzung zugezogen hat. Wir glauben, daß man noch nicht genug über den Einsatz von Chemotherapie in der Behandlungsphase weiß, die auf die anfängliche Stabilisierung des Patienten folgt.«
»Sie probieren also Medikamente an ihm aus?«
Er ignorierte die Frage. Statt dessen sagte er: »Aber es liegt uns auch sehr am Herzen, sicherzustellen, daß Mr. Pighee die bestmögliche medizinische Behandlung bekommt und alle Chancen hat, sich wieder zu erholen. Er ist schließlich einer unserer eigenen Angestellten. Und wenn sein Arzt gegen Besuche ist, bin ich sicher, daß er in Mr. Pighees Interesse handelt.«
»Sein Arzt heißt Merom, glaube ich«, sagte ich.
»Das stimmt.«
»In der Klinik hat man mir heute morgen gesagt, er sei nicht da. Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«
»Nun, ich glaube, Dr. Merom ist in diesem Gebäude.«
»Ein Loftus-Angestellter?«
»Wir besetzen die Klinik mit unserem eigenen Forschungspersonal.«
»Dürfte ich dann bitte mit ihm sprechen?«
»Mit ihr«, sagte er.
»Na schön, dann mit ihr.«
Er seufzte. »Wir haben hier alle sehr viel zu tun, wissen Sie.«
»John Pighee ist sehr…«
»Na schön, na schön«, unterbrach er mich. »Ich werde sie anrufen und sehen, ob sie herunterkommen kann.« Er wählte eine kurze Nummer auf dem Haustelefon und wartete, während am anderen Ende der Leitung jemand Dr. Merom ans Telefon rief. »Marcia?« sagte er. »Hier ist Jay. Ich weiß, du hast alle Hände voll zu tun, aber ich habe hier unten einen Mann, der gern mit dir darüber sprechen würde, warum Mr. Pighee in der Klinik nicht besucht werden darf.« Er hielt inne. »Repräsentiert ein Mitglied der Familie… Nein. Die Schwester, glaube ich.« Ich nickte. Sie schien eine Frage gestellt zu haben, denn er sah mich an und sagte: »Ich glaube nicht, daß es irgendwelche Schwierigkeiten gibt. Es scheint in Ordnung zu sein.«
Während ich darauf wartete, daß Dr. Merom herunterkam, beschloß ich, mich so umständlich zu geben, wie ich nur konnte.
Dundree machte ein Gespräch jedoch sehr schwierig, denn er stellte sich in die Tür seines Büros. Das peinliche Schweigen ließ die Wartezeit ziemlich lang erscheinen.
Endlich kam er zurück ins Zimmer und sagte: »Da kommt sie.«
Ein ungeheuer großer Mann mit gelocktem, flachsblondem Haar trat in das Büro. »Wo ist der Bursche?« sagte er streitlustig zu Dundree, obwohl ich die einzige andere Person im Raum war. Wahrscheinlich übersah man von seiner Höhe aus - etwa einsneunzig oder -fünfundneunzig - schon mal jemanden.
»Es ist Marcia, die wir sprechen wollten, Lee«, sagte Dundree gereizt.
Der große Mann schien nicht weiter beeindruckt zu sein, und hinter ihm trat nun eine kleine Frau in einem schmutzigen Laborkittel ins Zimmer. Sie war um die dreißig und hatte langes, braunes Haar.
»Das ist Dr. Merom«, sagte Dundree. »Und das« - der große Mann - »ist Lee Seafield, ein Kollege von John Pighee. Wir sind natürlich alle an allem interessiert, was John angeht.«
»Können wir es kurz machen?« fragte Dr. Merom. »Ich stecke mitten zwischen zwei Reagenzgläsern.«
Ich wußte nicht, ob sie einen Scherz machen wollte oder nicht. Also sagte ich nur: »Ich möchte lediglich herausfinden, warum John Pighees Schwester ihren Bruder nicht im Krankenhaus besuchen darf.«
»Weil Dr. Merom es sagt«, erwiderte Seafield scharf.
»Er ist sehr schwer verletzt worden«, sagte Dr. Merom.
»Und Besucher könnten ihm schaden«, sagte Seafield.
»Wir machen uns Sorgen wegen einer möglichen Infektion«, meinte Dr. Merom. »Sein Zustand ist stabil, aber schon eine Kleinigkeit könnte ihn aus dem Gleichgewicht bringen.«
»Außerdem«, sagte Seafield spöttisch, »wer will schon jemanden besuchen, der im Koma liegt?«
»John Pighee liegt im Koma?« sagte ich.
»Ja«, antwortete Dr. Merom. »Er ist seit seiner Einlieferung bei uns ohne Bewußtsein.«
»Seit sieben Monaten?« fragte ich.
»Er hat seit dem Unfall nicht ein einziges Mal wieder das Bewußtsein erlangt. Wußten Sie das nicht?«
»Das hat meine Klientin mir nicht gesagt«, gab ich zu.
»Wenn es darum ginge, daß irgendwelche Besucher ihn moralisch unterstützen müßten«, sagte Dundree mit honigsüßer Stimme, »oder seinen Lebenswillen aufrechterhalten, dann läge die Sache vielleicht anders. Ist es nicht so, Marcia?«
Ich fragte: »Und was ist mit moralischer Unterstützung für seine Verwandten?«
»Der Patient kommt an erster Stelle«, sagte Dr. Merom.
»Der Patient muß an erster Stelle kommen«, kam das Echo von Dundree.
Seafield stand daneben und nickte.
»Wie würden Sie Pighees Chancen, sich wieder zu erholen, einschätzen?« fragte ich.
»Das ist schwer zu sagen«, sagte Dr. Merom.
»Wir tun jedenfalls unser Bestes«, sagte Dundree.
»Ist das alles?« fragte Dr. Merom. »Kann ich jetzt wieder nach oben gehen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich will auf keinen Fall den Fortschritt der medizinischen Wissenschaft verzögern«, sagte ich.
»Ach verflixt, nun komm schon, Marcia«, sagte Seafield und ging. Sie folgte ihm.
Dundree setzte sich an seinen Schreibtisch. »Ich hoffe, wir konnten Ihnen ein wenig weiterhelfen.«
»Ich werde Pighees Schwester Bericht erstatten und sehen, was sie dazu zu sagen hat«, meinte ich.
»Nun, das ist gut«, sagte er. »Das ist gut!« Er schien sehr mit sich zufrieden zu sein.