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»Hallo, Daddy.«

»Na, wenn das nicht das Kind ist. Hallo, Kind.«

»Lieutenant Miller ist draußen, aber er sagte, ich könnte vorher für eine Minute zu dir rein. Es geht dir doch heute besser, oder?«

»Ich bin wach. Man hat mir gesagt, ich sei zwei Tage lang bewußtlos gewesen.«

»Heute ist Sonntag. Man hat dich am Freitag gefunden, frühmorgens.«

»Das habe ich schon gehört«, sagte ich.

»Es tut mir so leid«, sagte Sam. Sie begann zu schniefen.

»Leid? Weswegen?«

»Großmutter sagt, du hast nach mir gesucht. Daß du gedacht hast, ich wäre gekidnappt worden oder so.«

»Das ist mir durch den Kopf gegangen.«

»Und das ist auch der Grund, warum du es mit diesen Leuten zu tun bekommen hast.«

»Ich hatte bereits mit ihnen zu tun. Sie mochten mich nicht besonders.«

»Nein«, sagte sie.

Wir beide hörten für eine Weile zu reden auf. Ich mußte daran denken, daß ich, rein körperlich betrachtet, ziemlich heil aus der Sache rausgekommen war. Ein paar Schnitte und ein paar gebrochene Finger.

»Ich muß jetzt gehen. Die Minute ist um.«

»Okay, Schätzchen«, sagte ich. »Paß für mich auf deine Großmutter auf.«

»Mach ich.« Sie küßte mich und ging. Miller kam herein, als Sam ging. Er küßte mich nicht, hielt nicht einmal meine Hand.

»Nett, daß du mal vorbeischaust«, sagte ich. »Was gibt’s Neues bei der Polizei von Indianapolis? Schon Chief geworden? Oder halten sie diese Stelle für mich offen?« 

»Sie engagieren für gewöhnlich keine Leute als Polizeichef, die andere Leute ermorden.«

»Leute?«

Er mißverstand meine Frage, obwohl ich den Plural betont hatte. »Genau. Marcia Merom ist vor sechsunddreißig Stunden gestorben.«

»Ich habe niemanden ermordet«, sagte ich.

»Wie nennst du es denn, wenn jemand unbewaffnete Leute totschießt?«

»Unbewaffnete Leute, die die Absicht hatten, mich zu töten. Ich nenne es Selbstverteidigung.«

»Hm«, sagte er. Ich wartete. »Ich nenne es auch Selbstverteidigung, aber Captain Gartland war nicht besonders glücklich darüber.«

»Gartland ist nie glücklich, aber das ändert nichts an den Tatsachen. Glücklicherweise gibt es ein paar Details, die deine Aussage untermauern. Seilabdrücke an deinen Hand- und Fußgelenken. Blaue Flecken dort, wo man dich vielleicht geschlagen hat. Fensterglas in deinen Händen.«       

»Und dazu noch gebrochene Knochen.«

»Und gebrochene Knochen. Die Tatsache, daß die Waffe Marcia Merom gehörte und nicht dir.«

»Ich habe gar keine. Vielleicht sollte ich.«

»Jeder auf der Welt hat eine, außer dir.«

»Du hast es mir ausgeredet.«

»Du weißt, daß Seafield den Revolverlauf verbogen hat, als er mit dieser Weinflasche daraufschlug?« fragte Miller. Er zeigte mir auf diese Weise, daß er vieles von dem, was geschehen war, rekonstruiert hatte.

»Nein«, sagte ich, »das wußte ich nicht.«

»Die Arzte sagen, er muß den Revolver mit der Flasche getroffen haben. Die Vibrationen haben dir dann die Finger gebrochen. Wenn er deine Hände getroffen hätte, wären wir immer noch damit beschäftigt, die Einzelteile aufzulesen. Und das alles, obwohl er drei Löcher im Leib hatte.«

»Drei!«

»Das ist die Zahl nach zwei und vor vier.«

»Ich kann ihn unmöglich dreimal getroffen haben. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich ihn überhaupt ein einziges Mal getroffen hatte.«

»Du meinst, nachdem du die Armlehne der Couch fertiggemacht hattest und das Bild an der Wand?«

»Kein Kommentar.«

»Ein Revolver hat sechs Schuß, wie du weißt. Und es ist nur gut, daß du den letzten nicht abgefeuert hast.«

»Warum?«

»Weil der Revolver mit einem verbogenen Lauf nach hinten losgegangen wäre, darum. Die Kugel wäre nicht rausgekommen. Und es ist ziemlich übel, wenn so etwas passiert.«

Ich senkte den Kopf. »Ich erinnere mich nicht sehr gut.«

»Gartland wird vielleicht deine Lizenz einkassieren«, sagte Miller. »Aber was irgendwelche Anklagen gegen dich betrifft, wirst du keine Probleme haben.«

»Du versuchst wohl, mich aufzuheitern, wie?«

»Mach dir keine Gedanken wegen des Polizisten draußen vor der Tür. Reine Vorsichtsmaßnahme.«

»Was für ein Polizist?«

»Hm«, sagte er, »wir haben einen Mann da draußen, das ist alles. Gartlands Anordnung.«

»Ist ja toll«, sagte ich. Ich wurde langsam müde.

Miller sah, daß meine Augenlider flackerten. »Du solltest auch wissen, daß wir diese Briefe gefunden haben.«

»Welche Briefe?«

»Die Briefe vom FBI an Rush, in deiner Jackentasche.« Als er davon sprach, fiel es mir wieder ein. »Das FBI hier sagt, daß sie sie nicht für echt halten, aber wir überprüfen das noch.«

»Und was ist mit Rush?«

»Er war den ganzen Tag auf dem Revier und hat Fragen beantwortet.«

»Und Walker?«

»Der Bursche, der mit Rush und Seafield zusammen war, als sie dich in Rushs Haus erwischt haben? Wir suchen nach ihm.«

»Um Himmels willen, laß ihn nicht davonkommen, Jerry.«

»Ist er wichtig?«

»Ganz genau. Er ist der Verbindungsmann. Er wird garantiert untertauchen, wenn ihr ihm die Chance gebt.«

Miller stand auf. »Ich lasse dich jetzt schlafen.«

Ich schlief ein, wachte auf, schlief ein, wachte auf. In der Hälfte meiner wachen Phasen dachte ich an glücklichere Tage. Die andere Hälfte verbrachte ich damit zu rekonstruieren, wie es mir möglich gewesen war, in einen solchen Schlamassel zu geraten.

Am späten Nachmittag begriff ich, daß Linn Pighee tot war. Tot. Linn Pighee, die in meinem Bett geschlafen hatte, die von meiner verkrüppelten Tochter umsorgt worden war.

»Schwester! Schwester!« rief ich, rief lauter, klingelte.

Ein Kind in Weiß erschien. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Sie kann nicht tot sein«, sagte ich, »sie kann nicht tot sein.«

Das Kind blieb wie angewurzelt stehen und wußte nicht, ob es irgend etwas tun sollte, tun konnte. Mich trösten, jemanden herholen, der an mir herumdokterte, oder einfach abwarten. Die Unentschlossenheit ließ sie warten. Und ich sank langsam wieder in Schlaf.

*

Später am Nachmittag wachte ich dann richtig auf. Ich bat eine Schwester, mir jemanden zu schicken, der etwas zu sagen hatte. Ich hatte die Oberschwester im Sinn. Statt dessen schickte sie mir Miller.

»Bist du bereit, eine Aussage zu machen?« fragte er.

»Ich habe nachgedacht«, sagte ich.

»Ich kann verstehen, daß du jemanden dahaben wolltest, der dieses Ereignis festhält.«

»John Pighees Frau, Linn Pighee. Sie ist vor ein paar Tagen gestorben.«

»Das habe ich gehört«, sagte Miller.

»Ich muß mit dem Mann reden, der die Autopsie gemacht hat.«

»Du mußt! Wer zum Teufel bist du eigentlich?«

»Ich muß wissen, warum sie gestorben ist.«

»Hast du sie vielleicht auch erschossen oder so etwas?«

»Sieh mal«, sagte ich, »ich werde keine Aussage machen, bis du es arrangiert hast, daß der Mann, der die Autopsie gemacht hat, hierherkommt.«

»Angeblich werden die Menschen, wenn sie in dein Alter kommen, weicher.«

»Oder sie werden streitsüchtiger. Ich fühle mich ziemlich streitsüchtig.«

»Na schön, na schön. Ich werd’s arrangieren. Aber sieh zu, daß du wieder zu Kräften kommst. Draußen ist ein Stenograf. Wenn ich zurückkomme, werden wir deine Aussage aufnehmen. Bevor du dich auch noch erschießt. Du hast in letzter Zeit ja so ziemlich jeden erschossen.«

*

Vierzig Minuten später, gestärkt durch ein Glas Orangensaft, begann ich, ihnen Schritt für Schritt zu erzählen, wie ich von Mrs. Thomas engagiert worden war und wie ich auf diese Weise an die Leute herangekommen war, mit denen John Pighee zu tun hatte. Es war ein langes und unangenehmes Gespräch, und als ich an das letzte Stück gelangte, traf mich zum ersten Mal die Erkenntnis - und sie traf mich hart an welch hauchdünnem Faden es gehangen hatte, daß ich jetzt lebte und nicht tot war.

»Du wirst es nicht erleben, daß ich jemals wieder etwas gegen die Macht des Gebetes sage«, stellte ich fest.

In der Nacht wachte ich wieder auf. Und erinnerte mich. Man würde mich demnächst zur Räumung zwingen. Meine Lizenz befand sich in echter Gefahr, was Gartland betraf. Meine Ersparnisse waren weg. Sam mußte bald wieder gehen. Ich hatte zwei Menschen getötet.

Zwei Menschen getötet. Es war mir ein Rätsel, wie das passieren konnte. Ich konnte mir schlicht nicht vorstellen, wie ich so etwas tun konnte. Aber ich hatte es getan. Es war einfach geschehen. Ich hatte getötet, um mein eigenes Leben zu retten. Daraus folgerte ich, daß ich sterblich war. Daß Linn Pighee tot war. Daß auch Sam eines Tages sterben würde.

Ich muß laut aufgeschrien haben. Jemand kam in dieser Nacht an mein Bett. Ich erinnere mich noch daran, daß jemand mir die Stirn abgetupft und mich getröstet hat. Das half. Trost.

Später habe ich dann wieder geträumt, aber ohne dieselben Ängste. Mrs. Thomas kam ins Zimmer gestürmt. Ich sah sie an mein Bett treten, meine Hand ergreifen und mich durch die Lederfalten ihres Gesichtes hindurch anlächeln. Sie sagte: »Gute Arbeit.« Und sie tätschelte mir den Kopf. Sie sagte es nicht, aber ich wußte, daß sie mir dafür gratulierte, daß ich Marcia Merom erschossen hatte. »Sie war für John nicht besser als Linn«, sagte Mrs. Thomas in meinem Traum. »Es ist nur gut, daß sie aus dem Weg ist. Wenn John wieder gesund wird, werden wir versuchen, jemand anders für ihn zu finden«, sagte sie. »Jemand, der mehr so ist wie ich.«