Am Nachmittag bekam ich Besuch von Sam. Ray McGonigle begleitete sie. »He, Mann«, sagte er. Aber er trat zurück, als Sam näher kam und sich an mein Bett setzte.
Ich sah, daß sie geweint hatte.
»Daddy«, sagte sie. »Daddy.«
»Was ist, Kind?«
»Ich habe heute morgen mit Mama telefoniert. Sie sagt, ich muß nach Hause kommen. Ich muß zurück in die Schule.«
»Natürlich mußt du das«, sagte ich.
»Ich meine, ich muß jetzt gehen. Ray bringt mich zum Flughafen.«
»Ein besserer Vater würde solche Dinge im Auge behalten«, sagte ich. Mit einem Mal war mir zum Heulen. Aber, um es ihr nicht noch schwerer zu machen, kämpfte ich mannhaft dagegen an. Dann fand ich aber, daß ich durchaus weinen sollte, wenn mir danach war. Aber zu dem Zeitpunkt konnte ich es schon nicht mehr.
»Ich war drauf und dran, Mama zu sagen, daß ich nicht zurück in die Schule will«, sagte Sam. »Aber da ich nur noch ein Jahr bis zum Abschluß habe, meine ich, ich sollte es dieses eine Jahr auch noch aushalten.«
»Natürlich solltest du das«, sagte ich.
»Daddy«, begann sie, aber wir wurden von einem Krawall draußen vor der Tür zu meinem Zimmer unterbrochen. Das Getöse dauerte etwa eine halbe Minute, während wir alle die Tür beobachteten und warteten. Einen Augenblick lang überfiel mich ein ängstliches Zittern. Es ging mir durch den Kopf, daß Gartland ins Krankenhaus gekommen war, um etwas Unbesonnenes zu tun.
Aber statt dessen trat ein ziemlich alter, kleiner Mann ins Zimmer, als die Tür sich öffnete. Er trug einen Stock, mit dem er jedoch kaum einmal den Fußboden berührte. Er war drahtig, und sein Haar war von leuchtendem Weiß.
Er kam an mein Bett und sagte, ohne sich auch nur im geringsten um Sam zu kümmern: »Und wie geht es dem Patienten?«
Mir fiel nichts Originelleres ein als »ganz gut«.
»Wie lange werden Sie noch hierbleiben?«
»Ich weiß nicht.«
»Wir behandeln Sie doch gut, oder?«
»Sehr gut.«
»Schreckliches Theater hatte ich, um hier reinzukommen. Ich habe dem Polizisten da draußen gesagt, daß ich jetzt seit dreiundzwanzig Jahren alle vierzehn Tage die Patienten hier besuche und daß ich ganz bestimmt keinen auslassen würde, egal, wie gefährlich die Sache sei.«
»Oh«, sagte ich.
Er wandte sich an Sam und Ray. »Familienbesuch. Balsam für die Seele, sage ich immer. Na, dann werden Sie mal schnell wieder gesund.«
Mit diesen Worten verließ er abrupt das Zimmer.
Rays Aufregung trug ihn beinahe bis zur Tür hin. »Wissen Sie, wer das war? Wissen Sie es?«
»Ich habe das Gefühl«, sagte ich, »daß ich es gleich erfahren werde.«
»Das war Sir Jeff! Sir Jeff Loftus höchstpersönlich! Wow!« Sehnsüchtig betrachtete er die geschlossene Tür.
»Wow?«
»Stellen Sie sich nur vor, ein wichtiger Mann wie er nimmt sich die Zeit, Patienten im Krankenhaus zu besuchen. Wow!«
Bei der Art, wie Ray die Tür anstarrte, durch die der große Mann gekommen war, ging es mir durch den Sinn, daß er sie gleich aus den Angeln heben würde. Um sie zu reparieren.
»Ray, gehen Sie und helfen Sie Sir Jeff«, sagte ich.
»Was?«
»Das ist Ihre große Chance. Er könnte vielleicht stolpern, und dann wären Sie da, um seine Krone aufzuheben. Gehen Sie nur.«
Ray zögerte, wollte aber Sir Jeff ebensogern folgen, wie ich mit Sam allein gelassen werden wollte.
»Ich wollte dir nur sagen, daß du deinen Abschluß machen sollst«, sagte ich zu ihr.
Einige Sekunden lang saß Sam wortlos da. Dann brach es aus ihr heraus: »Wenn ich fertig bin mit der Schule, dachte ich - ich dachte, es wäre wirklich gut, wenn ich dann wieder hierher käme, um dir zu helfen.«
»Um mir zu helfen?«
»Mit dem Detektivbüro.« Eifrig setzte sie sich auf und sagte: »Als du gedacht hast, ich sei gekidnappt worden, war ich damit beschäftigt, das Schild zu kaufen.«
»Was für ein Schild?«
»Es ist ein Geschenk. Das du draußen über deiner Tür anbringen kannst, um dich besser zu verkaufen. Es ist ein Neonschild, und die Leute werden es sehen und wissen, daß du da bist.«
»Das nehme ich an«, sagte ich.
»›Albert Samson, Privatdetektiv‹ steht drauf. Und« - die Aufregung war nicht gespielt - »es kam heute morgen!«
»Es kam…?«
»Es wurde in dein Büro geliefert. Es ist wirklich wunderhübsch. Ich habe es eingestöpselt, und es blinkt!«
»Wow«, sagte ich.
»Das Großartige daran ist aber, daß man noch eine zweite Zeile hinzufügen kann.«
»Noch eine Zeile?«
»Damit es ›Albert Samson & Tochter‹ heißen könnte«, sagte sie. Dann wurde sie plötzlich schüchtern. »Wenn du mich überhaupt dahaben willst, Daddy.«
»Das mußt du nicht fragen«, sagte ich.
Sie sagte nichts. Genausowenig wie ich, denn mir war zu warm ums Herz.
»Es ist wirklich schade«, sagte ich endlich.
»Was ist schade?«
»Daß ich mich nicht durchsetzen konnte, als deine Mutter und ich uns wegen deines Namens gestritten haben.«
Sie zögerte. »Wie wolltest du mich denn nennen?«
»Delilah«, sagte ich. »Also, das wäre doch mal ein großartiges Schild. ›Samson & Delilah, Detektivbüro‹.«
Sie lächelte. »Ich kann meinen Namen ja ändern«, sagte sie.
»Und ich kann mir eine andere Delilah suchen«, sagte ich.
»Warum?« Verletzt.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich einen Partner ins Geschäft nehmen würde, der nur einen High-School-Abschluß hat, oder? Ich würde niemanden in Betracht ziehen, der nicht auf dem College war.«
»Wirklich nicht?«
»Ganz bestimmt nicht.« Die gute Tat des Tages.
»Oh.«
»Ich muß schließlich einen gewissen Standard aufrechterhalten.«
»Aber du hast doch selbst auch keinen College-Abschluß.«
»Und ich brauche nicht noch einen Dummkopf wie mich im Geschäft. Ich bin ein Luxus, den ich mir kaum leisten kann. Ich sag dir was. Ich halte die Stelle offen für dich. Wie wäre das?«
»Ich hab ’ne Menge Ideen, wie wir es besser machen können«, sagte sie.
»Es macht mich ganz müde, nur daran zu denken, wieviel du denkst.« Mir fiel auf, daß ich müde war. Ich sackte in mich zusammen, und sie bemerkte es. »Was hast du gesagt, wann mußt du gehen?«
»Ich hätte schon gestern gehen müssen. Mein Flugzeug geht in…« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr.
»Gib mir die Hand, Kind.«
Sie beugte sich vor und küßte mich.
»Und sieh zu, daß du deinen Detektivausweis immer schön abstaubst.«
»Mach ich.«
»Dein Besuch war hocherwünscht«, sagte ich. »Bei dem Gedanken, daß ich eine erwachsene Tochter habe, fühle ich mich gleich um zehn Jahre jünger.«
Als Sam durch die Tür hinausging, hatte ich das Gefühl, als sei das das Ende vieler Dinge. Aber ich schaffte es nicht, darüber in Depression zu versinken, und eine Weile konnte ich nicht verstehen, warum. Ich hatte kein Geld, würde schon bald keine Wohnung mehr haben und wahrscheinlich auch keine Lizenz. Ich hatte zwei Menschen getötet, und ein dritter, ein guter, war gestorben. Ich war wieder allein und kinderlos.
Aber das düstere Netzwerk der Ereignisse wollte mich einfach nicht umfangen. All diese Dinge waren auf ihre eigene Art und Weise Chancen, die Karten des Lebens neu zu mischen. Ein neues Blatt auszugeben. Vielleicht mit einigen alten Karten darin, vielleicht auch nicht.
Und ich stellte fest, daß ich mich auf etwas freute: auf Sams Neonschild. Leuchtend und grell, ein blinkender, stummer Vertreter draußen vor einem neuen Büro, der Tag und Nacht der Welt verkündete, daß ich noch immer im Geschäft war, noch immer lebte.