Von Loftus aus fuhr ich zurück in mein Büro. Nur für den Fall, daß sich dort eine lange Schlange rabattsuchender Klienten die Treppe hinunter und bis auf die Straße erstrecken sollte.
Oder jedenfalls vielleicht einer.
Aber es war niemand da, und ein Anruf bei meinem Telefonservice erwies, daß mein Telefon sich den ganzen Morgen freigenommen hatte, während ich außer Haus war, um zu arbeiten.
»Es tut mir leid, daß ich angerufen habe, um nachzufragen«, sagte ich.
»Ich wünschte wirklich, jemand hätte angerufen, Mr. Samson«, sagte Dorrie, die Telefondienststimme. »Wirklich.«
Wie nett. Sie machte sich Sorgen um mich. Da hatten wir etwas gemeinsam. Ich konnte den Fall meines komatösen Vertreters vielleicht einen Tag lang hinziehen, aber ich war bereits kurz vor dem Punkt, an dem ich mir überlegen mußte, ob ich die ganze Sache nicht vernünftigerweise abbrechen sollte.
Ich aß eine Dose Bohnen in Tomatensauce und zählte mein Geld.
Auf dem Weg nach draußen fand ich einen Brief im Korb. Sonderzustellung. Ich wußte, von wem er kam. Meine Tochter ist der einzige Mensch, den ich kenne, der sich eine Sonderzustellung leisten konnte.
In dem Brief stand, daß sie in einer Woche zu Besuch kommen würde. »Mein Gott«, sagte ich zum Treppenhaus. »Mein Gott.«
*
Ich ging hinaus auf die Straße und zögerte. Die Frage war, ob ich Lust hatte, mich anschreien zu lassen oder nicht. Ich hatte keine Lust, also ging ich dorthin, wo es still war, in die Bibliothek.
Ich suchte die medizinische Abteilung und fand sie, ohne meinen ganzen Berufsstand zu blamieren. Ein wuschelköpfiges Mädchen in einem Maxirock und einer Minibluse stand haargenau in der Mitte der Abteilung und schien sich die gesamte Welt der Medizin auf einmal vorknöpfen zu wollen.
»Glauben Sie, Sie könnten mir vielleicht helfen?« fragte ich.
»Klar«, sagte sie und drehte ihr Gesicht zu mir um. Der Rest ihres Körpers folgte kurz darauf, obwohl es eine ganze Weile dauerte, bis er sich mit seiner neuen Kompaßpeilung zurechtfand.
»Ich brauche ein paar Informationen über die Behandlung von Opfern schwerer Unfälle.«
»Schwere Unfälle? Sie meinen so etwas wie Autounfälle?«
»Ja. Explosionen.«
»Hm«, sagte sie. »Ich weiß nicht. Hm.« Etwas ruckartigroboterhaft drehte sie sich wieder zu den Regalen um. »Es gibt da ein paar Bücher, in denen auch von verschiedenen Arten von physikalischen Traumata die Rede ist, aber es hört sich so an, als suchten Sie da etwas ziemlich Spezielles. Hier gibt es nicht besonders viel. Sie könnten es mit ein paar von den neueren Zeitschriften versuchen. In den Krankenhäusern von Nordirland gab es viele solche Fälle. All die Soldaten und Zivilisten, die da immer in die Luft fliegen! Sie haben so viele solcher Fälle, daß sie einige neue Behandlungsmethoden ausprobieren konnten. Das ist aber auch alles, was mir einfällt.«
»Sehr interessant. Vielen Dank.«
»Man kann Ihnen wahrscheinlich einige Zeitschriften besorgen. Wenn Sie irgendwo einen der Bibliothekare finden, wird er Ihnen sicher helfen.«
»Sind Sie denn keine Bibliothekarin?«
»Ich? Puh, nein«, sagte sie und lächelte. »Ich gehe noch zur High-School.«
Und liest medizinische Bücher in den Sommerferien! »Sie wollen wohl mal Ärztin werden?«
»Na ja… vielleicht. Ich weiß nicht. Vor ein paar Jahren bin ich hierhergekommen, um nachzusehen, ob es hier irgendwelche Bücher gibt, die mir bei meinen Haaren helfen können. Und irgendwie habe ich dann angefangen, mich dafür zu interessieren.« Sie schüttelte ihren Haarschopf, obwohl dieser kaum einer Ermutigung bedurfte. »Ist das nicht der scheußlichste Mop, den Sie je gesehen haben?«
»Lieber Himmel, nein«, sagte ich schnell. »Ich habe schon viel Schlimmeres gesehen.« Am Ende langer Holzstiele. »Außerdem ist es doch im Augenblick sehr modern, oder?«
»Ja. Habe ich doch mal wieder Glück gehabt«, sagte sie.
Ich verabschiedete mich von ihr, machte mich aber nicht auf die Suche nach einem Bibliothekar. Ich hatte nicht das Gefühl, daß ich Zeit hatte, mich durch irgendwelche medizinischen Zeitschriften zu graben; das Ganze war ohnehin ein reines Glücksspiel gewesen - ein Besuch hier gegen die Chance, ein Buch zu finden, in dem alles stand, was ich wissen wollte. Mir war auf meine laienhafte Weise klar, daß Pighees Zustand sehr kritisch war, aber ich wollte mehr Einzelheiten und auch mehr Sachkundigkeit, als ich selbst besaß. Also ging ich von der Bibliothek aus zu meinem Arzt. Und wurde prompt angemotzt. Er hatte schlechte Laune.
Seine Frau ließ mich zwischen zwei Patienten zu ihm hineinschlüpfen. Ich erklärte ihm schnell, was ich wollte.
»Himmel Donnerwetter noch mal!« sagte er. Und ich hatte nicht einmal ein komplettes Krankheitsbild erfragt. »Der Bursche ist seit sieben Monaten bewußtlos, und Sie wollen, daß ich seine ganze Fallgeschichte für Sie rekonstruiere.«
»Nicht die ganze«, sagte ich. »Nur alles, was Sie können.«
»Der Bursche ist zu neunundneunzig Prozent ein toter Mann. Geistig, nicht körperlich. Es müßte schon ein halbes Wunder geschehen, damit er durchkommt.«
»Aber er könnte vielleicht wieder aufwachen?«
»Das ist nicht auszuschließen. Im Prinzip. Diesen speziellen Fall kenne ich ja offensichtlich nicht. Wahrscheinlich könnten seine eigenen Ärzte Ihnen weiterhelfen.«
»Wenn sie es wollten. Sagen Sie, ist es normal, so jemand zu isolieren?«
»Isolieren?« fragte er.
»Könnte es ihm schaden, wenn jemand an seinem Bett sitzt und zusieht, wie er nicht aufwacht?«
Mit einer angewiderten Geste breitete er die Arme aus.
»Wie zum Teufel soll ich das wissen?« sagte er. »Allerdings ist das ziemlich ungewöhnlich, es sei denn, es gibt noch weitere Komplikationen«, fuhr er fort.
»Aber…«, begann ich.
»Ich habe jetzt einfach keine Zeit mehr, Al«, sagte er verzweifelt. »Ich würde Ihnen wirklich gerne helfen. Und Hilfe brauchen Sie weiß Gott. Aber ich habe ein ganzes Wartezimmer voll entzündeter Fußballen. Kommen Sie morgen früh wieder, wenn es unbedingt sein muß. Vorher kann ich wirklich nichts für Sie tun.«
Ich konnte ihn nicht weiter bedrängen. Ein Mann, der sich sieben Monate lang gehalten hatte, würde sich auch noch einen weiteren Tag lang halten. Die Sache drängte nur deshalb so, weil ich nicht wußte, ob ich in einem Tag noch an diesem Fall arbeitete.
So. Ich saß in meinem Lieferwagen und beschloß, es noch einmal mit den medizinischen Aspekten der Angelegenheit zu versuchen. Das Mädchen in der Bibliothek hatte etwas von Soldaten gesagt, die in Irland in die Luft flogen. Daher kam es mir in den Sinn, daß ein Militärarzt vielleicht eine Menge mehr Erfahrung mit Explosionen haben mochte als ein ziviler Arzt. Also fuhr ich nach Nordosten, zum Benjamin Harrison-Fort.
Nicht, daß es dort einen hölzernen Palisadenzaun um das Gebäude gegeben hätte. Als ich von der Aultman Avenue auf die Greene Road abbog, kam mir das Ganze mehr wie ein Collegecampus vor und nicht wie ein militärischer Vorposten und dessen Lohndepot mit den alten Backsteingebäuden und den vielen Ahornbäumen.
*
An einem Friedhof hielt ich einen Soldaten auf, der in Jogginghosen seine Runden zog, und fragte ihn, wo ich das medizinische Personal finden könne. Er schickte mich in das Armeekrankenhaus Piawley. »Es ist nach Major General Hawley benannt, dem Oberbefehlshaber der Feldlazarette in Europa während des Zweiten Weltkriegs«, sagte er. Ich war fasziniert.
Vom Empfang aus schickte man mich zu dem Adjutanten, der mich mit dem »Doc« bekanntmachte.
Er war ein ziemlich großer Mann, dessen zottiges Haar und ungeputzte Schuhe sogar mir auffielen. Und zeigten, wie schnell ein Besucher sich an Armeenormen gewöhnen kann. Der Doc war in Wirklichkeit gar nicht groß, aber die wehenden weißen Mantelschöße betonten seinen Bierbauch … »Captain Oak sagt, Sie wollten eine kleine Information«, sagte er.
Ich erzählte ihm von John Pighee.
»Sie verstehen sicher, daß wir hier mit solchen Fällen nicht viel zu tun haben«, sagte er und machte ein ziemlich ernstes Gesicht.
»Natürlich«, sagte ich, »aber ich nahm an, daß ein Arzt, der gleichzeitig Berufssoldat ist, eher als ein ziviler Arzt eine besondere Ausbildung für die Behandlung von Verletzungen haben wird.«
»Sollte er jedenfalls«, sagte er und nickte. »Ich weiß zwar nicht, ob das stimmt, aber es wäre sinnvoll.« Er kratzte sich am Kinn. »Ihr Mann ist also seit sieben Monaten bewußtlos, sagen Sie.«
»Genau.«
Er schüttelte den Kopf, zog die Augenbrauen hoch und schürzte die Lippen.
»Ich frage mich, ob die aus gutem Grund Besucher von ihm fernhalten oder ob es einfach eine Bequemlichkeit für die Verwaltung bedeutet. Ist ein solcher Patient denn anfälliger für Infektionen als andere?«
»Die Widerstandsfähigkeit gegen eine Infektion«, sagte der Doc, »hängt von der Leukozytenproduktion des Körpers ab; Leukozyten sind eine Art weißer Blutzellen. Gibt es einen Grund für die Annahme, daß die Fähigkeit dieses Mannes, Leukozyten zu produzieren, reduziert oder irgendwie eingeschränkt ist?«
»Tja - wie könnte es denn zu so etwas kommen?«
»Es gibt ein paar Medikamente, die das bewirken. Und oft ist es auch eine Folge von Strahlenbehandlung.«
»Ich weiß über die Einzelheiten seiner Behandlung nicht Bescheid.«
»Nun ja, ich kann mir keine Standardbehandlung vorstellen, die solche Dinge notwendig machen würde.«
»Er liegt auf einer Versuchsstation.«
Mein Gegenüber runzelte die Stirn. »Wer weiß, auf was für Ideen einige dieser Leute kommen? Aber ich muß schon sagen, für mich klingt die Sache nicht ganz koscher. Sind Sie sicher, daß der Patient derjenige ist, der nicht angesteckt werden soll?«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nun, Ihrer Schilderung nach handelt es sich um das Labor einer Pharmagesellschaft. Vielleicht haben sie Angst, daß er ansteckend sein könnte, daß er die Besucher mit irgend etwas infizieren könnte.«
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
»Tja.« Er zuckte bedeutungsvoll die Achseln. »Nach dem, was Sie sagen, könnte es sich durchaus lohnen, einmal darüber nachzudenken.«