Unter den Kuppen und Felsgraten des Riesengebirges öffnete sich das Hirschberger Tal weit und einladend. Das Wechselspiel von Sonne und Wolken ließ die bewaldeten Hügelkämme glänzen, ehe Schatten die Bäche, Wasserfälle, die Wiesen und Schieferdächer flüchtig eindunkelte. Von den Höhen bis in die Ebene herab wirkten die Berghütten, darunter die kurvenreichen Straßendörfer, die Schlösser mit ihren Parks in der Talsohle wie lustvoll hingestreut. Hoch oben und weithin sichtbar erhob sich der Turm der Kirche Wang, die König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, Alleinherrscher und Romantiker, in Norwegen erworben und komplett hierher hatte verfrachten lassen, um das Wunderwerk aus Schnitzarbeit im Südosten seiner Länder neu zu errichten. Auch im Umkreis dieses Wanderziels duckten sich Bauden zwischen Fels und Wald. In manchen der Hütten hatten einst Waldarbeiter gehaust und Kleinpächter ihre kümmerlichen Gehöfte bewirtschaftet. Durch den frühen Zustrom von Wanderern und Kurgästen war der Ferienbetrieb lohnend geworden. Etliche der Bauden hatten den Besitzer gewechselt. Wo vormals Frauen und Kinder geradezu Tag und Nacht am Webstuhl gesessen hatten, leuchtete bald elektrisches Licht für die erholungsbedürftigen Eigentümer aus Berlin, Breslau oder von noch weiter her. Die ausgedehnten Orte Krummhübel und, bedeutender noch, Schreiberhau hatten sich schon vor der Jahrhundertwende auf Sommergäste und erste Skifahrer eingestellt. Hotels im Fachwerkstil, mit kleinen Erkern, hölzernen Terrassen, wie sie in den Mittelgebirgen von der Tatra bis zum Harz üblich waren, säumten die kurvenreichen Passstraßen. Das vornehmste Publikum hatte sich für die Saison oder ganzjährig indes auf der breiten Sohle des Hirschberger Tales angesiedelt. Seit Jahrhunderten residierten hier die Reichsgrafen von Schaffgotsch, denen bis ins Isergebirge fast das gesamte Land gehörte; in Warmbrunn hatten sie ihr Palais bauen lassen, nach den napoleonischen Kriegszeiten wurde es durch ein schmuckes Theater bereichert. Ein Casino für Fürstlichkeiten aus aller Herren Länder ergänzte die architektonischen Kleinode. Mitsamt dem Kurpark war die Residenz zum Bad erhoben worden. Anderer Adel und Großindustrielle hatten es sich in den lose verstreuten Edelsitzen Erdmannsdorf, Lomnitz, im hollenzollernschen Schildau und auf Schloss Wernersdorf bequem gemacht. Der König der Oden, Friedrich Gottlieb Klopstock, hatte dort geweilt und vermutlich gedichtet. Später hatte sich als besonderer Gast nach seiner Amtszeit der sechste Präsident der Vereinigten Staaten John Quincy Adams in Wernersdorf erholt. Wahrlich fernab Washingtons und des Weißen Hauses. Mehr als zwei Dutzend Burgen, Burgruinen, barocke und klassizistische Landvillen verteilten sich von der Ebene bis zu den ersten Anhöhen des Riesengebirges, das auch Schneegebirge genannt worden war. Sämtliche Straßen, Wege und Bergpfade aber nahmen von der Öffnung des Tals, von Hirschberg her, ihren Ausgang. Um die alte Tuchmacherstadt reihten sich Sägewerke, eine Porzellanfabrik, die Großgärtnerei Wunnicke, Bahndepot und das Ferienlager von Kraft durch Freude. Wie fast allerorten in Schlesien und bei Sonnenglut oder Regen stets willkommen, erfreute der Marktplatz der Kreisstadt durch seine Laubengänge, in denen vorzeiten die Kaufleute und Händler ihre Waren feilgeboten hatten. Wie in einer Orgie von Verzierungswonne waren gegen Ende der habsburgischen Oberherrschaft über Schlesien die Fassaden mit Stuckgirlanden, Rankenwerk und geschwungenen Firsten wienerisch üppig geschmückt worden. Die spätere Preußenzeit hatte Bahnhöfe, Wassertürme, Gymnasien und Lyzeen aus Backstein hinterlassen. Im Osten des Stadtkerns, Kilometer vor den Gebirgsgipfeln, aber war ein bauliches Wunder zu bestaunen. Eine der schlesischen Gnadenkirchen, in denen nach blutigen Glaubenskämpfen die Protestanten ihre Gottesdienste abhielten. Nur aus Holz durften diese abgezwungenen Toleranzbauten errichtet werden, doch der Tempel der Hirschberger Lutheraner übertrumpfte mit seinen dreitausend Sitzplätzen zwischen Schnitzwerk und unter gemalten Himmeln die katholischen Gotteshäuser. Gar nicht zu sprechen vom Kirchhofsrondell, einer Piazza vor dem Jenseits, wo sich im weiten Kreis die Mausoleen, vielmehr die von Skulpturen überbordenden Pavillons reihten und beinahe Lust auf eine solche Sarkophagbleibe vor dem Jüngsten Gericht machten. Mit frohgemut trompetenden Putten schon auf Erden. Ihre berühmten Mitbürger hatten die Hirschberger zwischen den Todesschatullen auf Gedenktafeln, an denen der Spaziergänger vorbeiwandelte, verewigt, Mäzene, Reichstagsabgeordnete, den fulminanten Prediger Gottlob Adolph, der 1745 auf der Kanzel nach zuverlässiger Überlieferung vom Blitz erschlagen worden war, den Dichter Salice-Comtesse, der, dem Freundeskreis E. T. A. Hoffmanns zugehörig, sich selbst in lebensbedrohliche Spukgeschichten verstieg. Eine eingemeißelte Erinnerungszeile war einem Meister zarter Töne, dem Flötisten Maximilian Schwendler, gewidmet, während das bronzene Konterfei mit Perücke und der Hinweis auf Adam Christian Thebesius größeren Raum einnahmen. Der Stadtphysicus hatte früh den Blutfluss der Koronargefäße erforscht, und wessen Herzleiden gelindert wurden, der hatte auch diesem Mediziner zu danken. Nun waren die Glocken der Gnadenkirche längst eingeschmolzen, Geläut war im Lande fast nirgendwo zu vernehmen.
Über Jahre hatten Hirschberger die Hakenkreuzfahne am Rathausturm kaum mehr wahrgenommen. Sie entfaltete sich im Frühjahrswind. Auf eine bisher unbekannte Weise verursachte die Flagge jetzt Angst, ja Panik. War die Stadt unweit der Front gut beraten, das totale Hoheitszeichen so zur Schau zu stellen? Wohl niemand war befugt, die Fahne einzuholen oder sie an weniger exponierter Stelle zu hissen. Der Initiator wäre binnen Kurzem im Keller des Polizeipräsidiums oder der Ortsgruppenleitung verschwunden, dann bei den Kiesgruben erschossen worden. Wenige Frauen, alte Männer drückten sich unter den Laubengängen entlang. In Einkaufskörben lagen die Ration Brot und ein Büschel alte Möhren. Aus dem eingeschlossenen Breslau, wo die Häuserkämpfe am Stadtrand und in den Villenvierteln tobten, drang durch, dass unter Dauerbeschuss eine Versorgungspiste ins Zentrum gesprengt worden sei. Vor dem Hirschberger Rathaus nahm eine Einheit des Volkssturms von einem Militärlaster Handgranaten in Empfang. Die 1. Ukrainische Armee hatte den Fluss Bober überschritten und kämpfte sich weiter vor. Flüchtlinge kauerten in abgerissener Kleidung und mit wirrem Blick auf dem Boden vor dem Hotel Deutscher Kaiser. Hilfspolizistinnen in halb langen Ersatzgummistiefeln verlangten, deren Ausweise zu sehen, prüften sie und forderten die Gestrandeten auf, entweder in ihre Unterkunft zu verschwinden oder sich «irgendwo anständig hinzusetzen».
«Ich bin Zahnärztin aus Hindenburg.»
«Hier wird nicht herumzigeunert.»
Die beiden feldgrauen Autos aus Görlitz bogen von Hirschberg nach Bad Warmbrunn ab.
Sie passierten den Kurpark, ehe sie die Haarnadelkurven hinauf nach Agnetendorf erreichten.
Linkerhand stürzte die Agnete über Geröll ins Tal, auf der anderen Wegseite waren den Anhöhen Gehöfte mit Vorgärten und Hühnerstall abgetrotzt worden. Für die Transporte bei Schnee standen an den Einfahrten noch die unterschiedlichsten Schlitten parat. Ein Fuhrwerk mit einem Gaul davor zwang die Fahrer zu einem gewagten Überholmanöver. Der Krach der Holzvergaser ließ Krähen auffliegen und schreckte hinter seinem Gatter einen Esel auf, der davongaloppierte. Endlos erklomm man auf der kurvigen Straße die Bergsiedlung. Kaum vorstellbar, wie vor Jahrzehnten in dieser steil-entlegenen Gegend auf Pferdewagen alles Notwendige für den Bau einer Villa hinaufgekarrt worden war. Allein durch seine Lage hatte das Dichterdomizil legendär werden müssen.
Endlich, hinter der Brücke, zeigten sich zwischen Kieferngehölz helles Gemäuer, rote Schindeln und das runde Spitzdach eines Turms. Keine Hecke, kein Zaun umschloss Haus Wiesenstein. Dennoch wirkte das Anwesen wie eine private Festung, die mit der Natur verschmolz. Massige Felsbrocken mochten noch zum Grundstück oder bereits zum anstoßenden Wald gehören. Ein Teich schimmerte im Grün. Vor dem Haus schien die Skulptur einer Frau sich zum Himmel emporschwingen zu wollen. Massiv wirkte Wiesenstein. Und geräumig. Graue Quader als Fundament, Graniteinfassung um die vergitterten Fenster im Erdgeschoss. Mitsamt dem Souterrain hinter Büschen und den Turmfenstern erhob sich die Villa in vier Etagen. Nicht anheimelnd der verschachtelte Komplex, eher erzstabil und trutzig. Im Mai würden die Rhododendronsträucher ihre Blütenpracht entfalten. Das Bauwerk schüchterte beinahe ein – wer von Rang und Namen, vor allem aus der geistigen Sphäre, war nicht hier heraufgepilgert, um am Dasein seines Bauherrn teilzuhaben?
Die Fahrer hielten vor den leeren Garagen an der Hofzufahrt. Die hauseigenen Automobile waren vermutlich requiriert worden. Gerhart Hauptmann erkannte sein Heim. «Die Ruhe. Die Pforte», sagte er. Sein Körper schien sich zu entspannen. «Nun kann ich sterben.»
«Du sollst ausschlafen und arbeiten», entgegnete Margarete Hauptmann und drückte seine weiße Hand. Der Fahrer, der die stundenlang vor sich hin Dösenden chauffiert hatte, öffnete der Gattin des Dichters die Tür. «Und die Russen bitten wir gegebenenfalls», sprach sie noch in den Wagen hinein, «zum Tee.» Der Wehrmachtsrekrut traute seinen Ohren nicht. – Hochverrat. Volksverräter. – Für solches Gesocks, solche Aasgeier, sollte er, sollten seine Kameraden ihr Leben opfern? – Am liebsten hätte er seine Pistole gezogen und das Luder im Pelz abgeknallt.
Die Alte stakste wie halb blind über den Schotter.
Verwandte des mächtigen Reichsleiters Bormann, so hatte er es verstanden, hatte er in den Unterschlupf gebracht. Vielleicht einzig zum Ordnen ihrer Wertpapiere, zum Abholen von Gold und Devisen. Bebend vor Zorn füllte der Achtzehnjährige Holzspäne nach. Tränen der Wut schossen ihm in die Augen.
Solche kämen durch. Würden sich mästen.
Er müsste verrecken.
«Hupen Sie doch mal», rief sie.
Wer sich im Hause befand, der eilte, der stürzte bereits heraus.
Der Fahrer des hinteren Wagens reckte sich.
Dem Hausherren wurde die Treppe hinaufgeholfen.
Er nickte der Köchin zu.
Seine Hand tastete über die Täfelung des Windfangs.
Er murmelte: «Polen.»
Vielleicht hatte er auf der Fahrt gegrübelt.
«Wie-Wie viel Hass hat der Krieg dort entfesselt», er wandte sich an seine Sekretärin, die verblüfft lauschte. «Wie … wie ungeheuer wird der Deutsche dort ge-gehasst. Wir haben Polen vernichtet. Zur Hälfte den Russen ausgeliefert. – Alle Rachegeister gegen uns au-aufgerufen. Warum», er stützte sich an der Wand ab, «ist überall in der Welt dieser gnadenlose Nationalismus erwacht? Nur, wenn … wenn wir uns von früh bis spät belügen, könnten wir von Menschenwürde reden.»
Das Gepäck war noch nicht einmal im Haus. Annie Pollak hütete sich, schon gar in diesem Moment, auf die national-euphorischen, ja nationalsozialistischen Anwandlungen – kaum als fahrlässig und blindes Eifern zu beschönigen – des Dichters auch nur anzuspielen: Was der Führer verfügte, war besonnene Tat. – Das Hakenkreuz vor der Ostseevilla hätte er nicht hissen lassen müssen, wenn auch diese Unterwerfung oder, schlimmer noch: dieses Bekenntnis, seine Einkünfte sicherte. Er hätte einfach ein umgänglicher Patriot sein können, mit der minimalen Devise: Ich liebe Deutschland. Wo in seinen Grenzen und in seinem Namen Unrecht geschieht, bin ich nicht dabei. So schütze ich mein Land. – Herzlich konnte er doch sonst auch sein. – Auf das Großspurige, Schäbige, den Hass hatte er sich eingelassen. Nun das Inferno.
Wandelte er sich in letzter Minute wieder zum Weltbürger, besann er sich auf das Friedvolle? Wer würde den Wunsch nach dem zivilen Miteinander von Menschen, Völkern und Lebensweisen noch vernehmen? Aus dem Mund eines Deutschen hören wollen? – Das Land, mit seinem unermesslichen Kulturvorrat, hatte seine Möglichkeit zu beglücken verwirkt.
Annie Pollak legte langsam den Mantel ab.
«Heute, wahrlich, sind wir hinter das Mittelalter zurückgefallen», sagte Hauptmann.
«Wer denkt denn überhaupt an Polen?» Die Gattin betrat die Halle. «Du legst dich jetzt hin.»