Rundblick

Sommerluft bauschte die Tüllvorhänge des Galeriezimmers.

Margarete Hauptmann musste nicht erkennen, welch wunderbarer Horizont sich vor ihren Fenstern ausdehnte. Sie hatte die grauen Bergkämme, von denen die Wälder ins Tal hinabflossen, von früher in Erinnerung. Nur der Baumbestand im eigenen Gartenpark war üppiger geworden und mochte Blicke auf Schluchten und ferne Dörfer verdecken. Gestank starker Brände, der rasch zum Fensterschließen zwang, wehte kaum mehr herein. Nur ab und zu, doch seltener, schien es irgendwo zu lodern. Hingegen schritt eine stillere Vernichtung voran. Laut Hörensagen wurden nach dem Abtransport der Schaffgotschen Bibliothek nun die Innereien von Fabriken abmontiert und fort in den Osten geschafft. Sogar die Kessel und Rührmaschinen der Hirschberger Seifensiederei waren verladen worden. Die Privatklinik von Dr. Schmidt war bis auf die letzten Thermometer ausgeräumt worden. Wer wusste, was von den empfindlichen Röntgengeräten und Operationsbestecken unbeschädigt in der russischen Steppe eintreffen würde. Nachdem Hausarzt Dr. Münch verschwunden war, konnte man nun leichter nach Dr. Schmidt schicken, der keine Klinik mehr besaß und bleich seinem Auto entstieg, um nach dem Rechten zu sehen und die Stärkungsspritzen zu verabreichen.

Von den Güterzügen, die mitsamt der schlesischen Industrie nach Osten rollten, bekam man im Gebirge nichts mit. Doch es hieß, dass es zwischen Rotarmisten und Polen sogar zu Schusswechseln kam. Die Russen wollten das Inventar der Molkerei für ihre Heimat. Ihre offenbar untergeordneten polnischen Verbündeten hatten darauf beharrt, dass die Edelmetallvorrichtungen im Lande blieben. Und so war um die Molkereigeräte gekämpft worden, bevor die Zentrifugen und Kühlaggregate im Regen entschwanden.

Was sollte werden?

Wenn das Land nach einem Friedensschluss je wieder auf die Beine käme, würde in Schlesien natürlich in ganz großem Stil investiert und würden die ausgeweideten Werkshallen und Betriebe mit den allerneuesten amerikanischen Maschinen bestückt werden. Dann hätten sie in der Sowjetunion, falls die sich zurückzöge, die alten demolierten Sachen, und die Hirschberger Molkerei würde ein expandierendes Vorzeigeunternehmen.

Ja, das Land mochte ganz frisch aufblühen. Modern, rege und doch traditionsbewusst. Doch kaum ein Gedanke reichte in solche Ferne.

Margarete Hauptmann stellte das Telefunken-Radio, das sie nicht abgeliefert hatten, nach wenigen Minuten wieder aus. Immerhin gab es zufällig Strom. Doch dauernd nur dieser Sender «Wrocław» und polnisches Reden. Was sollte diese Zumutung! Zumindest ein Marsch war aufgeklungen. Aber wer wollte jetzt Märsche hören?

Für eine fast Blinde war das Radio ein doppeltes Lebenselixir. Sie sog die Sommerbrise ein, die über ihren Schreibtisch strich.

Natürlich kam der Mensch, auch abgeschnitten von der Welt, mit seinen Gedanken zurecht, war von diesem und jenem erfüllt, hatte dies und das zu tun. Aber bisweilen fühlte sie sich auf dem Wiesenstein nun wie in der Steinzeit oder auf einem steuerlosen Schiff. Flüchtlinge hatte sie willkommen geheißen, ihnen Schlafplätze unter dem Dach oder im Keller zugewiesen. Sie wusste, so gutherzig war sie nie gewesen. Das Praktische konnten nur die Angestellten erledigen. In der Küche versorgte die Köchin die Eintreffenden, die Fortziehenden mit etwas Heißem. Sie, die Hausherrin, hatte in dem Tumult, der anschwoll, sich dann wieder verlief, nur gestört. «Gnädige Frau, ruhen Sie sich doch oben etwas aus», hatte Alma Guth ziemlich deutlich empfohlen und die Zofe sie hinaufbegleiten lassen.

Nein, es wurde nichts mit der Rückkehr zur Ordnung.

Zwischen den Fremden, die auf Matratzen nächtigten, sich unter der Kellerpumpe wuschen, wieder ihre Sachen packten und von dannen zogen, speiste der innere Zirkel klamm, wortlos Graupensuppe, Brennnesselauflauf.

Was ließ sich noch dem Gemahl verheimlichen? Beim Stochern in einer Mahlzeit rannen ihm Tränen über die Wangen. Und er flüsterte: «Ich habe nichts abgewehrt … Ich bin Teil der Schuld.»

«Herr Doktor», versuchte Pohl ihn aufzumuntern. «In jungen Jahren habe ich mich zu Ihrem Gewissen, zu Ihrem Mitgefühl für die Schwachen und Bedrängten bekannt. Sie waren mein Leitbild. Ich weiß um Ihre Güte.»

Hauptmann hatte sein Gesicht mit der Hand bedeckt.

Dieses Erinnern an den gewissenhaften Dichter, der das Volk liebte und der vom Volk geliebt wurde, machte alles noch schlimmer. Der ob seiner Irrwege, die endgültig einem Verbrechen glichen, verzweifelte Gerhart Hauptmann aß einen Happen allein am Schreibtisch.

Margarete Hauptmann spürte ihn und seine Gedanken in ihrer Nähe. Aber sie ließ ihn gewähren. Wenn er grübelte, musste er für sich sein.

Sie schob den Stoß Illustrierte beiseite, die sich im Haus angesammelt hatten. Der Rundblick, Mode und Heim, Geist und Schönheit, manche Artikel der Blätter hatte sie mit der Lupe mehrmals überflogen; nichts lenkte ab, hellte geschweige denn das Gemüt auf. In ihrem Heim legt die deutsche Hausfrau Wert auf Erzeugnisse der deutschen Volkskunst … Auf dem Bild ein arischer Bierseidel auf der arischen Anrichte … Stumpfsinn.

Nun noch offenbarer und unerträglich.

Sie probierte abermals Radio. «Prowizoryczna administracja miasta Wrocławia zawiadamia, że w ramach konsolidacji zaopatrzenia ludności podjęły pracę pierwsze piekarnie.» Piekarnia hieß Bäckerei, wusste sie aus ihrer Kindheit, praca Arbeit, Bäckereien buken, öffneten also wieder in Wroclau. Sie schaltete aus, setzte wieder ihre Brille auf. Noch einige Zeit bis zum Spaziergang. Heute wollten sie mit Metzkow einen Gang zum Teich und vielleicht sogar zu Familie Hallmann wagen. Dort waren Küken geschlüpft. Durchatmen. Die Sonne schien, es war ruhig.

Die große geschwungene Schrift ließ sich auch ohne Lupe entziffern. Wir beehren uns, Herrn Dr. Dr. Gerhart Hauptmann und Gemahlin … Wiener Opernball 1935. Aus irgendwelchen Gründen keine Zeit oder keine Laune zu dem Spektakel gehabt. Sie legte das Schreiben beiseite, das i. A. des österreichischen Bundeskanzlers Schuschnigg gezeichnet war.

Die alten Einladungen, die sie hervorgeholt hatte, schienen wie ein Traum. Auch wenn sie für Behl und seinen Transport nicht bedeutend genug gewesen sein mochten. Vielleicht blieben diese Schreiben als Einziges übrig. Erst im Nachhinein ließen sie sich erfassen, ja würdigen, und sie verkürzten das Harren auf den Gang ins Freie.

Sie nahm das Kuvert vom kleinen Stapel aus ihrer Kommode, zog das Blatt heraus und entfaltete das Büttenpapier.

Der Herr Reichstagspräsident beehrt sich, Herrn Dr. Dr. Gerhart Hauptmann und Gemahlin zum Reichspresseball am 30. Januar 1932 …. Einige Doktorwürden beiseitegelassen. Hotel Adlon. Margarete Hauptmann sann nach. Der sozialdemokratische Reichstagspräsident Paul Löbe war Niederschlesier aus Liegnitz gewesen. Beinahe hätten sie zugesagt. Aber wahrscheinlich hatte Humpty, Dio mio, der Gemahl gerade an einem Mysterium gearbeitet und keine Lust auf das Getümmel von Fraktionsgrößen und Journalisten gehabt. Löbe – seit 1933 auch wie vom Erdboden verschluckt. Durfte man Reichstagspräsidenten verhaften und ohne öffentliches Verfahren hinrichten? Im deutschen Staate war alles möglich geworden. Wie ließe sich solche Verwilderung, Bestialisierung, die in die Gemüter eingesickert war, je wieder überwinden?

Tilgen, Vergessenmachen – ginge wohl nicht.

Sie legte das Blatt zur Seite und ergriff eine handschriftliche Karte: Kommt doch Sonntagabend zu uns rüber. Es gibt Grillfleisch, jede Menge Traubenglück, und unseren special guest Richard T. können wir vielleicht zum Singen überreden! Ein beglückendes und gemütliches Beisammensein. Käthe Kruse, die Puppenkönigin, hatte in ihr Anwesen auf Hiddensee Richard Tauber auf ein verlängertes Wochenende eingeladen, und der Startenor mit dem legendären Monokel hatte sich umstandslos zu Singspieleinlagen bewegen lassen: Heiterkeit und Fröhlichkeit, ihr Götter dieses Lebens von Lortzing und ganz zum Schluss, in fortgeschrittener Stimmung und meisterlich transponiert, das Duett von Frau Fluth und Frau Reich aus den Lustigen Weibern von Windsor zum Besten gegeben – Nein, das ist wirklich doch zu keck, wie kann er es nur wagen … mit Liebe mich zu plagen? Ja, wenn es noch ein Ritter wär, fein zierlich, jung an Jahren … Wir locken ihn mit Weiberlist … – Humpty war vor Lachen fast aus dem Sessel gerutscht, und hinterher hatten sie allesamt, bis auf Tauber, in der nächtlichen Ostsee gebadet.

Margarete Hauptmann empfand die geradezu überseligen Stunden neu und erst richtig. Sie hatte immer bedauert, Glück in den Glücksmomenten weder festhalten noch voll und ganz in sich aufnehmen zu können. So blieb dem Glück immer die Furcht vor seinem Ende beigemischt. Und neues musste gesucht werden. Was für eine Anstrengung. War nun für das Abschöpfen früherer Lebensfreuden zu büßen? Unsinn. Das war eine graue deutsche Frage.

Keine Einladung zu irgendetwas vom Sohn. Doch wozu sollte Benvenuto auch laden? Seine Geburtstage und Hochzeiten wurden von den Eltern ausgerichtet. Dabei wurden in der Familie doch ähnliche Sorgen wie bei den Manns überspielt: Der alimentierte verwöhnte Spross tat sich schwer, eine eigene Ernte in die Scheuer zu bringen. Im Vergleich zu einigen Kindern der Manns ermangelte es dem allzu attraktiven Benvenuto auch an künstlerischer Begabung. Benvenuto hatte durch den einsichtigen Dr. Münch eine Herzinsuffizienz attestiert bekommen, promenierte am Staffelsee und ließ nichts von sich hören. Aber wie auch? Verwunderlich, dass er sich noch nie mit sich selbst gelangweilt hatte. Das bewies zumindest eine Lebenskunst. Hoffentlich bliebe ihm die Selbstverliebtheit erhalten, sonst würden das Altern und seine späten Jahre höllisch werden. Aber Hauptsache, der Kronprinz lebte. Dann würde er irgendwann einmal in weltweiten Tantiemen schwimmen. Sie seufzte. Musste sie jetzt bereuen, dass sie die drei Kinder aus der Ehe mit Marie Thienemann, dass sie Ivo, Eckart und Klaus fast aus dem Familienverband gedrängt hatte? Mit dem Maler Ivo und seinen Brüdern, zwei Kaufleuten, war sie nie warm geworden, und auch keiner der drei mit ihr. Die drei erinnerten durch ihr bloßes Vorhandensein an ein früheres Eheglück. Ehedem hatten sich die Stiefsöhne bei Besuchen auf dem Wiesenstein vielleicht sogar zu Hause fühlen wollen. Aber das war gescheitert. In ihnen lebte die leibliche Mutter fort, und deren Nachfolgerin blieb ihnen eine fremde Frau und Hausherrin. Selten und stets ein wenig gezwungen hatte man miteinander gelacht; nach Meinungsverschiedenheiten gab es hingegen keine Emotion, welche die Herren und sie wieder miteinander versöhnt hätte; rückhaltlos herzlich umarmt hatten sie einander nie. Wie anders dagegen Benvenuto. Fleisch vom Fleische. Die drei früheren waren schließlich nicht mehr angereist. Eine Last weniger. Und der Gemahl hatte sich um des häuslichen Friedens willen nach und nach lenken lassen, seine ersten Söhne kamen selbstständig zurecht, gemäß dem Testament, 1943 in Hirschberg unterzeichnet, rückten sie als Erben in die hintere Reihe. Je zwölf Prozent vom Gesamtvermächtnis. Von ihnen, so sie lebten, war jetzt kaum Hilfe zu erwarten.

So war es. Margarete Hauptmann biss sich auf die Lippen.

Umso zärtlicher schien die magere Hand die schiefen Buchstaben mit Buntstift streicheln zu wollen. Liebe Oma, lieber Opa, ihr dürft Euch morgen mein Konzert anhören. Frau Guth hat auch Kuchen gebacken. Das Konzert von Enkel Arne im Musiksalon hatte vornehmlich aus Tonleitern bestanden. Und wenn schon. Dann war unter Aufsicht seiner Klavierlehrerin Mozarts Andantino in Es-Dur recht gut zu erahnen gewesen. Nun, Arne, Benvenutos Einziger, soweit die Großeltern wussten, war neun gewesen, und das Konzert mit Mohnschnitten lag vier Jahre zurück. Mohn und Streusel – in Erinnerung an solche Köstlichkeit lief Margarete Hauptmann zur eigenen Verblüffung das Wasser im Munde zusammen.

Die Anrede geriet alljährlich ebenso herzlich wie verquer: Lieber Herr Hauptmann und Ihre Frau … Doch der Bitte, sich für ein paar Stunden ins Treiben des Agnetendorfer Schützenfests zu mischen, folgte besonders der Gemahl gerne. Er war Ehrenbürger, am Tisch beim Tanzboden konnte er mit seinen Gebirgsleuten atmen, und stets wurde ihm ein Ständchen geschmettert. Nun, die Festivität in Börners Gasthof fand seit dem Russlandfeldzug nicht mehr statt, und Agnetendorfs Freizeitschützen lagen tot in Europa verstreut.

Margarete Hauptmann nahm das Schreiben nun mit fast spitzen Fingern. Da war es wieder, das Hakenkreuz. Das mussten sie und dieses Haus loswerden. Sie senkte den Blick auf die Einladung des Wiener Gauleiters Baldur von Schirach zur Enthüllung von Humptys Marmorbüste im Burgtheater. Ein klotziger Schädel zeigte sich unter dem Tuch, «markig», hatte Schirach gemeint, Der Bauer als Apoll hätte man die Entstellung in Stein auch betiteln können.

Margarete Hauptmann zögerte. Sollte sie das Blatt mit dem Emblem zerknüllen, vernichten? Oder es auf Gedeih und Verderb dem Kommenden überlassen? Vielleicht hinge der Ruf ihres Mannes, das Angedenken ihrer Ehe, noch völlig Unabsehbares von solchem Schreiben ab. Sie erhob sich von ihrem zierlichen Stuhl und zog die kaum benutzte Klingelschnur. Die Zofe sollte ihr einen Tee auf dem Dachaltan servieren. Dazu Melissenkompressen für die Netzhaut bringen und die unvermeidliche dunkle Brille. Das Aufstellen des Sonnenschirms – gar der Hollywoodschaukel auf der Terrasse – hatte Metzkow als pure Anstachelung zu Raub und Schlimmerem untersagt.