Spätherbstliche Wolken zogen über die Kämme und Kuppen. Das Riesengebirge erhob sich anrührend schön. Die Tragödie in den Tälern adelte die menschenferne Natur.
Dort erging an die Alteinheimischen die Order, die Hälfte ihres Viehs abzuliefern. Unter Jammer und Verzweiflung wurden Rinder und Schweine die Chaussee nach Hirschberg hinab getrieben. In Agnetendorf wurde Gerhart Pohl im Namen von Bauern beim polnischen Bürgermeister vorstellig.
«Burmisztr, die Leute verhungern.»
«Alle Läden sind voller Essen», lachte der ehemalige Melker, «viele gute Produkte. In Polen hungert keiner.»
«Und das Geld?», fragte Pohl.
«Eure Leute haben alle schöne und gute Sachen. Verkauft sie eben.»
«Die meisten haben ihren Besitz längst verloren. Das wissen Sie genau», beharrte der Schriftsteller.
«Dann eben arbeiten. Arbeit bringt Lohn.»
Bezahlte Arbeit gab es weit und breit nicht. Gerhart Pohl verließ das Gemeindehaus.
Ein kleines Vergnügen hatte sich für Richard Dorn eingestellt. Der Gärtner hatte die beiden Dorfjungen das erste Mal beobachtet, als sie der Limousine des Warschauer Sondergesandten Lorentz nachgewunken hatten. Die beiden Knaben hatten das Terrain vor der Villa bis zur Agnete offenbar zu ihrem liebsten Spielreich erkoren. Von den Laubhaufen im Garten beobachtete Dorn bisweilen die Burschen, wie sie am Bergfluss mit Weidenruten fochten, wohl besonders funkelnde Steine aus dem Wasser griffen und sie sich zeigten. Ein Spiel der beiden Barfüßigen war besonders drollig. Einer der beiden klammerte sich um einen Baum, streckte den Po so weit heraus, wie es ging, und der andere schoss den Ball auf dieses Ziel. Sie trafen nicht oft, aber auch Dorn hatte seinen Spaß. Bei Mädchen hatte er nie eine vergleichbare Übung erlebt. Natürlich merkten die Jungen, dass sie gelegentlich einen Zuschauer hatten, und tollten eine Weile umso wilder an der Brücke. Richard Dorn winkte sie heran. Ihre Hemden und Hosen waren über und über geflickt. Er zeigte den beiden den Teich mit Entenhaus und die Steinstatue von Hannele, die gen Himmel fuhr. Zu dritt inspizierten sie die leere Garage, die Schuppen und den hölzernen Wandelgang mit der Amphore in der Mitte. Die beiden Burschen bestaunten einen Gartenschlauch auf einer Rollvorrichtung. Dorn konnte ihnen Äpfel in die Hand drücken. Er entsann sich, den Dunkelhaarigen, Ralf, schon früher im Dorf erblickt zu haben. Der unbekannte Blonde hieß Jacek und traf mit dem Ball öfter den Hintern des anderen. Die Spielkameraden verständigten sich merklich besser durch Blicke und Gesten, fast wie Taubstumme, als durch Worte. «Ich muss um fünf zu Hause sein, sonst setzt’s was», sagte Ralf unruhig und streckte die Finger einer Hand aus. Jacek zeigte aufmunternd sechs und meinte: «Szósta godzina! Od tego świat się nie zawali. Głupi, blöd Elterrn!» Ralf schaute Dorn an. Der zuckte die Achseln: «Das macht unter euch aus.» Das Gespann biss ins Obst und zog von dannen.
Mit der Zeit perfektionierte sich ihr Fußballspiel, sie bauten auch ein Tor aus Ästen. Ralf und Jacek kamen öfter zu Dorn herüber, halfen beim Abdecken der Beete und bekamen durch das Küchenfenster von Alma Guth eine Rübenprinte gereicht, «is ooch a bissla Sirup drinne». Die Jungen, die einen Ball besaßen, hatten Zulauf, und eines Tages bolzte auf der Flussaue, nicht klar getrennt, Agnetendorf gegen Jagniatków. Fritz Use, der beide Mannschaften anfeuerte, wusste auch nicht, wo eine Pumpe zum Aufpumpen des Balls aufzutreiben wäre. Gerda hockte sich zu ihm an den Spielfeldrand und verhäkelte einen Rest Garn.
Der Zeitvertreib fand nachmittags statt, da polnische Kinder vormittags die Schule besuchten. Ein Verbot des Spiels, bei dem es einmal auch zu einer blutigen Keilerei kam, aus der sich Jacek und Ralf heraushielten, war gewiss nur eine Frage der Zeit.
In diesen Tagen hörte man, dass einige Glasbläser und Kristallschleifer der Josephinenhütte in Schreiberhau, deren Gefäße vor dem Krieg in die ganze Welt exportiert worden waren, sich weigerten, ihrem Ausweisungsbefehl zu gehorchen. Die Handwerker wollten ihre polnischen Nachfolger, die es ihnen dankten und sich schützend vor sie stellten, wenigstens noch in die Verfahren zur Herstellung der berühmten Gläser, Schalen und Leuchter einweihen, damit einzigartiges und geheimes Wissen nicht verlorenginge.
Der sowjetische Kapitan Grigorij Weiss notierte:
Hatte es der Wind erzählt, oder erzählten es die Flüchtlinge, die in allen Straßen Berlins zu treffen waren? Durch alle Sektoren der Stadt ging die Kunde, dass in Schlesien der berühmte Dramatiker Gerhart Hauptmann krank darnieder liege und Hilfe brauche. Diese Nachricht wurde sofort von sensationslüsternen bürgerlichen Journalisten aufgegriffen. Ihr Anliegen war es vor allem, politisches Kapital aus dieser Nachricht zu schlagen.
Echte Sorgen um Hauptmanns Schicksal machte sich der Dichter Johannes R. Becher. Aus der Emigration in Moskau heimgekehrt, spürte er unermüdlich diejenigen auf, die überlebt, die standgehalten hatten und denen sofortige Hilfe zuteil werden musste.
Wir halfen Becher, soweit wir es konnten. Wir hatten ihn wohlbehalten ins Riesengebirge zu befördern.
In normalen Zeiten hätte man an einem Tag von Berlin dorthin und zurück gelangen können. Aber nun war die Fahrt ein kompliziertes Vorhaben, da die Landstraßen damals fast unbefahrbar, die meisten Brücken gesprengt waren und der Zugverkehr noch ruhte. Wir mussten die Fahrt wie eine regelrechte Expedition ausrüsten.
Die Wagenkavalkade näherte sich ihrem Ziel.
Dreck klebte nach zweitägiger Reise an den Felgen und Karosserien. Am Ende der Kolonne fuhr ein amerikanischer Dodge mit rotem Stern. Er gehörte wohl zu den Lieferungen der USA an die Sowjetunion während des Krieges. Auf seiner Ladefläche hockten Rotarmisten neben Reservefässern mit Treibstoff, Ersatzreifen, Proviantkisten und Zelten für Übernachtungen unter freiem Himmel.
Dem Dodge voraus schob sich ein grüner Wanderer die Bergstrecke hinauf. An seinem Steuer saß Hauptmann Weiss. Neben ihm hielt Leutnant Chanov seine empfindliche LOMO-Kamera auf dem Schoß. Der Besuch beim Nobelpreisträger, falls er noch lebte, sollte vom Fotokorrespondenten dokumentiert werden. Dank der Schleichfahrt konnten ein asiatischer Rotarmist und ein holländischer Kommunist mit Maschinenpistole im Anschlag auf den breiten Trittbrettern stehen. Allen voran kroch ein Horch, den der oberste deutsche Kulturbeauftragte in der sowjetisch besetzten Zone, westlich von Oder und Neiße, selbst lenkte. Zigarettenrauch wehte aus den beiden offenen Fenstern des Horch. Neben dem Lyriker und nunmehrigen Präsidenten des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands Johannes R. Becher rauchte auf dem Beifahrersitz auch der Journalist Gustav Leuteritz Kette.
«Schlimmer, als ich vermutete. Ich kann kaum hinschauen», sagte Becher, als sie in Hermsdorf/Sobieszów eine Reihe geplünderter Gehöfte passierten: «Grausame Quittung.»
Gustav Leuteritz, der für die Tägliche Rundschau in Berlin-Ost schrieb, war an die Ruinenfelder der Hauptstadt gewöhnt. Aber die Verwüstungen inmitten von Feldern und Wald wirkten noch gespenstischer als die hohlen Fassaden an der Spree. Es ließ sich ausmalen, welche Gewalt in der vermeintlichen Idylle gewütet haben musste und noch keineswegs erloschen war. Die Fensterläden der Villa Ida hingen schief ins Freie, von einem Edeka-Laden war ein schwarzer Schlund verblieben.
«In diesem ganzen Osten», bemerkte Johannes R. Becher, «wird ein deutscher Gehäuserest bleiben, in dem neues Leben stattfinden wird, aber lange wird ein Jammer über dem Land liegen. Vergessen wir nie, dass der Brand bei einem Fackelzug in Berlin 1933 gelegt wurde.»
Hinter dem Horch verlangsamte der Wanderer das Tempo, um bei der Fahrt durch Schlaglöcher den Begleitschutz auf den Trittbrettern nicht abzuwerfen.
«Hatten Sie Hauptmann kennengelernt?», fragte Leuteritz.
«Nicht persönlich. Er schrieb damals Märchenspiele für Frau Kommerzienrat. Die Kunst als Illusionsspektaktel und Gefühlszerlegung. Statt Volksfront auf der Bühne. Gewiss war er schon zu alt und erfolgreich, um noch gegen das Unrecht aufzubegehren. Die Massengesellschaft, wie sie gelenkt wird und gelenkt werden muss, war ihm – abhold. Seine Gesänge des Till Eulenspiegel: Die Geschichte der Null, das ist die Geschichte der Menschheit. Blanker Nihilismus.»
Leuteritz nickte. «Auf Sie, Genosse Becher, wurde ich durch Ihr Gedicht Verbrüderung aufmerksam: Der Dichter meidet strahlende Akkorde. Er stößt durch Tuben, peitscht die Trommel schrill. Er reißt das Volk auf mit gehackten Sätzen.»
Der Fünfzigjährige am Lenkrad rauchte geschmeichelt. Bechers Stirn war frei, sein akkurat frisiertes Haar war stark gelichtet, die runde Brille ließ das weiche Gesicht noch melancholischer erscheinen. Seinen Anzug hatte der Präsident des Kulturbunds während der Reise mehrmals abgebürstet. Auch Hemd und Krawatte des bewährten Kommunisten wirkten tadellos.
«Und Ihr Aufschrei, Genosse, gegen das Kapital, Kapitalisten und ihre Helfershelfer hat sich nicht nur mir eingeprägt. Augen zu: Lasst Guillotinen spielen! Menschenknäuel übern Platz gefegt – Dass die Strahlen euerer Finger zielen durch den Raum, ins Herz der Kaiser schräg!! – Wir müssen das neue Deutschland stark machen. Gegen Nazis, Mitläufer. Auch die waren gnadenlos.»
Johannes R. Becher nahm kurz die Hand vom Steuer und schien die eigenen frühen Verse dämpfen zu wollen. «Wir tun alles, Leuteritz», sagte er leise, «für eine frische Welt, auferstanden aus Ruinen, dieselben Rechte und Möglichkeiten für alle. Kein Untertanengeist mehr, nicht Oben und Unten, sondern erhobenen Hauptes ein jeder der Zukunft zugewandt. In Frieden und in Völkerverbrüderung. Auf dass die Sonne über Deutschland wieder scheine.»
Der Kollege von der Rundschau nickte. Leuteritz behielt, was Becher nicht mochte, auch im Auto seinen Hut auf. Der Journalist wusste es offenbar nicht besser. Das Legere, ja ein wenig Bürgerliche, fehlte Leuteritz voll und ganz.
«Also persönlich bin ich Hauptmann nicht begegnet.» Johannes R. Becher packte wieder mit beiden Händen den Lenker. «Doch 1925, als ich wegen meines Appells an die Arbeiter: Streik, Bajonett, Terror, Bombe … verhaftet wurde und mir der Prozess gemacht werden sollte, da unterzeichnete neben Döblin, Hermann Hesse, beiden Brüdern Mann, auch Gerhart Hauptmann das Protestschreiben gegen die Zensur.»
«Vermutlich das übliche Mitleid statt Empörung und Wille zum Umsturz», befand Gustav Leuteritz.
«So gängig ist Mitgefühl nicht, Genosse», vernahm er vom berühmten Parteimitglied der KPD, das nach allem Dafürhalten dazu auserkoren war, ein Kulturministerium der deutschen sozialistischen Republik auf dem Boden der Sowjetzone zu begründen. «Und sein Wort bleibt gewichtig: Kunst ist immer nur freie Kunst. Kunst, durch Gesetze geknebelt, ist keine.»
«Hm, Genosse Becher, das kommt doch auf die Umstände an.»
Becher blickte fragend.
«Der Bürgerschund ist vorbei. Die proletarische Kunst bringt uns voran. Und so muss das in der Zukunft auch geregelt werden. Statt Schnörkel und Gefühlsgedusel das Lied der Bauarbeiter und der revolutionären Mütter.»
«Gewiss, Genosse», Becher sann kurz nach, «trotzdem brauchen auch Kommunisten gute Komponisten.»
Leuteritz wusste nicht, ob er über das Wortspiel lachen sollte. Meistens war es ratsam, nicht zu lachen. Und Becher war eine heikle Persönlichkeit mit heikler Vergangenheit. Der Journalist lenkte ab: «Bei den Genossen in Moskau haben Sie einen Stein im Brett.»
«Eigentlich ein merkwürdiger Ausdruck: im Brett», meinte der Funktionär beim Schalten.
«Ihr Hymnus auf Lenin war der eindringlichste Text in der JuliRundschau: Er rührte an den Schlaf der Welt/Mit Worten, die wurden Maschinen …»
«Der Mensch muss hoffen», sagte Becher, «auf den Fortschritt.»
«Jetzt fehlt noch Ihr Lobpreis Stalins», Leuteritz schob mit der Fingerspitze den Hut nach hinten. «Stalin hat hier alles befreit von der braunen Pest. Noch zwei Fünfjahrespläne, und wir stecken den Westen in die Tasche. Gegen den Willen und gegen die Kraft des Volkes kommt keiner an. Volksherrschaft plus Elektrifizierung gleich Glück.»
«Ja, Genosse Stalin, ein Titan.» Becher spähte kurz durchs Seitenfenster auf das Pflaster und wich einem Schlagloch aus. «Hat seine Völker wie ein Vater geeint. Ist wachsam, wenn die Verräter in den eigenen Reihen mit dem Feind liebäugeln, wenn sie Bequemlichkeit und privaten Profit einer Reinigung der Welt vom Unrecht vorziehen.»
«Sie haben die Moskauer Schauprozesse an Ort und Stelle erlebt, Genosse Becher.»
«Die Hauptverschwörer, Leuteritz, lasen ihre Geständnisse vom Blatt ab. An den Übrigen wurde die Todesstrafe nach meiner Einschätzung nicht vollstreckt.»
«Ah, dann ab ins Arbeitslager. Das ist ja human. Insgesamt Millionen Opfer der Säuberungen, krakeelen einige im Westen. Ich meine, Abtrünnige.»
Becher äußerte sich nicht und wischte sich einen Tabakkrümel vom Jackettärmel. Die Manschettenknöpfe des Kulturkaders waren wohl nicht bloß vergoldet.
«Aus dem Pakt, den Genosse Stalin mit Hitler zur Teilung Polens schloss», sinnierte der Journalist, «bin ich nie ganz schlau geworden. Schulterschluss mit dem Erzfeind. Der Pakt sah 1939 nach vereinbartem Landraub aus.»
«Die Stunde, Leuteritz, war bitter und schwer verständlich für jeden Kommunisten. Aber das Bündnis musste sein. Die Nachwelt könnte erfahren, warum. Stalin ist in der Seele des Volkes verankert. Ihm unterlaufen keine Irrtümer.»
«Natürlich nicht, Genosse Becher.»
Auf ein Handzeichen von Wagen zu Wagen stoppte die Kolonne. Bäuerinnen zogen und schoben einen Leiterwagen über die Straße. Menschen und Gesichter auf der Fahrt durch Brandenburg hatten erschöpft und ausgemergelt gewirkt. Hier meinte man, überdies eine stumpfe Verzweiflung zu gewahren. Die Wachen am mittleren Wagen vertraten sich mit Maschinenpistolen im Anschlag die Beine. Ein Soldat auf der Ladefläche des Dodge spannte ein Seil ums Treibstofffass. Nach Süden, in Richtung Tschechoslowakei, wo es wahrscheinlich ähnlich wie im bisherigen Sudetenland aussah, überzog Schnee die Bergkuppen und Hänge.
Unter Auspuffschwaden wurde die Fahrt fortgesetzt.
Leuteritz glaubte nicht, sich zu täuschen. Bei der Anrede Genosse zuckten die Mundwinkel Bechers manchmal so, als wäre der Kämpfer gegen die verrottete bourgeoise Welt peinlich berührt.
Natürlich musterte Leuteritz den berühmten Literaten und Funktionär nur aus den Augenwinkeln. Niemandem war der Kulturbundpräsident, der exzellent chauffierte, vollends geheuer. Der Revolutionär entstammte einer großbürgerlichen Familie. Sein Vater war hoher Richter in München gewesen. In seinen Erinnerungen hatte er geschrieben, dass der Vater streng und gefühlskalt gewesen sei. Als der junge Becher, vielleicht schon aus Protest gegen das väterliche Regiment, zum Schulversager wurde, steckten die Eltern ihn in ein Internat, wo Lehrer ihren Zöglingen bei Bestrafungen büschelweise die Haare ausrissen und sich immer neue Sklavendienste ausdachten. Der Junge sehnte sich nach Freiheit und Wärme. Eine Münchner Zigarettenverkäuferin entfachte seine Liebesglut. Beider Leidenschaft musste, laut Autobiographie, dermaßen rasend, doch auch unheilschwanger gewesen sein, dass das Paar den Entschluss fasste, sich gemeinsam zu töten. Wie Heinrich von Kleist und seine Geliebte. Der neunzehnjährige Becher erschoss seine Geliebte. Ihr Schuss traf ihn nicht tödlich. Ein Skandal in München und im ganzen Kaiserreich. Sogar als Gerichtspräsident konnte der Vater die Anklage wegen Mordes nur mit Mühe durch manipulierte Gutachten vom schwer verletzten Sohn und vor allem die Familienschande abwenden.
Im Berlin des Ersten Weltkriegs blühte Johannes Robert Becher als einer der radikalsten Lyriker auf, der seinen Hass auf die Enge und Verlogenheit der Bürgerwelt geradezu herausschrie. Leuteritz hatte als junger Mann die Becher-Bände geradezu verschlungen: Wo ist mein Weg?! Felstrümmer ragen blöd und stumpf aus der kargen gleichförmigen Trostlosigkeit. Auf Sand und Fels glüht der blendende Tag. Oh brennendes Herz!
Solche Empörung hatte dazu ermutigt, sich selbst zum eigenen brennenden Herzen zu bekennen und auf verlogene Sitten zu pfeifen. Schroff und wahrhaftig modern, wie Becher die Reviere der Industrie und Großfinanz erfasste! Fabrik-Gevierte: fieberkurvige/Landschaft: Dämonen-Klumpen, eisen-/Gequadert, aufgequollen, übergeworfen, wie/Ätzend umpanzert, von leuchtgasigen/Rauch-Mänteln; von Röhren-Geflechten/Umstellt; rissige Feuer-Gesichter;/Kraft-Wellen; schmelzende Erz-Fluten … Exakt so tobte und stank die moderne Welt und verschliss den Menschen. Teuer zahlte damals der junge Dichter für seine poetischen Eruptionen. Drogen, Opiate, Kokain, das Leuteritz sich selbst nicht hatte leisten können, waren in der überhitzten Republikzeit Mode gewesen. Flucht, Flucht und Ekstase. Aber wohl nur bei wenigen hatten sich Morphium und Entzugskuren so jäh abgewechselt wie bei Johannes R. Becher. Der Sprachvirtuose besaß Mäzene, sogar adelige, hatte Liebschaften, nicht nur mit Frauen, und überlebte zwischen Aufruhr und Desillusionierung drei Selbstmordversuche. Die Narben an seinem Handgelenk verbarg Becher auch jetzt nicht. Warum auch?
Der Kulturbundpräsident – eine bedeutsame Erscheinung des Jahrhunderts, gewiss ein treibendes Rad in dessen Uhrwerk.
Die Rache an seiner Vaterwelt gärte lange, und der Weg, sich endlich dem Dienst an einem Ideal zu unterwerfen, war lang. Becher selbst hatte irgendwo die Bemerkung fallen gelassen: Für mich bestanden drei Möglichkeiten: Katholizismus, Kommunismus oder Freitod.
Gustav Leuteritz wollte, was diese Möglichkeiten miteinander verband, nicht auseinanderklauben. Jenseitsglaube und Suizid zählten zur privatistischen Weltflucht, für die es in der kommunistischen Gemeinschaft keinen Anlass gab. Halt und Pflicht fand jeder Schwankende im Marxismus-Leninismus. Nach Jahren der klassenkämpferischen Agitation, der Kampfgedichte, nach seinem Roman Levisite gegen einen drohenden Weltgaskrieg, der in den USA ersonnen würde, entkam Becher den Schlägertrupps der Nazis ins Moskauer Asyl. Bechers Aperçu, dass es Karl Marx keineswegs vorgeschwebt habe, Arbeiter und Bauern nur als Produktionsfaktoren zu betrachten und ihre freie Individualität zu missachten, war der Sowjetmacht offenbar unbekannt geblieben. – Johannes R. Becher war an der Moskwa nicht verhaftet und auch nicht zu einer Scheinhinrichtung abgeurteilt worden. Aber die Sowjetunion und die kommunistische Internationale konnten sich niemals vollends von Abweichlern säubern, ahnte Leuteritz. Auch im kapitalistischen Dunkel des Westens, im Block der Imperialisten, welche die Erde als Beute betrachteten, dem Rassismus huldigten, existierten Eigenbrötler, Friedensapostel, Sozialreformer und Gerechtigkeitsträumer.
Die Welt war noch nicht sauber.
Gewiss hatten höchste Zirkel den schillernden Künstlerfunktionär Becher – hier seine Guillotine für den Klassenfeind, dort der Spielraum für das Individuum – bewusst auf seinen Posten gesetzt. Becher erschien alles in allem linientreu, er hatte einen Namen, und er verunsicherte nachgeordnete Genossen durch Härte und Melancholie. Und Verunsicherung darüber, wie weit man sich jemandem offenbaren durfte, galt als wirksames Mittel, um die Parteidisziplin zu wahren. Der Mitarbeiter der Täglichen Rundschau traute keinem Genossen.
Das neue Schlesien – Śląsk – würde jedenfalls zum Kosmos des revolutionären Aufbruchs, der brüderlichen Gleichheit und des siegreichen Lichts gehören. Dafür hatten Unterdrückte gekämpft und würden sich die Millionen der Opfer lohnen.
In die Ruhe, die bei der Fahrt im Schritttempo eingetreten war, sagte Becher plötzlich: «Apropos bürgerliche Kunst, Leuteritz, die überwundene», er blickte kurz zur Seite, «natürlich kann ich nicht alles lesen.»
«Ja.»
«Sie haben einen Roman geschrieben.»
Mit der äußerlichen Lockerheit des Journalisten war es schlagartig vorbei, er saß aufrecht, sein Schlucken war dem Adamsapfel anzusehen, den Hut rückte er zurecht: «Einen einzigen», sagte er.
«Was mir darüber zugetragen wurde, behagt mir nicht. Königsbotschaft, Episoden aus dem Leben Richard Wagners. Ich staune.»
«Aus einer Jugendneigung heraus», gestand Leuteritz.
«1940 erschienen. Deutschnational gefärbt, wie mir berichtet wurde.»
«Dahinter konnte ich mich verstecken und überleben, Genosse Becher.» Der Journalist klang erregt und sogar furchtsam.
«Soso, ja nun. Ganz neue Menschen werden wir im alten Land kaum finden. Sie sollten vielleicht, nein, bestimmt, die Gelegenheit ergreifen, Ihre Jugendneigung für uns zu entnazifizieren. Das Zeitlose und Kosmopolitische in Wagner finden.»
«Gewiss», nickte Leuteritz, «ich wollte es selbst schon zur Sprache bringen.»
«Gut, dass ich es getan habe», sagte Becher. «Wir brauchen Wagner irgendwann für unseren Spielplan, können ihn nicht dem Westen und der Bayreuther Sippschaft überlassen. Gut, dass Sie sich ein wenig auskennen», das Kompliment wirkte kühl. «Die Götterdämmerung zeigt den Zusammenbruch morscher Macht, nur die Matrosen halten das Schiff des Fliegenden Holländers seeklar. Und Wagner kämpfte auf Barrikaden.»
«Das ist der perfekte Ansatz, Genosse Becher», stimmte Leuteritz sofort zu, «danke. Ein Vortrag?»
«Warum nicht?»
Becher wischte sich mit zwei Fingern über die Stirn.
Er blickte ins Talrund, dessen Ortschaften und Wälder im Abenddunst verschwammen. Leuteritz kurbelte das Fenster gegen den Durchzug hoch. Er versuchte sich auf die Unternehmung zu konzentrieren, und spähte nach hinten. Reifen am Lastwagen und am luxuriösen Wanderer der sowjetischen Offiziere hatten insgesamt nur drei Mal gewechselt werden müssen. Anstatt in den Militärzelten zu nächtigen, hatte der Tross Unterkunft in umfunktionierten Wehrmachtskasernen der Roten Armee gefunden.
Eine aufwendige Mission.
Erst von der Kommandantur in Hirschberg aus hatte der Kulturbundpräsident sein Eintreffen auf dem Wiesenstein ankündigen können. Fortwährend meinte man, das legendäre Domizil hinter Bäumen aufscheinen zu sehen. Stets folgte eine weitere Kurve bergauf.
«Oh, wir sind nicht vergessen. Wir sind nicht vergessen! Gütiger Gott. Es gibt einen Gott im Himmel.»
Eine kleine Weißhaarige, die kaum ihren Weg über den Schotter zu finden schien, eilte auf die Delegation zu. Schluchzend warf sich Margarete Hauptmann an die Brust Johannes Robert Bechers: «Die Ersten seit Monaten. Wie sind Sie durchgekommen? … Wurde niemand angeschossen? … Hatten Sie zu essen? … Aus Berlin. Wie ist Berlin? … Haben Sie Strom im Reich? … Wissen Sie etwas über meinen Sohn? Von Herrn Behl? – Das mit dem Potsdamer Beschluss kann doch nicht stimmen. – Sie denken an meinen Mann, an mich und an uns! Seien Sie gesegnet … Wir sind so verloren hier. – Viel können wir Ihnen, Herr Becher, und Ihren Gefährten nicht anbieten.»
Ihre spindeldürren Finger krampften sich durch den Anzugstoff um Bechers Arme.
«Aber kommen Sie doch», sie zog ihn mit sich. «Seit Ihrem Anruf warten wir. Kommen Sie aus dem Dunkel, das ist gefährlich. Ah, Sie haben Soldaten dabei. Vielleicht sollte ein versöhnlicher Wittelsbacher die Staatsgeschäfte übernehmen. – Pietsch hat Feuer im Kamin gemacht. Ich glaube, heute darf Rauch aufsteigen. Haben Sie daheim Arzneien?»
Johnnes R. Becher folgte den kraftlosen Anstrengungen der Hausherrin. «Erzählen Sie doch. – Haben Sie die Breslauer Autobahn genommen? Für den Winter hat uns der Starost von Hirschberg, das ist der Landrat, Koks zugesagt. – Den Namen des neuen amerikanischen Präsidenten können wir uns nicht merken.»
«Harry S. Truman», sagte Becher.
«Er hat Bomben über Japan abgeworfen?»
«Atombomben», präzisierte Becher, «ohne die Kapitulation hätten sie Deutschland verheert und verstrahlt.»
«Noch mehr verheert?» Sie lachte bitter auf. «Wir waren noch bei Präsident Hoover zu Gast.» Dann rief sie laut ins Ungefähre: «Seien Sie alle willkommen. Gerade hier sang am Schluss der Chor der Dorfjugend.»
Becher stützte mit seinem Arm die Dame und musste selbst auf den Pfad achtgeben. Dem Kulturbeauftragten folgten Kapitan Grigorij Weiss, der Fotokorrespondent Leutnant Chanov und Gustav Leuteritz. Die Rotarmisten und ihr Fahrer rauchten am Dodge. Neben dem Eingangslöwen des Kastells harrten einige Leute aus, darunter ein Dienstmädchen mit Haube. Leuteritz und auch die sowjetischen Offiziere mutmaßten, dass es sich um die letzte Zofe zwischen Eisernem Vorhang und Wladiwostok handelte. Ein dürrer Butler verbeugte sich.
«Dass man sich über Russen so freut, hätte keiner gedacht», Margarete Hauptmann lächelte zu den Uniformen, «so lange hörte man wenig Förderliches aus Russland. Nun bringt es, unter einem energischen Staatsmann, Herrn von Becher zu uns. Russland wirkt stark, wenn dort nur einer das Sagen hat.»
Leutnant Chanov wich einem Blick von Hauptmann Weiss aus.
«Becher. Einfach Becher», korrigierte der Besucher.
«Natürlich», Margarete Hauptmann ertastete die erste Stufe, «mein Mann hat damals gegen Ihre Inhaftierung protestiert. Wie doch alles verwoben ist.»
«Wir können vieles klären», meldete sich von hinten Leuteritz. Der Rundschau-Journalist schätzte trotz des Dunkels den Umfang des Besitzes ab.
Am Personal vorbei zwängte sich die Delegation in die Halle. Die verfehlte ihre Wirkung nicht. Im Schein des flackernden Kaminfeuers pulsierten die Farben, die Lustengel und Blumen noch heftiger. Adam und Eva schienen sich Hand in Hand von der Wand lösen zu wollen, eine gemalte Geigerin musizierte geradezu hörbar. «Wärmen Sie sich erst einmal auf», empfahl Margarete Hauptmann, «das ist Fräulein Pollak, die Sekretärin meines Gatten. Lassen Sie Ihre Soldaten doch auch eintreten. Es sind gewiss schmucke Kerle.»
«Künstlerhaushalt», erklärte Becher dem Kapitan, welcher von sich aus gut verstand. Sämtliche Menschen rundum, bis auf den ostzonalen Kulturpräsidenten, registrierte Grigorij Weiss erneut: skeletthaft und in schlotternder Kleidung. «Mein Mann wird Sie im Biedermeierzimmer empfangen, das ist für ihn nicht so weit», kündigte Margarete Hauptmann an. «Wir sind höchst besorgt.» – Auf der Treppe erschien Gerhart Pohl. «Jonny!», rief er nach unten. «Du?», fragte Becher nach, aber er erkannte den früheren Kollegen schnell. Gemeinsam hatten beide Ende der Zwanzigerjahre in der Redaktion der Neuen Bücherschau Neuerscheinungen besprochen. Sie fielen sich in die Arme. «Viel zu berichten», sagte Pohl. «Wohl wahr, alter Geselle», Johannes R. Becher befreite sich aus der Umarmung. Pohl hatte sich damals nicht zum Eintritt in die Partei Ernst Thälmanns bewegen lassen. Und wer, wie Pohl, im Lande geblieben war, musste erst einmal erklären, wieso er ohne sichtlichen Schaden das Dritte Reich überstanden hatte. Der Wiesenstein war bekanntermaßen ein Sammelbecken für vielerlei Geister und Ungeister gewesen. «Junge», Gerhart Pohl klopfte dem Lyriker auf die Schulter: «Am Leben. Du bei uns. Mit Eskorte. Das waren doch viele Jahre in Moskau.»
«Nicht nur, Gert, manchmal ging es fast bis an die Front, um unsere Flugblätter für die deutschen Stellungen vorzubereiten. Folgt einem Wahnsinnigen nicht in den Tod! Ihr werdet verheizt! Werft die Waffen weg! Lauft über!»
«Diese Zeit werden wir nie verkraften, Jonny. Gut, dich zu sehen. Gut.»
«Wir tauschen uns aus», nickte Becher, «die, die noch die Sonne sehen, müssen zusammenhalten. Wir haben Mehl, Konserven, Zucker mitgebracht.»
«Zucker!», rief es in der Halle durcheinander. Becher war entgeistert über die Wirkung seiner Mitteilung. – «Alles Nötige für den Aufbruch», erläuterte er: «Dem … Meister geht es schlecht, hörte ich. Die Reise wird mühsam werden. Wann darf ich ihn sehen? Leuteritz, kümmern Sie sich ums Gepäck?»
Pietsch geleitete die Gäste ins Biedermeierzimmer. Vor dem Porträt Joseph von Eichendorffs im Kerzenschein zitierte Becher, wie viele Besucher vor ihm, die Verse Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus … nicht laut.
Becher hob beim Platznehmen die Bügelfalten seines Zweireihers, zog die Krawatte zurecht. Der müde Mann wischte sich über die Stirn. Die Offiziere deponierten ihre mehr als tellergroßen Schirmmützen neben ihnen auf dem Tisch. Der junge Fotokorrespondent Leutnant Chanov würde bei Tageslicht seine Bilder vom Vestibül, von der Delegation mit den Gastgebern und von der Zofe schießen.
Ein Klumpen?
Was nahte da?
Eine Monstranz?
Die Ostherren stemmten sich aus den Fauteuils, Chanov offenen Mundes.
Unter dem Ächzen seiner Helfer erschien Gerhart Hauptmann. Er musste es sein. Zwei Männer trugen die Last aus Kopf, dunklem Hausmantel, baumelnden Beinen auf ihren Armen, eine Krankenschwester stützte sie von hinten ab. Das schlohweiße Haar hing strähnig.
Becher war verstört. Möglicherweise war es bereits zu spät, den Patriarchen aufzusuchen. Die Offiziere wirkten gefasster; sie hatten den blutigsten aller Kriege durchlebt.
Die Helfer platzierten den Greis auf dem Polster eines Sessels, zwischen dessen Lehnen der Moribunde fast versank.
«Danke, Metzkow, Use», sagte die Schwester leise. Die Träger zogen sich zurück. Die Schwester nahm auf einem Stuhl neben der Kommode Platz. Ein Anflug von Panik und Erinnerungen an die russische Soldateska schienen sie zu überkommen. Aber diese Sowjets trugen Orden.
Gerhart Hauptmanns Kopf hing schief. Über dem edlen Schal schimmerte Speichel in seinem Mundwinkel. Die Augen waren blutunterlaufen. Ihm war das Gebiss eingesetzt worden. Becher blickte die Schwester fragend an. «Nur zu», beschied sie, «er freut sich sehr. Besuch baut ihn auf. Das Fieber ist weg. Dr. Schmidt hofft, dass er den Höhepunkt der Krisis überwunden hat. Es war eine schlimme Entzündung.»
Becher war medizinisch nicht firm. Doch vom Erscheinungsbild einer eingedämmten Erkrankung hatte der Laie andere Vorstellungen. Hauptmann hüstelte, der Speicheltropfen fiel, er nickte den Gästen zu. Leutnant Chanov neigte ehrfürchtig den Kopf. Johannes R. Becher richtete sich auf: «Großer Dichter, ich entbiete Ihnen die herzlichen Grüße und Wünsche der Genossen Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl. Unter ihrer Führung wird ein neues Deutschland erstehen.»
Die Grußadresse zeitigte keinerlei Reaktion. Wie sollte der Wiesensteiner die Führungsriege bisheriger deutscher Exilkommunisten – zwei gelernte Tischler und ein Buchdrucker – auch kennen und einschätzen können?
«Sie, Be-Becher … «Der Angesprochene horchte, der weiße Finger deutete gekrümmt auf ihn, «Sie, hoffnungsvoll. Einiges In-Ingenium …»
Der Präsident und Lyriker dankte mit einer Verbeugung. Hauptmann verstand und sprach. Er rutschte sogar in eine bequemere Sitzposition. Die sowjetischen Offiziere beobachteten den Vorgang gespannt. Becher musste nach der beschwerlichen Anreise seinen Vorstoß wagen: «Ich stehe, großer Gerhart Hauptmann, als Vorsitzender des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands vor Ihnen.»
«Nur … zu.»
«Voller Gram erfuhren und erleben wir, wie die Jahre und Gebrechen, die damit verbunden sind, und wie Not Ihnen zusetzen. Umso froher stimmt es, dass Sie den schlimmsten Anfeindungen weiterhin Ihre Kraft entgegensetzen.» Es war nicht zu deuten, wie es um diese Energie im Moment bestellt war; die Hände des alten Mannes ruhten fahl auf den Lehnen. Becher setzte sich; er musste keine Volksrede halten. «Denken wir an die Zukunft», sagte er.
«Ja, ja.»
«Für ein neues Deutschland habe ich es mir zur Pflicht gemacht, sämtliche Emigranten, die guten Willens sind, in der derzeitigen Ostzone zusammenzurufen. Bevor das vereinte Deutschland wiederersteht – was mir, wie jedem Patrioten, ein Herzensanliegen ist –, wird Mitteldeutschland, beziehungsweise nun Ostdeutschland, unter dem Schutze unserer sowjetischen Freunde zur Pflanzstätte einer friedvollen und sozialistischen Kultur werden.»
Die Schwester behielt ihren Patienten im Auge. Die Offiziere waren an Lagebesprechungen gewöhnt.
«In nicht ferner Zukunft, Gerhart Hauptmann, wird sich der Wunsch erfüllen, den Sie in Ihren sozialen Dramen auf der ganzen Welt verkündet haben. Die Weber werden nicht mehr hungern müssen. Das entrechtete Mädchen Hannele wird nicht mehr elend und fiebernd gen Himmel fahren müssen.»
Hauptmann hob den Blick und richtete sich leidlich auf.
«Zu viel Eigentum von Wenigen wird bei uns in Allgemeinbesitz überführt werden. Gesundheitliche Versorgung wird unterschiedslos jedem zuteilwerden. Profit Einzelner wird zum Gewinn und Segen aller werden. Nationale Überheblichkeit und Rassenwahn werden wir mit Stumpf und Stiel … beseitigen. Entscheidend dafür, Gerhart Hauptmann, sind Bildung, Erziehung und Kultur. Der Westberliner Magistrat plädiert dafür, obwohl er nicht im Geringsten dafür zuständig ist, die Ruinen der Lindenoper ersatzlos zu sprengen. Ich werde diesen Tempel der Musik wieder aufbauen lassen.»
Der Greis nickte anerkennend.
«Ich plane Kulturhäuser im ganzen Land. Mobile Leihbüchereien werden die Bevölkerung der Ostzone mit anspruchsvoller Unterhaltung und Werken des Humanismus versorgen. Vornehmlich Kinder von Arbeitern und Bauern – bisher und noch weltweit Fußabtreter sogenannter Eliten – werden Zugang zu Universitäten erhalten. Die klassenlose Gesellschaft kann nur von unten her aufgebaut werden. Die Truppen der sozialistischen Völkergemeinschaft, die sich soeben bildet –»
«Dies schrecklichste der Jahrhunderte», vernahm man Gerhart Hauptmann. Er saß beinahe aufrecht und tupfte sich mit dem Einstecktuch aus seinem orientalisch anmutenden Hausgewand die Lippe trocken.
«– die Söhne des Volkes werden auf Friedenswacht stehen. Von unserem Land wird kein Krieg mehr ausgehen. Nie und nimmer!», rief Becher so laut, dass fast das Kerzenlicht flackerte. Hauptmann Weiss stimmte klärend zu: «Keine Zwille bekommt ihr in die Hand.»
Die Schwester erhob sich, um dem Genesenden das Kissen im Rücken zurechtzuziehen. «Danke, Maxa.» Natürlich trug sie noch die Tracht der bisherigen Schwesternschaft. Nur die Halsbrosche mit Adler und dem fatalen Kreuz oberhalb des Roten Kreuzes fehlte, wie jetzt allerorten. Eine schlagartige Selbstreinigung der humanitären Organisation. Es klopfte. Gerhart Pohl trat leise ein, schlich zum Kanapee, wohl um noch Besuchszeuge zu sein.
Johannes R. Becher beugte sich vor. Seine Stimme klang freundlich-kultiviert. «Sie befinden sich auf dem Weg der Gesundung.»
Niemand widersprach.
«Sie, Poeta Laureatus, sofort mitzunehmen, ist heikel.»
«Gewiss», pflichtete der Fotoleutnant besorgt bei.
«Die Strecke ist strapaziös. Sie bedürfen noch der Ruhe. Sie wollen vielleicht das eine oder andere Erinnerungsstück mitnehmen. Ihre Frau und nächste Menschen.»
Hauptmann war sichtlich wacher geworden, was in diesem Fall hieß, dass seine Augen heller und größer geworden waren.
«Ich erwähnte», fuhr der Gast fort, «dass ich fortschrittliche und bedeutende Emigranten in Ostdeutschland versammeln möchte. Bertolt Brecht, Anna Seghers, Arnold Zweig, Hanns Eisler sind meinem Ruf gefolgt. Lion Feuchtwanger überlegt noch. Heinrich Mann, den ich zum Präsidenten einer neuen Akademie der Künste machen wollte, ist vor der Überfahrt … die Passage war bezahlt … in Kalifornien verstorben.»
«Das ist ein Verlust.»
Becher nickte. «Immer ein aufrechter Demokrat gewesen.» In die Stille sagte er: «Sie, Gerhart Hauptmann, sollen meinetwegen hundert werden und mehr.»
Leutnant Chanov, der einen Narren an dem Greis gefressen hatte, der gleich einer Buddha-Statue hereingetragen worden war und nun sogar seinen Seidenschal zurechtzupfte, pflichtete bei.
«Sie haben Anfechtungen nicht vollends widerstanden, Herr Hauptmann. Wer in diesem Haus verkehrte, will ich nicht wissen. Doch wer in unserem Land nach reinen Seelen sucht, müsste es zuvor entleeren. Leider. Wir müssen gerade trübes Wasser abkochen.»
Gerhart Pohl stimmte mit einem Nicken zu.
«Sie sind eine geistige Großmacht. Weltweit steht Ihr Name», Becher schüttelte lächelnd den Kopf, «für Menschlichkeit. Kommen Sie nach Berlin! Werden Sie Schirmherr meiner Akademie. Stehen Sie mit uns für die humanistische Tradition und eine lichte, friedvolle Zukunft.»
Der Kerzendocht verbrannte knisternd.
«Ostberlin?» Gerhart Pohl erhob sich.
«Falls die Bürde des Amtes eines Akademiepräsidenten zu schwer ist», Becher wog jedes Wort ab, «dann bieten wir, mit dem nötigen Komfort, Dresden als Bleibe für Gerhart Hauptmann an. Generalfeldmarschall Paulus, der Totengräber der 6. Armee bei Stalingrad, befindet sich bereits auf dem Weg nach Dresden. Aus dem preußischen Militaristen ist in der Gefangenschaft ein Antifaschist geworden.»
«Es geht doch», flocht Kapitan Weiss ein, «aber Paulus als Nachbar? Nur noch ein Nervenbündel.»
«Seine Träume möchte keiner haben», sagte Chanov.
«Wir möchten nicht», Bechers Finger pochten auf den Tisch, «dass Gerhart Hauptmann am Ende in der Fremde … elendiglich zugrunde geht. Das fiele nach vielen Schanden als Schande auf unsere Nation zurück. – Falls Sie jetzt nicht mitkommen, müssen wir andere Wege für Sie freimachen. Das ist in der Unordnung nicht leicht. Der polnische Staat organisiert sich erst. Was auch immer sein wird … die Ausreise über Kohlfurt, über Kohlfurt nicht. Es ist die Hölle.»
«Ausreise? Mein, mein Bruder ruht hier.» Der Hausherr zeigte sich nach Kräften geistesgegenwärtig. Leutnant Chanov blickte ihn aufmunternd an. «Meine Ahnen ruhen hier. E-egal, da sie ruhen, könnte man natürlich auch fort. Länder bleiben, Menschen entschwinden. Keine Entscheidung ohne meine Frau.»
«Gewiss», beeilte sich Becher zuzustimmen.
In dem Halbdunkel um den Mahagonitisch und unter den Augen Joseph von Eichendorffs sortierte der Hausherr seine Gedanken: «Sie dürfen es ü-übermitteln … wem Sie wollen, geschätzter Herr Becher, es ist meine Grußadresse: Es gibt kei-keinen Augenblick, in dem ich nicht Deutschlands gedenke, obgleich mein Teil leider nicht, nicht mehr die Kraft besitzt, so zu wirken, wie ich möchte.» Er schnappte nach Luft. «Ich begrüße das Bestreben Ihres Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung», die Stimme sackte bei längeren Wörtern manchmal ab, «und ich hoffe, dass sie gelingen wird. Meine Wünsche sind in diesem Sinne … bei ihm.»
«Dürfte ich das in diesem Sinne veröffentlichen?»
«Das dürfen Sie.»
Bechers Hände zitterten. Er hatte keinen Ascher erblickt, doch das Rauchen in Gegenwart des kränklichen, hüstelnden alten Mannes verbot sich ohnehin. Frühere Süchte hatten Bechers Körper, die Nerven nicht unverschont gelassen.
«Pohl», wandte sich der Hausherr an den Vertrauten: «Welches Gedicht von Herrn Becher schätzen wir, wir besonders?»
«Zu wenig, Herr Doktor, haben wir geliebt.»
«Genau», sagte Hauptmann, «habe vorhin das Bändchen holen lassen. War mit meiner Bibliothek auf dem neuesten Stand. Für, für die Bücher bräuchten Sie Güterwaggons.»
Während Becher sich neben den Offizieren erhob, begann Pohl etwas verlegen:
«Aus weiter Ferne die Gespräche führen,
Die unterlassenen. Fremd ging ich vorbei
Mit meinem Wissen, und an mir vorüber
Ging wieder einer mit noch besserem Wissen.
O überall war besseres Wissen, jeder
Besaß die Weisheit ganz. Doch die Liebe fehlte
Und die Geduld. Und das Beisammensitzen.
Aussprache alles dessen bis ins kleinste,
Was nottat und was marterte die Seele.»
Die Verlegenheit Pohls, etwas aufzusagen, ging auf Becher über, der mit einer Träne rang. «Danke. Pohl. Danke, Gerhart Hauptmann. Das – hier. Aber wir haben begonnen, uns auszusprechen. Wir sind auf dem richtigen Wege.»
Drei Tage währte der Aufenthalt der Delegation im spätherbstlichen Agnetendorf. Die Gäste nächtigten auf Sofas und Chaiselongues, Leutnant Chanov mit einem Spucknapf neben sich. Der Kaukasier fotografierte das Anwesen, seine Bewohner für eine sowjetische Dokumentationsstelle. Sein Vorgesetzter Weiss besorgte weitere Lebensmittel und Bezugsscheine für das beglückte Haus. Johannes R. Becher führte Gespräche mit Gerhart Pohl, dem er eine Arbeit beim Ostberliner Rundfunk anbot. Das Wirken für den Aufbau eines freien und klassenlosen Deutschlands lockte Pohl. Unfern der Villa waren eines Nachts Kläffen und Schreie zu vernehmen. Mit Hunden wurden Bauern des Dörfchens Baberhäuser ins Tal getrieben.
Während der Anwesenheit der deutsch-russischen Abordnung verschärfte sich die Sicherheitslage. Unter dem Schutz polnischer Milizionäre, die umherstreiften und keiner Befehlsgewalt gehorchten, näherten sich polnische Vertriebene der Trutzburg, umringten auch die Fahrzeuge und forderten das Verschwinden der Deutschen und der Russen. Gerade als ein Schusswechsel drohte, erschienen auf der Straße und aus dem Gehölz dreißig Mann des polnischen Grenzschutzes und vertrieben ihre Landsleute vom Grundstück und aus dem Umfeld der Brücke. Der Grenzschutz war auf der Fährte von Räuberbanden, die aus Böhmen in das Hirschberger Tal einsickerten. Der Kommandeur der Grenztruppe war der deutsch-polnische Sergeant Hübschmann. Nach dem Massaker an zwanzigtausend Offizieren des bürgerlichen und eroberten Polens durch die Rote Armee 1940 bei Katyn hatte der Kommunist Hübschmann ein polnisches Bataillon unter sowjetischer Führung aufgebaut. Nun häuften Hübschmann und seine Grenzsoldaten Reichtümer durch Tauschhandel und Schutzgelder.
Dabei wollte der Sergeant, dem Volkszugehörigkeiten gleichgültig waren, vornehmlich wieder «Mechaniker» werden und «reelles Geld» verdienen, wie er Gerhart Pohl gestand. Und «unbedingt in die USA auswandern».
Nach der Auflösung der ersten Belagerung des Wiesensteins formierte sich eine zweite. Alteingesessene und Flüchtlinge, darunter ein verwaistes Mädchen, das über Land streunte, sammelten sich um den Dodge und die beiden anderen Fahrzeuge. In der Nebelkühle erbaten sie Essen, und etliche bettelten darum, über die Flüsse mitfahren zu dürfen. Gerhart Pohl hörte: «Wenn Hauptmann geht, ist es aus.»
Kapitan Weiss lehnte jede Überlegung, einige Bittsteller auszuwählen und mitzunehmen, kategorisch ab. Das siebenjährige zerlumpte Mädchen machte sich wieder davon, und vielleicht kannte es die Unterschlüpfe anderer verwaister Kinder, die Frösche brieten und immer wieder laut Namen hersagten, um nicht zu vergessen, wie sie hießen, aus welchem Ort sie stammten und wer ihre Eltern gewesen waren. Im leeren Ostpreußen, hieß es, streiften Tausende von Verlorenen durch die Wälder.
Wie würden sie den Winter überleben, und was würde aus ihnen werden?
Nachdem sie fotographiert worden war, löste Elvira Zerbst die Nadeln ihres Häubchens und warf es in den Müll. Niemand widersprach. Ohne ihren weißen Schmuck auf dem Haar kam Heinrich Pietsch die Zofe halb bekleidet und verwildert vor. Doch jedes Wort erübrigte sich.
Der Kulturbundpräsident forderte Hauptmann und die Seinen mehrmals und dringlich zur schleunigen Abreise auf. Es wurde ihm beschieden: «Vielleicht. Mit den Füßen voran. Es hängt davon ab, wem wir hier noch nützen.» Der Schutzbrief, nach dem sowjetischen Marschall Schukow-Schein genannt, wurde mit offiziellem Zusatz vom Starosten des Powiat Jeleniogórski, der Region Karkonosze-Riesengebirge, erneuert.
In gedrückter Stimmung verabschiedete sich die Delegation. Dann bestiegen die Offiziere und ihre Mannschaft, die im Park kampiert hatte, sichtlich erleichtert ihre Wagen, um wieder in die Ostzone zu gelangen.
«Es wird bald besser. Mit der Zeit wird alles besser», psalmodierte die Köchin immer monotoner vor sich hin. Sie hatte wieder Kaffee. Wegen des berauschenden, verlockenden Dufts wurden beim Aufbrühen die Fenster geschlossen.
15. November. Bedeckt, kalt. Nach guter Nacht G. recht frisch, empfängt um 11 Uhr Gratulanten. Mittag mit mir, Oberforstmeister Koehler und Geheimrat Prof. Kühnemann. G. 2 Stdn. Mittagsschlaf. Wir hören von 5 – 6 Uhr Berliner Sender, Feierstunde zu G.’s Geburtstag, Deutsches Theater Berlin. Interessantes Gespräch: G. (sehr lebhaft) und Kühnemann über Faust. G.: 8 Uhr im Bett.
25. November. Nebel. Sonntag. Grau. Frost, dunkel. G. ohne Schlafmittel eine besonders gute Nacht! Metzkow liest vor, Schlussmonolog Prosperos, Indipohdi. Schwester Maxa Nachtwache.
26. November. Sender Hamburg nach 20 Uhr Hörspiel Biberpelz. Altsekretärin Elisabeth Jungmann, Telegramm, (London), 14. XI., eben eingetroffen: «Warmest greetings, cordial wishes, fond love.» «Es war ein Fest», (G.). Dr. Schmidt.
Margarete Hauptmann, Tagebuch
Elvira Zerbst und Fritz Use schmückten die Weihnachtstanne mit Lametta, Kugeln und dem vielspitzigen Herrnhuter Stern. Die Kristallschale mit Walnüssen platzierten sie zwischen dem Chor geschnitzter pausbackiger Engel und dem gewaltigen Nussknacker. Wie seit vierzig Jahren legte Pietsch die Zange bereit, mit der die Nüsse sich erheblich leichter knacken ließen als mit dem napoleonischen Grenadier. Schon am Nachmittag des 24. Dezember versammelten sich die Wiesensteiner um den Baum, dessen Schmuck im Schein von fünf Kerzen schimmerte. Im Gehrock mit schwarzseidenem Revers nahm der Hausherr im Lehnstuhl neben der Feuerstelle Platz. Annie Pollak reichte ihm die Familienbibel mit fleckigem Ledereinband. Die welligen Seiten des Evangeliums nach Lukas öffneten sich fast von selbst, und Gerhart Hauptmann begann: «Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Keiser Augusto ausgieng, dass alle Welt geschetzet würde. Und diese Schetzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Kyrenius Landpfleger in Syrien war. Und jedermann gieng, auf dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. Da machet sich auff auch Joseph aus Galilea, aus der Stadt Nazareth in das Jüdischeland, zur Stadt David, die da heisst Bethlehem …» – Die Köchin entzog sich und verschwand mit nassem Gesicht in der Küche. Irgendjemand tuschelte: «Der Einzige mit Verstand im Orient ist der römische Statthalter.» – … Alle zögerten. Aber sie versuchten es. Wo auch immer in Schlesien, in den geschundenen Teilen der Welt «Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht», «Cicha noc, święta noc, polcj niesie ludziom wsezem» angestimmt, gesummt, oder auch nur an das Lied gedacht wurde, versiegten wohl der Gesang und das Summen. Betreten blickten die Wiesensteiner zu Boden.
Paul Metzkow und Gerhart Pohl holten in einem Wäschekorb die Geschenke. Der Masseur reichte Margarete Hauptmann, die neben dem Gemahl saß, die Gaben. Überwältigt vom Präsent und nach einer Verbeugung betrachtete Heinrich Pietsch in seiner Hand eine goldene Plastronnadel des Hausherrn. Gerhart Pohl erhielt eine Erstausgabe von Heinrich Heines Die Bäder von Lucca. «Das ist zu viel», bedankte er sich.
«Das ist für Sie, Use. Damit der Kopf im Winter schön frei bleibt.» Margarete Hauptmann überreichte dem Hauswart eine Skimütze Benvenutos. Metzkow gab ihr das nächste und handliche Geschenk. «Nur noch halb voll, Professor Kühnemann», bekannte sie, «aber erfrischt immer.» Der alte Geheimrat empfing die Flasche Odol und schüttelte das Mundwasser vorsichtig. Der Masseur griff in den Korb und flüsterte die Namen. Annie Pollak freute sich über einen Muff der gnädigen Frau. Elvira Zerbst machte aus Gewohnheit einen Knicks, als sie, ganz zu ihrem Erstaunen, mit einem Reisewecker bedacht wurde. Alsdann wurden die anderen mit einer ungeöffneten Dose Scho-ka-kola, einem Programmheft von der Uraufführung einer der Atriden-Tragödien im Burgtheater 1941 und mit einem Kaschmirschal beschert. Das Ehepaar schenkte einander Massagegutscheine, die der Heilpraktiker selbst mit Buntstiften von Enkel Arne hübsch gestaltet hatte.
Der Übergang ins neue Jahr 1946 verlief unruhig.
Am zweiten Weihnachstag erschienen mehrere Männer in Lederjacken. Sie wiesen sich mit polnischen Dokumenten als Kriminalbeamte aus. «Die Staatsanwaltschaft hat eine Hausdurchsuchung angeordnet», erklärte einer von ihnen auf Deutsch: «Sie richtet sich nicht gegen den Besitz des Herrn Doktor Hauptmann, der ist geschützt, selbstverständlich. Wir sind unterrichtet.» Der Kommissar verlangte, den Keller zu inspizieren. Metzkow folgte den Beamten hinunter. Dort unten standen sie bald vor einer Masse von Gepäck. «Gehören alle diese Koffer der Familie Hauptmann?», wurde Metzkow befragt. Der Berliner antwortete: «Die Sachen gehören Deutschen, die aus ihren Wohnungen ausgewiesen wurden und sie hierher in Sicherheit gebracht haben.» «Gut, dass Sie die Wahrheit sagen», reagierte der Kommissar im Kellerdunkel: «Wir haben die Anzeige eines Ihrer Landsleute vorliegen, dass Sie fremdes Gut verbergen. Die Schieberware ist beschlagnahmt.» Die Kriminalisten trugen die Koffer aus dem Haus und luden sie auf einen Wagen. Tags darauf erfuhr Pohl beim Burmistrz von Agnetendorf, dass ein Deutscher das Versteck verraten hatte und mit einer besonders geschickten Diebesbande zusammenarbeitete.
Der unangemeldete Besuch einer Gruppe junger polnischer Journalisten nach dem Jahreswechsel verlief anders.
Für eine Reportage wünschten sie den Dichter zu sehen und das Haus zu besichtigen. Use und Schwester Maxa versuchten die wüst wirkende Schar abzuwimmeln. Der Hausherr sei krank, sie sollten in den nächsten Tagen wiederkommen. Vor den plötzlich gezogenen Revolvern wichen die Schwester und der Hausmeister zurück. Die Einbrecher schwärmten ins Erdgeschoss aus, öffneten Schränke, durchwühlten Schubladen, steckten in die Taschen, was ihnen brauchbar erschien. Von der Balustrade spähte Margarete Hauptmann in die Tiefe und hörte Krach. Als die Diebe die Tür zum Biedermeierzimmer aufstießen, standen sie vor Gerhart Hauptmann. Ob er geistesgegenwärtig oder verwirrt sprach, wusste er womöglich selbst nicht: «Tre-treten Sie näher, meine Herren!», erklärte er aus dem Sessel, «Ihre Jugend erfreut mein altes Herz. Sie wünschen mein Haus zu ungewöhnlicher Stunde zu besichtigen. Es ist geschehen. Und, und womit kann ich Ihnen jetzt noch dienen?» Die Bande zog die Mützen, zwei zündeten sich Zigaretten an, einer bat um ein Andenken. Mit ihrem Diebesgut und einem Koffer voller Aufkleber internationaler Hotels von Prag bis Nizza zogen sie von dannen, die Revolver wieder in der Tasche.
Die Spuren des Überfalls, die aufgerissenen Schubladen und durchwühlten Schränke erschütterten die Bewohner tiefer als eine bloße Verwüstung. Der Zugriff auf das Persönliche, das Private erniedrigte und versehrte die Seele. Immer genauer – ganz vielleicht nicht –, konnte man sich in jene Menschen einfühlen, denen Gewalt widerfuhr, deren Körper schutzlos wurden. Sie fanden nie wieder zu sich, nährten bleibend ein Grauen.
Annie Pollak fragte sich, ob sie noch Wochen oder nur noch Tage ihres Lebens sicher war.