Kohlfurt

Am 16. März 1946 war der Himmel bedeckt, und es war kalt.

In Mänteln fanden sich am Vormittag Annie Pollak und Gerhart Hauptmann im Arbeitszimmer ein.

Der Dichter, der sich wieder auf seine Stöcke stützte, diktierte der Sekretärin eine Passage seines Romans Der Neue Christophorus: «D-d-daher ist die Abkehr von den Toten erstaunlich gründlich und schnell. Man sieht das bei Männern, die ein Vierteljahr nach dem Tode ihrer Ehefrauen wieder heiraten, und desgleichen bei Ehefrauen, die sich nach einer solchen Katastrophe vielfach erstaunlich schnell wieder vermählen. W-w-wehe, wenn dann der Tote zurückkäme! Wer lange lebt und Abertausende von Schicksalen, die mit der Geburt begonnen und mit dem Tode geendet haben, vorüberziehen sah, kann davon sprechen. Es gibt das Fremde und Vertraute im Umgang mit allen, die lebendig mit uns sind. Das Fremde lässt sich nicht überschätzen, das Vertraute desto mehr. Drum lässt sich sagen, dass der sogenannte Tod auch vielleicht im lebendigsten Umgang eine Stätte hat und wir es auch im Leben, mitunter nicht ohne Entsetzen, sehen und fühlen werden, wenn da und dort sich im Lebenden ein u-ungekanntes Totes erweckt.

Wissenschaft ist eine Fiktion. Sie hat von der Religion sich getrennt. Wenn sie die absolute Wahrheit sucht, geht sie auf ihren Selbstmord unwissend aus …»

Annie Pollaks vorsichtigen Hinweis, dass längere Gedankengänge stets die Handlung eines Romans unterbrächen und manche Leser ungeduldig machen könnten, wischte der Dichter beiseite: «Es geht ums Ausschöpfen der Empfindung. Im Alter interessieren m-mich ungeduldige Leser nicht mehr.»

Das Arbeitstreffen verlief kurz. Die Luft war zu klamm im ungeheizten Raum, Gerhart Hauptmann hustete bedenklich, und die Stöcke boten nur einen wackeligen Halt. «Ich werde Dresden nicht mehr los», bemerkte er, als Annie Pollak ihn zur Ottomane führte.

Nach dem Tee versuchten alle, sich aufzuheitern.

Die Erzählung vom Meerwunder war eine der Lieblingsgeschichten des Ehepaars, das einst vor den Küsten Italiens und Hiddensees allmorgendlich mit Brustschwimmen und modernem amerikanischen Crawl die Fluten durchmessen, sich erfrischt und für die Arbeits- und Festtage gestärkt hatte. In der Villa, in der man sich nach Zerstreuung sehnte, trug auch Schwester Maxa Mück mittlerweile passabel aus den Werken Hauptmanns vor oder brachte auf Wunsch Passagen aus Theodor Fontanes Effi Briest, aus Margaret Mitchells Vom Winde verweht oder übersetzte Poeme französischer Romantiker zu Gehör. Das Repertoire literarischer Werke schien wie sein Stoff, die Welt, unendlich zu sein. Diesmal jedoch zierte sich die Rotkreuzschwester, die kleine Runde auf andere Gedanken zu bringen. Die zügellose Geschichte vom spanischen Seemann Cardenio, der einer Frau verfällt, die er nach ihrem Ertrinken als Galionsfigur neu erschafft, doch die auch als Meerweib Astlik den Seefahrer verfolgt, kam Schwester Maxa wie eine ausgemachte Altherrenphantasie vor: «Lesen Sie, Metzkow», bat die Helferin.

Der Heilpraktiker griff nach der schönen Einzelausgabe des S. Fischer Verlags von 1934.

«Das Meerwunder ist die reine Freiheit in einem schon düsteren Jahr», merkte Gerhart Pohl an.

«Allsogleich schwamm ich als Triton im Meer», ließ Paul Metzkow sich vernehmen, «und hatte Astlik auf meinem Rücken. Das waren Minuten, halbe Stunden, Ewigkeiten eines unaussprechlichen Lebensgefühls! Umwogt und umstoben von einem nächtlich flutenden Himmel unter uns, wühlend im Abglanz der Milchstraße, fuhren wir im Schrei und Rausch toller Wassergemeinschaft dahin. Strähnen von Feuer, herrliches Meerleuchten, flossen überall um uns hin, unsere Leiber wohlig umbuhlend, statt sie zu verbrennen. Ich hielt eine große Muschel am Mund», der Vorleser selbst blickte verwundert auf, «mit der ich, wenn ich Pausbacken machte, wie eine ganze Menagerie von Raubtieren brüllen konnte, wobei mir Astlik, die nun üppige, strotzende Astlik, deren Fischschwänze mich umschlossen, Beifall jauchzte und mir Rücken und Fischschwanz klopfte. Dieser war stark wie der Leib einer Seeschlange.» Schwester Maxa nestelte an ihrem Ärmel. «Wenn ich das Wasser kraulend schlug, so brausten wir fort wie vom Bogen geschossen, und selbst die Delfine blieben zurück.»

«So flink warst du nie», lachte Margarete Hauptmann.

«Wir wälzten uns bald zu Tiefen, bald auf der Oberfläche der Gewässer herum. Um uns wieherten selige Sirenenrosse. Mit jeder Umarmung steigerten sich die Kräfte zu neuen, und schließlich ward alles durch eine göttliche Gesundheit gekrönt, gegen die alle menschliche Krankheit ist.»

Annie Pollak flüsterte Gerhart Pohl ins Ohr: «Was für ein Ausmaß an Weltflucht.»

Der antwortete leise: «Was für eine kühne Selbstbehauptung in der Welt. Das Phantastische gegen den bleiernen Rest.»

«Psst», gebot die Hausherrin.

Der Wiesenstein entschwand für die Lauschenden, bis die Lampe erlosch, im Zauber und Irrwitz der Vermählung von Mensch und Gottheit.

«Alles Worte, d-d-die kein Gewicht mehr haben», hörte man den Dichter aus dem Dunkel. «Poesie … wie soll sie noch möglich sein?»

Pietsch brachte eine Kerze von Major Sokolow.

Die Tage der Leere und des Wartens wirkten austauschbar. Die Stunden zerrannen gleichförmig, kein Glockengeläut vermittelte ein Gefühl von Sonntag. Mitte März sichtete Richard Dorn über frischen Beeten beim Efeu einen Zitronenfalter, zwei Pfauenaugen und Bienen. Da das Rankgewächs sich gerne in Schweigen hüllte, teilte der Gärtner die Frühlingsneuigkeit in der Küche mit.

Auf einigen Höfen im Umkreis lebten deutsche Bauern und die neuen Eigentümer unter einem Dach. Letztere hatten die Haupträume bezogen. Die Mahlzeiten wurden geteilt. Auch ohne dass man Gespräche führen konnte, entwickelte es sich dahin, dass die ursprünglichen Bewohner das verbliebene Vieh versorgten, den Garten bestellten, und dass Polen versuchten, Fenster abzudichten. Bisweilen auch in anderer Verteilung. Es wurde gleichgültig, wer kochte und wer Holz hackte. Die einen konnten sich unbehelligt auf der Straße bewegen, die anderen wurden unversehens angespuckt. Da und dort entwickelte sich eine Verbundenheit zwischen den Vertriebenen und den Dagebliebenen. Polen und Deutsche hätten einander schmerzerfüllt in die Arme sinken können. Auf manchen dieser Hofstellen riss jedoch nachts ein Geräusch aus dem Schlaf. Würden die neuen Bewohner an den Ausharrenden oder die Verbliebenen an den Eingetroffenen plötzlich blutige Rache nehmen? Mündete die Schreckenszeit in eine gegenseitige Duldung und Vermischung der Feindseligen oder würde «ordentlich aufgeräumt», wie es zuvor eine deutsche Devise gewesen war?

Konnte der Hass zwischen Eroberern und Eroberten, Erniedrigern und Erniedrigten, die ihre Rollen getauscht hatten, ohne weitere Gewalt überwunden werden?

2. Mai 1946: Wir haben seit heut eine schöne Ziege, die täglich 3 Liter Milch gibt.

Sommerlich warm, leichter Ost. Gert, Liegestuhl beim Hannele im Park. Kurzer Gang halb ums Haus. Dr. Schmidt. Essen. Schlaf.

17. Mai. Dunkel, sehr kühl. Aufbruchsgespräche mit Metzkow, der Packen etc. leitet. Aufbruchsstimmung: ich ging durch die unteren leeren Räume … G.’s Reich. Essen. Bett. Schlaf bis 5 Uhr. Dr. Schmidt. G. im Bett.

Margarete Hauptmann, Tagebuch

Die Evakuierung Agnetendorfs wurde am 21. Mai bekannt gegeben.

Wenig später vollzog sich die Invasion des Wiesensteins.

In aller Eile wurde der Dichter in die oberen Räume gebracht. Ratlos und ohnmächtig standen die übrigen Bewohner der Villa den bestens oder weniger vertrauten Mitbürgern gegenüber. Sie drängten wie auf eine geheime Parole ins Haus.

«Ist er noch da?»

«Er muss uns helfen.»

«Mein Leben … in einer Tasche.»

«Wohin sollen wir?», hallten Forderungen und Flehen unter dem bunten Gewölbe durcheinander. Paul Metzkow wich auf die Treppe zurück. Schließlich füllten um die fünfzig, sechzig fassungslose und zermürbte Menschen das Vestibül.

«Das kann der Westen doch nicht zulassen.»

«Ich werde nicht weichen», rief einer.

«Ich bin kein Flüchtling. Ich lebe hier», drang es an Metzkows Ohr. Hinter ihm umklammerte Annie Pollak das Geländer. Nun war es soweit, der Exodus, jetzt die Familie Hallmann, der pensionierte Amtsgerichtsrat, die Kriegerwitwe von der Brücke, sämtliche Nachbarschaft. – Und in Bälde gewiss kein Schutzdokument mehr für den Wiesenstein.

«Er kennt den Kommandanten», behauptete eine Frau.

«Brot habt ihr von uns bekommen. Nun tut etwas», forderte eine andere. Ralf, Jaceks Freund, wimmerte an der Hand seiner Mutter. Sie hatte als Wäscherin in einem Kurhotel gearbeitet.

«Wir sollen in fünf Tagen verladen werden.»

«Trennen wir uns so? Für immer?»

«Verladen.» Einige starrten einander an.

Paul Metzkow fand keine Worte. Heinrich Pietsch sank hinter der Balustrade auf einen Stuhl und vergrub das Gesicht in den Händen.

«Was soll Herr Dr. Hauptmann tun?», fragte Metzkow in die graue Menge vor ihm.

«Einschreiten.»

«Er ist krank. Er kann nichts tun.»

«Eine Bittschrift.» Der frühere Bürgermeister Hardt war mit seiner Frau, beide wie um Jahre gealtert, gebeugt und sogar zerzaust, vor die Gemeinde getreten: «Eine Petition nach Warschau. Ein Rundfunkappell, an die Menschlichkeit. Sofort.»

«Wer sollte den für uns senden wollen?», zweifelte der Amtsgerichtsrat.

«Ich bin kein Täter, wie es nun heißt», empörte sich jemand bei der Haustür, «ich habe nur meine Pflicht erfüllt.»

«Ja, und dies ist das Resultat!»

«Falls wir bleiben», Letitia Hardt schüttelte resigniert den Kopf, «wird es hier keinen Frieden geben. – Nach allem, was geschehen ist. – Das wissen alle.»

Der Amtsgerichtsrat nickte verzagt.

«Sollen wir auf ein versöhnliches Europa warten?», schrie einer. Es war Lehrer Körner, der vor Jahresfrist mit der Hitlerjugend ein Begrüßungsständchen für den Dichter dargebracht hatte.

Kohlfurt war von jeher ein Unort gewesen.

Der Wind fegte über die grasige Weite. Der Regen peitschte ungehindert in Sand und Pfützen. Die Senken der Braunkohlegruben verwandelten sich in Seen. Im Winter schien die Schneefläche bis zur Weichsel und in die russische Tundra zu reichen.

In Kohlfurt blieb man nicht.

In Kohlfurt stieg man um.

Der Wasserturm für die Kessel der Dampflokomotiven ragte als gigantische Landmarke auf. Auf einer der frühesten Großdrehscheiben der Welt konnten sechzehn Zugmaschinen ins Halbrund des Lokschuppens einfahren und ihn nach der Inspektion wieder verlassen.

Reisende hasteten durch die Unterführungen oder spähten nach einem Platz in der zweigeschossigen Wartehalle. In Kohlfurt bündelten sich die Gleise aus Westen und Norden, aus Preußen und Berlin, und verzweigten sich neu in den Süden Schlesiens, nach Polen. Bequem und ohne Rußschwaden vor den Fenstern auf der elektrifizierten Strecke nach Breslau. Auf dem Rangierareal abseits des Personenverkehrs verschoben Kleinloks die Stückgutwaggons und Erzwagen mit oberschlesischer Steinkohle für die Industrien im Westen. Durch die Steppe um Kohlfurt und den Knotenpunkt waren im langsamen Takt die Mannschaftstransporte, die Flachwagen mit Panzern in Richtung Osten und, zumeist bei Nacht, die Viehwaggons in Richtung Auschwitz und der Gaskammern gerollt.

Die Stationsbeschriftung Kohlfurt war beseitigt. Eine Holztafel neben einem Gleis nannte: Węgliniec.

Trotz der demontierten Schienen blieb das Rangierfeld als Brache im Land zu erkennen.

Drehscheibe und Lokschuppen waren eine Verkantung von Stahlstreben, Haufen aus Steinen, Scherben und Fetzen von Teerpappe, zwischen denen Gräser wehten. Das Schild Uwaga! Niewypał! warnte vor Blindgängern.

Die dunklen Bänder nahten hinter weißem Dampf.

Zweimal am Tag.

Verharrten dann oft für Stunden fern auf dem Bahndamm.

Ein Achsenschaden, ein Kolbendefekt, ein Überfall oder ein anderes Unglück.

Węgliniec war auf der Route C zum Übergangsbahnhof für die Aussiedlung, für die Vertreibung der Deutschen aus dem Südosten bestimmt worden.

Lieutenant Colonel Anthony Burnside von der 2nd Infantry Division der Britischen Armee, die im Rheinland stationiert war, hatte sich freiwillig für die Mission gemeldet. Die französischen Alliierten in Südwestdeutschland verweigerten die Aufnahme von deutschen Flüchtlingen. Die Amerikaner gewährten in ihrer Zone den Heimatlosen aus dem tschechischen Raum Zuflucht. Die Russen wollten in ihrem Bereich nicht noch mehr Menschen unterbringen und versorgen. Die Deutschen selbst, allüberall, wollten ihre entwurzelten Landsleute, die Obdach, Nahrung, eine Zukunft suchten, nicht. Und waren die neuen Habenichtse erst einmal da, so erwiesen sie sich schnell als bedrohlich reger, erfindungsreicher, zäher als die Alteingesessenen in Bayern oder am Rhein. Die Geflohenen hatten nichts mehr zu verlieren, sie begründeten ihr Leben von Grund auf neu.

So blieben also nur die Briten, die in ihrem Verwaltungsbereich fast die gesamte Bevölkerung von jenseits der Oder und der Neiße einreisen ließen und verteilten, zu Hunderttausenden.

Jeder Zug mit seinen bis zu fünfzig Waggons brachte um die viertausend neue … Umsiedler. Wegen des verschlissenen, maroden Bahnsystems waren sie oft vierzehn Tage statt fünf, sechs Stunden bis Kohlfurt unterwegs.

Die Meldungen von diesem Durchgangsort hatten so erschreckend geklungen, dass die Britische Armee auf einer Kontrollkommission bestanden hatte. Allmählich wurde eine Weltöffentlichkeit aufmerksamer, die ein Jahr nach dem Krieg und eigenen Nöten auch das Elend der Besiegten wahrzunehmen begann. Deutschland sollte für seine Verbrechen Elend erfahren. Dauerhaft verelenden durfte es, um des Friedens willen, nicht.

Lieutenant Colonel Burnside war neugierig auf das Land im Osten, auf die Geschehnisse dort gewesen. Mit dreißig Kameraden der Infantry Division hatte er Anfang Mai in einem Seitentrakt des Bahnhofs Quartier bezogen.

Die diffusen Autoritäten, Kommunisten und Nichtkommunisten, die stolzen Militärs wirkten erbost über die Ankunft wachsamer Ausländer, schienen zugleich geschmeichelt zu sein, von der westlichen Imperialmacht ernst genommen zu werden; im Nu verbesserten sich einige Umstände. Zumindest in Anwesenheit der Briten wurden keine Frauen mehr hinter die Lagerschuppen geschleppt, wurde den Umsiedlern der einzige Koffer nicht mehr aus den Händen gerissen, den tristen Gestalten seltener die Reitpeitsche über die Rücken gezogen. Jenseits der Grenze, auf der Sowjetzonenseite, wartete ihre erste Entlausung.

Das Bahnhofsgelände war ein schlammiger Bezirk aus Kot, Stroh, verlorenen Habseligkeiten, patrouillierenden Soldaten und zwielichtigem Gesindel. Hier fanden die letzten Ausreisekontrollen statt. Einige rissen sich fast zu früh ihre Kennbinden vom Arm.

Aus dem Regen und Gestank hatte Lieutenant Colonel Burnside sich in den verwüsteten Wartesaal zurückgezogen. Das Fenster war schmutzig, aber heil, und er sähe genug. Der zweite Zug des Tages wurde erwartet. Angesichts des Exodus konnten er und seine Männer kaum mehr ausrichten. Doch Wachsamkeit, der tägliche Rapport ins Hauptquartier, Gespräche mit zugänglichen polnischen Offizieren konnten bereits eine Hilfe sein.

Deutschland, Polen, sogar Frankreich, die Völkerschaften auf dem Balkan sowieso, der gesamte Kontinent war dem Briten, der nun in Kohlfurt ausharrte, stets unheimlich geblieben. Der Kontinent, das war dieses undurchdringliche Gewirr von Ethnien, Sprachen, Kulturen mit selten dauerhaften Grenzen. Ein riesiges pulsierendes Durcheinander sowie ein Pulverfass. Konnten die Europäer, die Menschen jenseits des Ärmelkanals, nicht einfach zu Hause bleiben und die Türen von innen verriegeln? Der Welt wären die meisten ihrer Kriege erspart geblieben. Obendrein diese kulinarischen Eigentümlichkeiten in Friedenszeiten: abscheuliches Weichgetier in den Töpfen Frankreichs, offenbar unerreicht köstliches Gebäck in Wien, saurer Braten im Rheinland, ganze Schweinsköpfe und subtile Sülzen. Alles zu viel, zu vielfältig, wenn auch anregend, vielleicht ingeniös, auf alle Fälle zu konfus für ein Gemüt aus Ipswich. Sollten die Europäer sich doch zerfleischen oder sich eine Hauptstadt und eine Ordnung geben, damit das Vereinigte Königreich, vorzüglich durch Wogen umschlossen und ein wenig ausgesperrt, endlich Ruhe vor den kontinentalen Besessenheiten bekäme. Zwei zänkische Parteien im Unterhaus genügten; mehr Stimmen und Meinungen mochten zwar bereichern, doch beförderten sie auch Unklarheit, Verdruss und nicht selten unerwünschten Wandel. Andererseits gehörte Britannien fraglos und unabänderlich zu Europa und würde ohne den konfus-einfallsreichen Kontinent an sich selbst ersticken.

Anthony Burnside lüftete kurz die Schirmmütze und strich sich über das Haar. Er freute sich auf das Ende der scheußlichen befristeten Grenzmission und auf seinen Heimaturlaub. Nicht nur Tee mit Mary, die als Air-Force-Helferin den Blitz gegen England mit abgewehrt hatte.

Burnside atmete durch und trat dann vor die Tür. Er grüßte seine Männer in ihren akkuraten britischen Uniformen.

Das Ende des Zuges war nicht zu erkennen.

Wie zwischen den Alliierten vereinbart, waren Waggons mit dem Roten Kreuz gekennzeichnet.

Polnische Wachmannschaften entriegelten die Türen. Der Gestank war bestialisch. Nicht nur die Briten mussten sich zusammenreißen. Irgendwelche Hände hoben und schoben Leichen aus dem Inneren der Wagen. Greise, verstorbene Kranke natürlich, Säuglinge wurden auf den Schubkarren zumeist abgedeckt, das Schreien aus dem Wagendunkel rührte gewiss von Müttern.

In den Waggons drängten sich und lagen die halb Verdursteten und Besudelten. Vor zwei Tagen war zwischen den Deportierten ein Krakauer Rechtsanwalt, der seiner Heimat entkommen wollte, entdeckt und abgeführt worden. Einige Juden hatten die Aussiedlung in der Enge zwischen ihren früheren Peinigern überlebt. Durch das nationalsozialistische Rassengesetz als sogenannte Halb- und Dreivierteljuden deklarierte Menschen waren von den polnischen Behörden kurzerhand zu Halb- und Vierteldeutschen erklärt worden und wurden ausgewiesen. Anthony Burnside hatte diese Vorfälle gemeldet.

Die Menschen in den Waggons schnappten nach Luft.

Braun verklebtes Stroh fiel aus dem Inneren.

Der Lieutenant Colonel durfte und wollte sich nicht abwenden.

Aus dreckigen, ausgemergelten Gesichtern blickten Augen ihn und seine Uniform erst verwundert und dann wie erlöst an.

«British?», hörte er, «where are we?»

«Help.»

Er versuchte, gefasst zu bleiben.

Wohl, weil er und seine Kameraden zugegen waren, wurde vor der Weiterfahrt über die einzige intakte Oderbrücke Wasser in die Bottiche und Eimer an den Waggontüren geschüttet.

Der polnische Oberleutant Witold Wójcik, der im Stab seiner Londoner Exilregierung gedient hatte, trat neben Burnside und sagte leise und so anteilnehmend, wie es ihm möglich oder gestattet war: «It is no extermination, Endlösung, no … holocaust as your newspapers call the German practise. – Soon everybody will be gone.»