B en kämpfte sich mit seinem Rollkoffer durch die überfüllten Amsterdamer Straßen, was kein Vergnügen war. Von hinten wurde er immer wieder angerempelt, von vorne ausgebremst. Die Adventszeit war für ihn purer Stress: Die Bürgersteige waren ohnehin schon schmal, jetzt hatte man sie zusätzlich mit Buden vollgestellt, in denen Holzarbeiten, Wollsachen und anderes verkauft wurde und fettiges Essen brutzelte. Die Geruchsmischung aus Süßem und Gebratenem verursachte bei ihm permanente Übelkeit. An einem Bierstand dröhnte aus den Lautsprechern laut «Oh jij vrolijke», gesungen von einem Kirchenchor, eine Gruppe betrunkener junger Männer grölte «Last Christmas» dagegen. Seltsamerweise lächelten alle selig zu dem Krach, sowohl die Budenbetreiber als auch die Männer. Vor der allgegenwärtigen kitschigen Weihnachtsmusik gab es kein Entkommen, die Ohren kann man nicht so leicht verschließen. Der Weg zu Bens Wagen war ein einziger Spießrutenlauf, dazu setzte auch noch heftiger Regen ein. Besinnung sah anders aus.
Dabei sehnte er sich durchaus nach dem, was die Adventslieder versprachen: Seligkeit und Freude. Aber wo bitte sehr fand denn die viel besungene stille Heilige Nacht statt? Auf keinen Fall in Amsterdam, da konnten die historischen Grachtenhäuser noch zehnmal extra angestrahlt werden.
Das mattrote alte Cabrio, das ihm sein Arbeitskollege John Cussick für die Fahrt nach Norddeutschland geliehen hatte, fand Ben schließlich wie verabredet in der Nähe vom Frankendael-Park. In den winzigen Kofferraum passte gerade mal eine Aktentasche, deswegen musste er seinen Koffer auf den Beifahrersitz stellen. Die Taschenlampe und den altmodischen Hausschlüssel aus Eisen legte er ins Handschuhfach, beides würde er später brauchen. Seine eins achtzig passten gerade so in den Zweisitzer hinein, seine Haarspitzen berührten leicht das Verdeck. Im Sommer wäre er offen gefahren, jetzt prasselte der Winterregen aufs Dach. Es hörte sich an wie in einem Zelt, hoffentlich war das Auto dicht. Außerdem war es ein Rechtslenker, auf der Autobahn würde Ben sich beim Überholen über den linken Außenspiegel orientieren, aber auf der Landstraße hinter einem Lkw war von der Gegenfahrbahn nichts zu sehen.
Wie immer am Freitagnachmittag wollte alles raus aus der Stadt. Der Boden des Wagens lag nur wenige Zentimeter über dem Asphalt, zu den Rücklichtern der vorausfahrenden Autos musste Ben von seinem niedrigen Fahrersitz hochschauen. Es erinnerte ihn an den Gokart, den er als kleiner Junge gehabt hatte. Die Scheinwerfer waren im Kotflügel versteckt und klappten hoch, als er sie anstellte. Er schaltete sie aus Spaß ein paarmal aus und ein: Augen zu, Augen auf.
Auf der Autobahn Richtung Norden wurde es dann endlich besinnlich. Der beleuchtete Ausschnitt vor ihm auf dem Asphalt blieb die ganze Zeit gleich, es kam Ben so vor, als stünde er auf der Stelle, während sich die Fahrbahn wie ein Laufband durchzog. Es wirkte beruhigend wie eine Meditation. Plötzlich fiepte im Wageninneren ein hoher Pfeifton, unangenehm laut, fast schmerzhaft. Am Armaturenbrett leuchtete keine Warnlampe auf, der Ton verschwand aber nicht, er hatte sich tief in seinem Ohr eingenistet. Ben war ratlos, ging das von selbst wieder weg? Mit Sicherheit waren es die Nachwirkungen der Adventsmusik. Verzweifelt schaltete er das Radio ein, vielleicht half es dagegenzuhalten. Doch was aus den Lautsprechern waberte, erhöhte seinen Stress noch: Sie spielten einen kitschigen Weihnachtstitel nach dem anderen.
Bens Job in der Amsterdamer Zentrale einer niederländischen Reederei war für ihn nur eine zweimonatige Zwischenlandung, am ersten Weihnachtstag würde er nach Singapur ziehen. Bis vor Kurzem hatte er in Jakarta gearbeitet, auch die Jahre davor war er in Asien und somit weit weg von Weihnachtsfeiern aller Art gewesen. Sie hatten ihm nicht eine Sekunde gefehlt. Der Heiligabend würde dieses Jahr auf eine Nacht im Flughafenhotel hinauslaufen, was ihn nicht störte, für ihn war es ein Tag wie jeder andere. Bens Eltern machten Langzeiturlaub auf Gran Canaria, er würde ausführlich mit ihnen skypen, wie jedes Jahr.
Sein zukünftiges Leben in Singapur hatte er gut vorbereitet, wie zuvor das in Duisburg, Shanghai, Mumbai und Jakarta. Grundvoraussetzung dafür war, dass er mit sich selbst zurechtkam, und das tat er. In Singapur hatte er sich online in einem Sportstudio angemeldet und würde sein Mandarin in einem Intensivkurs auffrischen. Immer, wenn er an einen neuen Ort zog, in dem er niemanden kannte, belegte er solche Kurse. So lernte er gleich zu Anfang Leute kennen: Alle globalen Arbeitsnomaden waren in der gleichen Situation, das schweißte zusammen. Allerdings musste er einräumen, dass an seinen vorherigen Standorten so gut wie niemand als Freund oder Freundin hängen geblieben war. Man kontaktete sich, nachdem man weitergezogen war, eine Weile über soziale Medien, bis man nach und nach vom Bildschirm des anderen verschwand. Er hatte gelernt, das zu akzeptieren, so war das eben.
Ben stellte die Weihnachtsmusik leise, ließ sie aber weiterlaufen. Seine Reise in den Norden passte ihm eigentlich überhaupt nicht in den Kram, er hatte in Amsterdam mehr als genug zu tun. Aber es ließ sich nicht umgehen. Dass er so kurz vor Weihnachten eine Woche freibekommen hatte, grenzte an ein Wunder, immerhin war schon der 8. Dezember. «Du musst deinen Schreibtisch aber trotzdem bis Heiligabend abgearbeitet haben!», hatte ihn sein Chef ermahnt. «Wie du das hinkriegst, ist deine Sache.» Ben nahm es als Herausforderung, wenn der Tag nicht ausreichte, gab es ja noch die Nächte.
Der Regen ließ nicht nach, die Scheibenwischer schafften es kaum, die Scheibe frei zu halten. Nach ein paar Stunden hatte Ben den Hamburger Elbtunnel erreicht. Hinter der Metropole wurde das Land tellerflach. Der Regen ging über in Schnee, ein Meer aus dicken Flocken raste ohne Pause auf die Windschutzscheibe zu, der Wind zerrte am Verdeck. Bald konnte Ben weder Mittelstreifen noch Fahrbahnrand klar erkennen. Er fühlte sich wie in einer Raumkapsel, die durch eine unbekannte Galaxie schleuderte. Nach sieben Stunden Fahrt war er hundemüde, eigentlich brauchte er dringend eine Pause – aber wo sollte er hier halten, mitten im Nichts?
Zum Glück war sein Ziel nicht mehr weit. Die Autobahn ging über in eine zweispurige Bundesstraße. Noch einige Kilometer geradeaus, dann kam der Abzweiger nach Friedrichstadt. Schlagartig hörte es auf zu schneien.
Ben ahnte, was ihn gleich erwartete: eine verschlafene norddeutsche Kleinstadt, schmucklose Rotklinkerbauten, gähnend langweilig.
Doch als er nach Friedrichstadt hineinfuhr, riss er die Augen auf. Was war das? Eine Fata Morgana? Es sah aus, als wäre er wieder dort angekommen, wo er vor ein paar Stunden losgefahren war! Mitten in Nordfriesland durchfuhr er eine niederländische Stadt, durchzogen von Grachten, an denen jahrhundertealte Häuser mit prachtvollen Treppengiebeln standen. Wie war das möglich?
Hin und wieder beleuchtete eine gusseiserne Laterne das Kopfsteinpflaster, das mit feinem Pulverschnee bedeckt war. Auf den Straßen war kein Mensch zu sehen, die Stadt gehörte um diese Zeit anscheinend sich selbst.
Nach wenigen Metern bog Ben auf einen Marktplatz ab, der ihn an ein Gemälde in einem alten Märchenbuch erinnerte. Die hellen Fassaden der prachtvollen historischen Häuser wurden mit Scheinwerfern beleuchtet, Giebel und Sprossenfenster wurden zusätzlich von kleinen Glühbirnen illuminiert. Davor stand ein Weihnachtsbaum mit unzähligen elektrischen Kerzen und bunten Kugeln. Ben ließ die Scheibe herunter. Von draußen hörte er nichts außer dem sanften Wind, es roch nach Holzrauch. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Pfeifton in seinem Ohr verschwunden war.
Das Navi führte ihn in eine dunkle Gasse mit kleinen Häusern. Der Möbelladen, den er suchte, befand sich hinter einem jüdischen Friedhof, direkt an dem Flüsschen namens Treene. Dessen Eisfläche wurde von einem Halbmond sanft beleuchtet. Im Licht der Straßenlaterne tanzten ein paar Schneeflocken. Ben nahm das schlichte weiße Haus mit den kleinen Sprossenfenstern in Augenschein. Auf dem Dachfirst thronte ein Wetterhahn mit rotem Kamm und buntem Schwanzgefieder. Neben der Eingangstür stand eine verwitterte grüne Sitzbank, von der aus man auf den Fluss sah. Ein Firmenschild gab es nicht, anscheinend kannte die Kundschaft den Laden. Hinter dem Schaufenster war ein Schild angebracht, auf dem in handgemalten Großbuchstaben stand:
BASAR AM VIERTEN ADVENT !
EILET HERBEI IN SCHAREN !
Seine Eltern hatten ihn vorgewarnt, er solle in dem Haus keine Schätze erwarten, allenfalls ein paar Bauernschränke vom Flohmarkt, die hier und da nachpoliert waren. Ben hangelte sich aus dem Wagen. Seine Knie waren von der langen Fahrt stocksteif, er streckte sich erst einmal durch. Vom zugefrorenen Fluss kam jetzt ein schneidend kalter Wind, der ihn erschaudern ließ. In diesem Moment fiel ihm ein, dass seine Daunenjacke noch in Amsterdam lag, dort war es viel wärmer gewesen, sodass er nicht daran gedacht hatte, sie mitzunehmen.
Ben zog den Eisenschlüssel und die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und leuchtete auf ein verwittertes Emailleschild über der Eingangstür. Darauf waren ein roter und ein grüner Luftballon zu sehen, die versetzt Richtung Himmel schwebten.
Nett, dachte er.
Vorsichtig steckte er den Schlüssel in die Tür, drehte zweimal um und drückte behutsam die Klinke. Die massive, grün lackierte Holztür öffnete sich ächzend, gleichzeitig ertönte eine helle Glocke, die darauf hinwies, dass jemand den Laden betrat. Er kam sich vor wie ein Einbrecher. Er setzte einen Fuß in den dunklen Raum – und zuckte zusammen.
Er wurde bereits erwartet.