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D er Lichtkegel seiner Taschenlampe strahlte in das aufgeschreckte Gesicht einer Frau, deren große blaue Augen ihm entgegenstarrten. Sie war rundlich, ihre Lippen knallrot geschminkt. Unter einem gelben Tutu mit schwarzen Punkten trug sie eine grüne Seidenstrumpfhose.

Du störst mich!, schien sie ihm zuzurufen. Wenn ich hier tanze, hat niemand Zutritt!

Der Schein seiner Taschenlampe erfasste die durchsichtigen Fäden, die sie an der Decke hielten, ihr Schatten wurde riesengroß. Im Luftstrom der offenen Tür geriet sie in leichte Bewegung. Um ihren Kopf herum schwebten ein Dutzend hölzerne Miniatur-Auslegerboote aus der Südsee mit Segeln aus getrockneten Palmenblättern. Auf einem Tisch unterhalb der Tänzerin lag Blechspielzeug in bunten Farben.

Er ließ das Licht weiterwandern und staunte. Von wegen heruntergekommener Trödelladen – das hier sah aus wie ein riesiger Gabentisch. Antikes und modernes Spielzeug war bis unter die Decke gestapelt, geschmückt mit Lametta und Christbaumkugeln. Sobald Ben etwas erkannte, tauchte dahinter sofort etwas Neues auf. Zwischen einem Feuerwehrwagen und einer aufziehbaren Wildente stand ein Minimotorrad mit Beiwagen, eine Frau mit Ledermütze saß am Lenker, ihr Schal wehte im Fahrtwind. Im Beiwagen saß ein Mann mit Zigarette im Mundwinkel, der sich von ihr chauffieren ließ. Neben afrikanischen Kleinbussen, die aus Coladosen zusammengebastelt waren, hockte ein in die Jahre gekommener Metallroboter aus den Achtzigern mit einer Fellweste über dem Leib. Dahinter stand ein antikes Hochrad, das Ben bis zur Schulter reichte. Auf dem Sattel saß eine Stoffgiraffe, deren Hals bis zur Decke reichte, sie hatte einen roten Umhang mit Strasssteinen umgeworfen. Ihre braunen Augen hatten etwas Unnahbares. Vor ihr in einem weißen Plüschsessel saß ein Typ, der sie bewundernd in den Blick nahm, mit Sonnenbrille im gegelten Haar. Auf dem Boden davor ein kniehohes Holzkarussell mit Pferden, Löwen, Adlern und Wildgänsen.

Als Ben weiterging, streifte er aus Versehen einen hölzernen Garderobenständer. Dabei fiel ihm die Taschenlampe aus der Hand und ging sofort aus. Es war stockfinster im Raum, er sah seine eigene Hand nicht mehr. Bei all den Figuren befiel ihn das Gefühl, dass hier irgendwo jemand war.

«Hallo?», rief er.

Eine Schrecksekunde lang war es totenstill, dann meinte er, die Spielzeugfiguren miteinander wispern zu hören. Schritt für Schritt tastete er sich zurück zur Eingangstür und fuhr die Wand daneben mit der flachen Hand ab. Den Lichtschalter fand er auf Hüfthöhe. Er drückte und staunte erneut. Bunte Lichterketten leuchteten die gesamte Szenerie aus, wie bei einer Strandparty irgendwo im warmen Süden. Ein Weihnachtsbaum drehte sich auf dem Podest im Kreis. Ben lächelte. Er war behängt mit bunt bemalten Papierflugzeugen, einer kleinen Strandliege, Palmen und silbernen Gabeln.

Im Nebenraum befand sich eine Werkstatt. Auf einer Bank lagen Zangen, Drähte und Pinzetten verschiedener Größe, an der Wand waren Schraubenkästen mit unzähligen Fächern angebracht. Eine Motorradlederjacke hing an einem Eisenhaken, sie war dick mit Schaffell gefüttert. An der gegenüberliegenden Wand hingen Dutzende Ansichtskarten aus aller Welt, mit bunten Nadeln an die Tapete gepinnt.

Im hinteren Zimmer des Ladens fand Ben einen hohen Stapel kleiner und größerer Pakete, laut handgeschriebenen Adressschildern sollten sie alle nach Friedrichstadt gehen. Hatte sein Onkel Hein sie zur Post bringen oder selbst ausliefern wollen? Vermutlich Letzteres.

Ben schlängelte sich an den Paketen vorbei zu einer Wand, in die ein hölzerner Alkoven eingelassen war. Links und rechts davor wachten zwei Marionetten wie vor einer Höhle. Der Zauberer auf der einen Seite hatte einen klassischen schwarzen Seidenumhang umgeworfen, auf dem Kopf trug er einen altmodischen Spitzhut. Mit seinem rot-weiß geringelten Stab schien er herbeizaubern zu können, was er wollte. Je nachdem, von welcher Seite Ben ihn betrachtete, wirkte sein Gesicht melancholisch oder fröhlich.

Die hagere junge Marionettenfrau auf der anderen Seite trug eine Metallbrille, ihr dichtes Haar war nur mühsam zu bändigen. An ihr rotes Strandkleid war ein Zettel geheftet. Für die Insel! , stand da in steiler Handschrift.

Innen war der Alkoven mit dunkelblauem Samt ausgeschlagen, an der Decke leuchteten kleine Sterne. Auf der Leinenbettdecke lag eine Seifenkiste mit Speichenrädern, sie war mit der Nummer 23 versehen und groß genug, dass ein ausgewachsener Erwachsener darin Platz fand. Auf ihrer Haube lag ein Spielzeugfeuerwehrwagen aus Blech mit ausziehbarer Leiter, daneben ein uraltes Röhrenradio.

Neben dem Alkoven hing ein weiterer Zettel, auf dem mit dickem Zimmermannsbleistift unter der Überschrift «Weihnachtsliste» eine Reihe Namen und Spielzeuge vermerkt worden war. Die meisten davon waren durchgestrichen und abgehakt.

Ben setzte sich auf die Kante des Alkovens und leuchtete mal hierhin, mal dorthin. Überall gab es etwas zu entdecken, Stofftiere, kleine Flugzeuge, irgendwelche Fantasiegebilde. Kaum zu fassen, dass das alles nun ihm gehören sollte. Es war einfach zu viel.

«Na, dann frohes Fest, Ben Stein», murmelte er.

Plötzlich merkte er, dass die lange Fahrt ihm in den Knochen steckte. Gähnend schaute er auf sein Smartphone – schon zehn Uhr abends! Wenn er in Friedrichstadt noch eine Unterkunft finden wollte, sollte er sich umgehend auf die Suche machen. Blöderweise hatte sein Handy kaum noch Akku, der Stadtplan blinkte nur einmal kurz auf, dann verabschiedete sich das Display. Das war ärgerlich, aber keine Katastrophe.

Friedrichstadt war nicht riesig, hier fand er mit Sicherheit eine Pension oder ein kleines Hotel. Er stand auf und wollte gerade losgehen – da wurde er vom Strahl eines Handscheinwerfers geblendet.

«Ich will deine Hände sehen!», brüllte eine Frauenstimme. Die klang nicht nach Spielzeugfigur!

Das Licht schmerzte ihm in den Augen, er konnte nichts mehr erkennen.

«Heh!», protestierte er.

«Die Hände!», kam es jetzt noch lauter.

Zögernd hob er die Arme. «Ich bin nicht bewaffnet!», erklärte er mit schwacher Stimme.

Kaum war er hier, wurde er ausgeraubt. Mehr Pech konnte man wohl nicht haben.