V or der Tür fuhr ihm eine eiskalte Windböe in die Knochen. Er schätzte, dass die Minustemperaturen inzwischen im zweistelligen Bereich lagen, seine Kleidung war viel zu dünn. Da fiel ihm Onkel Heins Motorradjacke ein. Er ging zurück in die Werkstatt, nahm sie vom Haken und schlüpfte hinein. Sie war zwar etwas zu groß, fühlte sich mit dem dicken Futter aber angenehm warm an. Am Kragen roch sie leicht nach Rasierwasser.
Ben schloss die Ladentür ab und schaute auf die Eisfläche der Treene, die immer noch zart vom Halbmond beschienen wurde. Die Luft war frostklar, am Himmel funkelten Tausende Sterne. Er fischte seinen Koffer aus dem Wagen und ging damit den Fluss entlang. Er musste sich ohne Plan zurechtfinden, war aber zuversichtlich. So groß war die Stadt nicht. Onkel Heins gefütterte Jacke erwies sich als gute Idee, sie wärmte ihn nach wenigen Schritten wie eine Heizung.
Erneut fiel Ben auf, wie still es hier war, außer dem Rollen seines Koffers war kein Geräusch zu hören. Alle paar Meter warf eine alte Straßenlaterne ihren Kegel auf das Kopfsteinpflaster mit dem hauchdünnen Schneebelag. Die geparkten Autos kamen ihm nach dem Besuch im Laden vor wie große Blechspielzeugmodelle – was sie letztlich ja auch waren. Dass er sich mitten in Nordfriesland in einer niederländischen Stadt befand, konnte er immer noch nicht glauben.
Er ging an einem Haus vorbei, dessen Vorderwand sich schräg nach vorne neigte, vermutlich eine Folge von Jahrhunderten rauer Witterung. Neben dem Eingang lehnte ein Fahrrad, Sattel und Schutzblech waren mit Schnee bedeckt. Dann überquerte er eine kleine Steinbrücke über einem Kanal, der sich schnurgerade durch die Stadt zog. Unter ihm zogen zwei Schlittschuhläufer mit schabendem Geräusch vorbei. Ben erkannte die Polizistin und den «Finanzminister». Sie räumten mit Holzschiebern den Pulverschnee beiseite. Als sie verschwunden waren, wagte Ben ein paar Schritte auf dem nächtlich-schwarzen Eis, was ihm ein bisschen unheimlich vorkam. Aber es hielt. Ohne zu knirschen. Das letzte Mal hatte er als kleines Kind auf zugefrorenem Gewässer gestanden.
Nach kurzer Zeit landete er auf dem Marktplatz mit den prächtigen Giebelhäusern. Die Scheinwerfer waren inzwischen ausgestellt. Wie aus dem Nichts zischten die Polizistin und der «Finanzminister» auf Schlittschuhen über die freigeräumte Gracht neben der Straße. Ihre Schals wehten hinterher.
Leider entdeckte er nirgendwo eine Pension oder ein Hotel. Er hätte die beiden fragen sollen, das fiel ihm jetzt erst ein. Sollte er einfach mit dem Wagen in die nächstgrößere Stadt fahren? Da stieß er in einer Seitenstraße auf ein kleines beleuchtetes Haus mit den gleichen dunkelblauen Sprossenfenstern. Auf der Fensterbank stand die Miniaturausgabe des Hochrades aus dem Spielzeugladen, ungefähr so groß wie ein Blumentopf. Darauf saß eine kleine Giraffe mit silbernem Umhang!
Neugierig hielt Ben auf das beleuchtete Fenster zu. Es gab keine Gardinen, drinnen war ein Raum mit einem kleinen Tresen und zwei Ledersesseln zu erkennen. Hinter dem Tresen stand eine Frau, deren rötlich blonde Haare seitlich gescheitelt waren und am anderen Ende von einer breiten silbernen Haarspange gehalten wurden. Ein paar Strähnen waren der Spange entkommen und fielen ihr in die Stirn. Sie trug eine orangefarbene Skijacke und hatte sich altmodische weiße Schlittschuhe an den Schnürsenkeln über die Schulter gehängt.
Als sie ihn am Fenster entdeckte, erschrak sie sichtlich. Es war ihm unangenehm, er wollte weitergehen, aber sie war schneller an der Eingangstür, als er verschwinden konnte.
«Ist irgendwas?», fragte sie. Ihr Alter war schwer zu schätzen, vielleicht Ende dreißig. Erst jetzt entdeckte er über dem Eingang ein Schild, das ohne Beleuchtung gerade so zu entziffern war, «Pension Blomen» stand darauf. Offenbar war er zufällig an der richtigen Adresse gelandet.
«Guten Abend, ich bräuchte ein Zimmer», sagte er.
«Tut mir leid, wir vermieten nur in der Saison.»
Er räusperte sich. «Ich brauche das Zimmer aber jetzt …»
«Es gibt da eine Erfindung, die einem bei der Suche hilft», sagte sie, «nennt sich Internet – schon mal gehört?»
Da zischte ein Hund auf Ben zu, mittelgroß, helles Fell, mit wedelndem Schwanz, eine wilde Mischung aus Husky und Collie. Er sah aus, als würde er lächeln. Ben streichelte ihm den Kopf, der Hund sprang an ihm hoch und schnüffelte an seiner Jacke.
«Fiete, zurück!», rief sie.
Was für ein Name für einen Hund, dachte er. Er entschied sich dafür, die Wahrheit zu sagen: «Genau diese Giraffe im Fenster habe ich eben in groß gesehen. Außerdem habe ich einen Brief erhalten, in dem steht, dass ich mich hier melden soll.»
Sie zuckte zusammen. «Gehört das englische Cabrio vor Onkel Heins Haus dir?», fragte sie.
«Ja! – Aber warum sagst du ‹Onkel› zu ihm?»
«So haben ihn alle in Friedrichstadt genannt, wieso?»
Ben trat einen Schritt vor. «Er ist mein Großonkel.»
Sie sah ihn an, als wäre er eine außerirdische Erscheinung. «Bist du Ben?»
«Woher kennst du meinen Namen?»
«Onkel Hein hat viel von dir erzählt.»
Ben senkte den Blick. «Dabei haben wir uns gar nicht oft gesehen.»
«Jeder in Friedrichstadt kennt Onkel Heins Ben-Geschichten.»
«Zum Beispiel?»
Sie musste nicht lange überlegen. «Wie du dich in Shanghai verlaufen hast und in einer Garküche gelandet bist. Da hast du dann mit den Köchen Königsberger Klopse auf chinesische Art gekocht, stimmt das?»
Er lachte. «Ja, allerdings.»
Er erinnerte sich, dass er diese Begebenheit Onkel Hein auf einer seiner vielen Karten aus aller Welt beschrieben hatte. Onkel Hein hatte sich sehr darüber amüsiert, er wollte daraufhin wissen, wie man Klopse mit Stäbchen isst – was tatsächlich eine echte Herausforderung gewesen war.
Die Frau öffnete mit einer einladenden Geste die Haustür, er folgte ihr hinein. Drinnen empfing ihn eine bullige Wärme. Sie setzten sich auf die beiden Sessel vor dem Rezeptionstresen, ohne dass er die Jacke auszog. Fiete wollte erneut gestreichelt werden, Ben kraulte ihn hinter den Ohren.
«Was ist dieser Laden von Onkel Hein eigentlich?», fragte Ben. «Hat er dort Spielzeug verkauft? Oder Antiquitäten? Oder ist es gar kein Geschäft, sondern eine Art Galerie?»
«Ich würde sagen, alles zusammen. Auf jeden Fall hat Onkel Heins Laden für uns Friedrichstädter eine große Bedeutung.»
«Inwiefern?»
«Das kann ich nicht in zwei Sätzen erklären. Aber die ganze Stadt wartet schon auf dich, alle wollen wissen, wie es weitergeht.»
«Womit weitergeht?»
«Zum Beispiel mit dem traditionellen Basar am vierten Advent, den Onkel Hein immer veranstaltet hat. Wir haben heute den achten Dezember, viel Zeit bleibt nicht mehr.»
Ben fühlte sich etwas überfordert. «Was erwartet ihr von mir?» Er wollte eigentlich nur schnell den Laden auflösen und dann wieder zurück nach Amsterdam.
«Für Onkel Hein war Weihnachten die wichtigste Zeit des Jahres. Er sagte immer: ‹Heiligabend macht das ganze Land Pause, damit die Menschen wieder ins Gleichgewicht kommen können.›»
Das kommentierte Ben lieber nicht, für ihn war jeder Heiligabend seit seinem zwölften Lebensjahr ein Albtraum. «Weißt du zufällig etwas über die Weihnachtsliste, die neben dem Alkoven hängt?»
«Die hat Onkel Hein jedes Jahr erstellt», sagte sie. «Jeder Friedrichstädter, jede Friedrichstädterin bekam ein Geschenk von ihm.»
«Aber ein paar Sachen stehen dort ohne Namen, zum Beispiel drei sehr besondere Marionetten.»
«Die sollen mit Sicherheit jemanden aus Friedrichstadt darstellen», sagte sie traurig. «Er hat es wohl nicht mehr geschafft, sie zu adressieren. Wer das ist, musst du herausfinden.»
«In der kurzen Zeit, ohne jemanden hier zu kennen? Wie soll das gehen?»
«Wie lange bleibst du denn?»
«Ich ziehe am ersten Weihnachtstag nach Singapur, vorher muss ich noch ein paar Tage in Amsterdam arbeiten.»
«Das wird knapp.»
«Kannst du dir die Sachen vielleicht mal ansehen?»
«Ja, gerne, morgen. Aber versprechen kann ich nichts.»
Sie führte ihn in ein Zimmer am Ende des Flurs, an dessen Wänden Fotografien einer sattgrünen Marschlandschaft unter weitem Himmel hingen. Sie öffnete eine alte Holztür, die Scharniere quietschten. «Das ist unser Lavendelzimmer.»
In dem kleinen Raum standen ein Bauernschrank und eine antike Kommode, das Bett wirkte neu, vor dem Tisch stand ein Schwingstuhl im Bauhaus-Design. An der Wand hingen Fotos, die Schilfhalme aus verschiedenen Perspektiven zeigten. Auf der Kommode stand eine Etagere mit Bonbons und Pralinen. Tatsächlich roch es hier leicht nach Lavendel, auch im Badezimmer. Ein Hauch von Sommer, fand Ben und erinnerte sich kurz an eine Klassenfahrt in die Provence, die lange zurücklag.
«Achtzig Euro die Nacht», sagte sie. «Allerdings ohne Frühstück, dafür habe ich keine Zeit.»
«Okay.»
Sie ging zum Fenster. «Warte, ich drehe die Heizung hoch, Bettzeug liegt im Schrank. Soll ich es eben beziehen?»
«Danke, nicht nötig, das mache ich schon selbst.»
Fiete rieb sich sanft die Schnauze an seinem Bein und holte sich eine weitere Streicheleinheit ab. Vor allem hatte es ihm Onkel Heins Jacke angetan, er schnüffelte die ganze Zeit daran.
«Wie heißt du eigentlich?», erkundigte sich Ben.
«Nintje.»
Er lächelte. «Wie das Kaninchen aus dem Bilderbuch?» Das war vor allem in den Niederlanden bekannt.
«Das kennst du?», fragte sie erstaunt.
«Eine Amsterdamer Kollegin hat alle Bände davon. Bedeutet der Name nicht ‹niedlich›?»
«Ach was, das sagt man nur so.»
Er grinste. «Was bedeutet es denn deiner Meinung nach?»
Sie zog die linke Augenbraue hoch. «In meinem Fall: ‹Vorsicht, mein Lieber!›»
«Also gut, Vorsicht, mein Lieber …»
Sie reichte ihm zwei Schlüssel. «Einer fürs Haus und der andere fürs Zimmer. Onkel Hein hat mir aufgetragen, mich um dich zu kümmern, wenn du hier auftauchst. Du musst eine Menge für ihn regeln.»
Das klang bedrohlich. «Was genau?»
«Besprechen wir alles morgen, ja?»
Nintje setzte sich auf den Schwingstuhl, um sich ihre Schlittschuhe anzuschnallen. Dann stakste sie zur Tür, die er ihr aufhielt.
«Viel Spaß auf dem Eis, Hals- und Beinbruch.» Er war nicht ganz sicher, ob man das noch so sagte. Die letzten Jahre hatte er in Jakarta gelebt. In Indonesien sprachen viele Menschen nicht nur Englisch, sondern auch Niederländisch, wegen der Kolonialvergangenheit. Ben hatte dort fast nur diese beiden Sprachen gesprochen und sehr selten Deutsch.
«Gute Nacht», sagte sie. «Und du weißt ja, wenn man irgendwo hinzieht, wird alles wahr, was man in der ersten Nacht träumt.»
Da hatte sie wohl etwas falsch verstanden, er wollte nicht hierherziehen, sondern höchstens eine Woche bleiben. Wenn es möglich war, noch weniger.
Fiete folgte Nintje schwanzwedelnd aus dem Zimmer. Im Flur drehten sich beide noch mal um und warfen ihm einen freundlichen Blick zu, den er mit einem kurzen Winken erwiderte. Er war mittlerweile so müde, dass er auf der Stelle einschlafen konnte. Was er wenige Minuten später auch tat.