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«K ommst du aus der Spielzeugbranche?», fragte Ben.

«Nein, wieso?» Nintje sah ihn kokett an.

«Auf das zweite Kuscheltier muss man mal kommen!»

«Das basiert ehrlich gesagt auf einem schlimmen Erlebnis.»

«Oha, ein Kindheitstrauma? Dein allerliebstes Kuscheltier war verschwunden?»

Sie schüttelte den Kopf. «Viel schlimmer: ein Langstreckenflug nach Australien. Ich saß neben einer Mutter mit zwei Kindern. Die Kleinere hat von Dubai bis Melbourne acht Stunden ohne Pause durchgeweint, weil ihre Kuschelschlange in Indien liegen geblieben war. Obwohl ich hundemüde war, konnte ich nicht eine Minute schlafen.»

«Für das zweite Känguru hast du jedenfalls einen gut bei mir.»

«Ein Kaffee würde mir jetzt schon genügen.»

Er breitete die Arme aus. «Gerne, wenn ich wüsste, wo ich hier einen finde.»

«Darf ich es dir zeigen?»

Anscheinend kannte sie sich im Laden hervorragend aus. Zusammen gingen sie in die Werkstatt. Fiete folgte mit wedelndem Schwanz. Nintje räumte vorsichtig einen Haufen Papiere beiseite und zog eine kleine Kaffeemaschine auf einem Tischchen hervor, das Ben bisher komplett übersehen hatte. Zielsicher griff sie in einen Küchenschrank und holte eine Dose mit Kaffeebohnen hervor. Die schüttete sie in eine hölzerne Handmühle, das Mahlen übernahm Ben. Nintje füllte die Maschine aus dem Wasserhahn neben der Werkbank und setzte sie in Gang.

Kurze Zeit später gingen sie mit ihren dampfenden Kaffeetassen in das Zimmer, wo die Weihnachtsliste hing. Wenn Nintje seinen Großonkel so gut gekannt hatte, wusste sie vielleicht, für wen die Geschenke im Alkoven gedacht waren.

Als Erstes drehte Ben die Heizung hoch und legte die Lederjacke auf dem Paketberg ab. Fiete stürzte sich sofort darauf und brachte sie im Maul zu ihm zurück.

«Fiete!», rief Nintje.

Der Hund sah sie einen Moment entschuldigend an, ließ die Jacke fallen und legte sich auf dem Schaffellfutter ab. Ben räumte einige Blechspielzeuge von der Sitzfläche eines Stuhls, damit sie sich setzen konnte.

«Welche Schuhgröße hast du?», fragte Nintje und deutete auf ein Paar schwarze Herrenschlittschuhe unter dem Stuhl.

«44.»

«Dann könnten die passen.»

Ben zog den rechten Schuh aus und probierte den Schlittschuh an.

«Perfekt!»

Vielleicht hatte er irgendwann Zeit, eine Runde auf dem Eis zu drehen.

Sie setzten sich mit den Kaffeepötten gegenüber.

«Kannst du mir erklären, wie all das hier entstanden ist?», fragte er. «Wie gesagt, ich hatte ein Möbelgeschäft erwartet, aber nicht das!»

Nintje lächelte. «Anfangs war es tatsächlich ein Geschäft für Antiquitäten. Dann kaufte Onkel Hein in der ganzen Welt Dinge dazu, meist von Freundinnen und Freunden, die er in seiner Zeit als Seefahrer kennengelernt hatte. Bald hat er dann vieles selbst gebaut.»

«Verstehe.»

«Nach und nach entstand hier sein eigenes Universum. Es schien Hein weniger um den Verkauf zu gehen als darum, die weite Welt zu sich nach Hause zu holen.»

«Und wovon hat er gelebt?» Ben nahm einen Schluck von dem Kaffee, der köstlich schmeckte.

«Er hat ja durchaus Dinge verkauft, die Leute wussten das Besondere bei ihm zu schätzen. Das Spannende war immer, dass bei ihm nie klar war, wovon er sich trennen und was er behalten wollte.»

«Hat das niemanden vergrätzt?»

«Nein, er hat immer tolle Alternativen geboten. Und wenn er etwas verkauft hat, wurde es schnell durch etwas Neues ersetzt. So hat sich die Welt hier drinnen ständig verändert.»

Ben hörte fasziniert zu, es war nicht gerade das klassische Verkaufsmodell, klang aber spannend. «Dann kamen viele Leute immer mal wieder vorbei, um zu sehen, was sich in der Zwischenzeit getan hatte?»

«So ist es. Und kaum jemand schaffte es ohne ein Spielzeug aus dem Laden. Es war einfach unwiderstehlich.»

Ben schaute auf die Giraffe auf dem Hochrad. Das konnte er sich lebhaft vorstellen.

«Höhepunkt des Jahres für Friedrichstadt und Umgebung ist der vierte Advent», fuhr Nintje fort. «Da hat Onkel Hein alles so teuer wie möglich verkauft.»

«Wieso das?»

«Mit dem Erlös hat er ein Internat für Waisenkinder in Südafrika unterstützt. An diesem Tag platzte sein Laden aus allen Nähten. Alle Friedrichstädter kauften dann hier ihre Weihnachtsgeschenke und taten damit gleichzeitig etwas Gutes.»

«Und hinterher war der Laden wie leer gefegt?»

Sie nickte. «Nicht ganz, aber er sah ziemlich gerupft aus. Im Januar und Februar hat Onkel Hein den Laden dann wieder mit neuen Ideen aufgefüllt. Es war immer alles in Bewegung.»

Ben bereute immer mehr, dass er seinen Onkel nie richtig kennengelernt hatte.

«Was ist mit den Paketen?» Er deutete auf den Stapel in der Ecke des Raumes.

Nintje lächelte. «Zu Weihnachten hat er alle beschenkt, die er in Friedrichstadt kannte – und das waren viele! Jede und jeder bekam etwas als Anregung für das eigene Leben.»

«Wie soll ich das verstehen?»

«Er verschenkte Mutmacher an die Verzagten, Besinnliches an die Forschen.»

«Fanden die Leute das nicht seltsam? Spielzeug wird doch sonst eher an Kinder verschenkt.»

«Die Kinder bekamen natürlich auch etwas. Aber Onkel Hein war in Friedrichstadt so was wie ein Kümmerer, die Seele der Stadt, wenn du so willst. Seine Mutmacher kannst du dir auf den Kamin oder auf eine Kommode stellen, sie bauen dich jeden Tag auf.»

Ben trat zur Weihnachtsliste und las laut vor: «Seifenkiste, Zauberer, Tänzerin, Matheversteckerin, Angstlöscher – das klingt rätselhaft. Wer soll das bekommen? Und hast du eine Idee, wen die Marionetten darstellen sollen?» Er nahm den Zauberer in die Hand und reichte Nintje die Tänzerin.

Sie gingen gemeinsam ein paar Schritte durch den Raum.

«Moin, Zauberer», begrüßte Nintje ihn.

«Moin, Tänzerin», erwiderte er. «Woher kommst du?»

«Vielleicht Paris – oder Husum?», antwortete sie. «Und du? Verzauberst du mich bitte? Ich würde so gerne mal jemand anderes sein.»

«Kein Problem, in was denn?»

Sie sahen sich in die Augen und hielten den Blick ein paar Sekunden. Ben wurde ganz anders. Schnell schaute er nach unten auf seine Marionette. Bevor es brisanter wurde, brachen sie ihr Spiel ab. Und er erfuhr nicht, wer sie gerne sein wollte. Obwohl ihn das interessiert hätte.

«Die Marionetten sehen leider niemandem ähnlich, den ich in Friedrichstadt kenne», meinte Nintje.

«Vielleicht geht es weniger um Aussehen als um Charakter?»

«Möglich.» Sie sah genauso ratlos aus wie er.

«Bleibt die Seifenkiste.»

«Lass mal sehen.» Nintje schaute sich das Gefährt genau an. «Bingo!», rief sie und strahlte. «Wohin die soll, kannst du herausbekommen.» Sie zeigte auf den vorderen Teil der Haube. «Hier ist sonst ein Emblem mit der Automarke.»

«Ja, und?»

«Siehst du den kleinen Schwan?»

Jetzt entdeckte Ben ihn auch, er war fingernagelgroß. «Scheint ein Schwanen-Cabrio zu sein.»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich denke, das ist eine Hausmarke.»

«Was ist das?»

«Die Hausmarken in Friedrichstadt stammen aus der Zeit, als es hier noch keine Hausnummern gab. Alle Häuser hatten ein Symbol über der Tür, damit man sie fand.»

«Und was waren das so für Symbole?»

«Alles Mögliche: ein Tier, die Sonne, ein Boot oder sonst was. Es musste immer zu den Bewohnerinnen und Bewohnern passen. Bis heute sieht man sie über jeder Tür.»

«Wie die beiden Luftballons über Onkel Heins Ladentür, die zum Himmel fliegen?»

«Genau.»

«Und wo finde ich in den Schwan?»

«Ich habe nicht alle Hausmarken im Kopf», sagte Nintje. «So klein ist Friedrichstadt auch wieder nicht.»

Ben nickte. «Ich werde ihn finden – und wenn ich dafür alle Häuser abklappern muss.»

Sie schlenderten mit ihren Kaffeepötten nach vorne in den Laden.

«Eigentlich mag ich das alles gar nicht weggeben», seufzte Ben. «Es gehört ja hierhin! Aber was soll ich tun?»

«Tja, in deiner Haut möchte ich nicht stecken.»

«Ich gebe mein Bestes.»

Die Frage war nur, ob das ausreichte.

«Du, ich muss noch etwas anderes mit dir klären», sagte Nintje leise.

«Ja?»

Sie druckste herum.

«Sag schon.»

«Also, Onkel Hein wollte, dass ich die Ansprache auf seiner Abschiedsfeier halte.»

Ben erschrak, blieb aber nach außen hin gelassen. «Dann muss er dir sehr vertraut haben.»

Sie räusperte sich. «Wir haben die Rede zusammen verfasst.»

«Ernsthaft?»

«Es gab sogar eine gemeinsame Probe.»

«Du hast seine eigene Trauerrede vor ihm persönlich gehalten?»

«Ja.»

«War das nicht seltsam?»

Sie überlegte kurz. «Die meiste Sorge hatte er vor zu viel Lob, das wollte er gestrichen haben.»

Ben grinste. «Und wie seid ihr verblieben?»

Sie lächelte auch und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. «Ich habe ihm angekündigt, dass ich das Lob später wieder einfügen würde. Ohne dass er etwas dagegen machen könne.»

«Was hat er dazu gesagt?»

«Er hat gelacht.»

«Ich weiß noch nicht mal, woran er gestorben ist», sagte Ben.

Sie verschränkte die Arme. «Über seine Krankheit wollte er nicht reden. Er meinte, dafür seien allein seine Ärzte zuständig.» Sie biss sich sanft auf die Lippe. «Ich musste ihm versprechen, darüber zu schweigen.»

«Was ist daran denn ein Geheimnis?»

Sie nahm einen großen Schluck Kaffee. «Bitte, Ben, ich möchte seinen Willen respektieren.»

«Immerhin bin ich sein Großneffe!»

«Er wollte unbedingt, dass du hier alles für ihn regelst. Wenn es dir irgendwie möglich ist, organisiere den Basar, bitte! Ich schwöre dir, Onkel Hein macht Luftsprünge im Himmel, wenn du das hinkriegst.»

Ben sah sie ratlos an. «Wie soll ich das alles in ein paar Tagen schaffen? Haus auflösen, Ware verkaufen, Basar organisieren, Papierkram regeln?»

«Ich helfe dir, wo ich kann.»

Er fühlte sich unter Druck gesetzt. Er war auch für die vierzig Bagger in Indonesien verantwortlich, da hingen Arbeitsplätze dran, Menschen in Singapur und Indonesien mussten ihre Familien ernähren. Andererseits konnte Onkel Hein nichts für die Bagger. Ben musste es irgendwie schaffen, seine Zeit in Friedrichstadt zu verlängern. Die verbleibenden Arbeitstage in Amsterdam würde er mit ein paar Nachtschichten nachholen, das war das geringste Problem.

«Okay, ich kriege das hin.»

Dann sagte Nintje etwas, das ihn erschütterte: «Aber du hast ja noch nicht mal die Trauergäste eingeladen.»

Hatte er richtig gehört? «Willst du damit sagen, Onkel Hein ist noch nicht beerdigt?»

«Das sollst du übernehmen, meinte er.»

«Wieso ausgerechnet ich?»

«Er wollte wieder Anschluss an seine Großfamilie bekommen, das war ihm wichtig. Du seist genau der Richtige dafür, sagte er.»

«Ich kannte ihn aber am allerwenigsten», stöhnte Ben.

«Möchtest du die Urne mit seiner Asche sehen?»

Er schluckte. «Hmm.»

«Ich weiß nicht, wie ich es dir beibringen soll», sagte sie.

«Was?»

«Nun ja, Onkel Hein hatte von vielen Dingen ganz eigene Vorstellungen.»

«Und weiter?»

«Für ihn war sein Ableben nur ein Wechsel von einer Form in eine andere.»

«Worauf willst du hinaus, Nintje?» Er ahnte nichts Gutes.

Sie hielt den Blick auf ihre Tasse gerichtet. «Offiziell steht die Urne mit Onkel Heins Asche bei Maike Sönnichsen im Bestattungsinstitut. Anders ist das in Deutschland nicht erlaubt.»

«Und in Wirklichkeit?»

«Bitte, Ben, du darfst mir nicht böse sein, es war nicht meine Idee. Obwohl ich sie wirklich gut finde.»

Nintje ging zu der Giraffe auf dem Hochrad. In einem Regal dahinter, ganz oben, knapp unter der Decke, gab es ein kleines Podest, das aus bunten Lego-Steinen zusammengesetzt war. Es erinnerte vage an einen Tempel im ägyptischen Luxor. Darauf standen drei bunte runde Behälter. Auf dem mittleren entdeckte Ben zwei Luftballons, die zum Himmel flogen – Onkel Heins Hausmarke! Konnte wirklich wahr sein, was ihm gerade durch den Kopf ging?

«Onkel Hein hat sich gewünscht, dass er noch eine Zeit lang im Laden bleiben darf», murmelte Nintje.

«Das ist die Urne mit seiner Asche?», fragte Ben entgeistert

Nintje nickte. Ben setzte sich auf einen Stuhl. Wie benommen starrte er auf das bunte Gefäß. Es zeigte neben den Luftballons eine Windrose mit den vier Himmelsrichtungen. Rechts davon stand ein Karton mit einer fröhlichen Maske davor, die die Zunge rausstreckte, links einer mit finsterer Fratze, die wohl böse Geister vertreiben sollte.

«Die beiden Masken neben seiner Urne hat er selbst dort aufgestellt», erklärte Nintje. «Ich war dabei.»

«Wer hat die Urne hierhergebracht?»

«Ich.»

«So?» Er holte tief Luft. «Dann möchte ich, dass du sie einpackst und wieder mitnimmst.»

«Nein.» Nintje sah auf ihre Uhr. «Das ist jetzt deine Sache.»

«Das ist jetzt mein Laden!»

Ben war richtig sauer.

«Ganz genau! Und es ist dein Onkel, nicht meiner.»

«Wie soll ich den Laden verkaufen, solange Onkel Hein hier im Regal steht?»

Sie zuckte die Achseln.

Prompt war der Tinnitus-Dauerton wieder in seinem Ohr.