A ls Ben am nächsten Morgen den Spielzeugladen betrat, warf er einen Blick hoch zur bunten Urne mit den Luftballons und der Windrose, dann grüßte er mit vernehmlicher Stimme: «Moin, Onkel Hein!» Er legte die Lederjacke ab, die immer noch angenehm nach Rasierwasser roch.
Er nahm eine kleine hölzerne Parkgarage von einer Kommode und legte sie auf den Tisch mit der lilafarbenen Samtdecke. Er fotografierte sie mit dem Handy von allen Seiten. Dann schaute er sich weiter um. Es blieb dabei, sobald er ein Spielzeug herauszog, entdeckte er dahinter drei weitere, so ging es in einem fort.
Zwischendurch schaute er immer wieder auf dem Handy nach, was im Internet an Preisen für ähnliches Spielzeug aufgerufen wurde. Dabei zerbrach er sich den Kopf über den Weihnachtsbasar. Alle Friedrichstädterinnen und Friedrichstädter, mit denen er geredet hatte, beteuerten, dass er einen der Höhepunkte in dieser Stadt darstellte, fast gleichzusetzen mit Heiligabend. Ben war ja nun wirklich kein Weihnachtsfan, aber er wollte nur ungern mit Onkel Heins Tradition brechen.
Und mit der Weihnachtsliste war auch noch so vieles ungeklärt. Vielleicht sollte er das als Erstes angehen. Wer würde sich über diese Seifenkiste ganz besonders freuen? Ein Kind? Oder war sie für jemanden eine Erinnerung oder ein Deko-Objekt? Letzteres glaubte er weniger, die Seifenkiste war solide gebaut, gut geölt und fahrbereit. Mit Nintjes Hinweis auf den Schwan als Hausmarke konnte er es herausbekommen.
Kurz entschlossen schnappte er sich die Lederjacke und verließ das Haus. Den Stadtplan von Friedrichstadt hatte er auf dem Handy genau studiert. Er würde von Haus zu Haus gehen und dabei die Marken genau im Blick haben.
So wanderte er an Enten, einem Segelboot, einem Stör, zwei Fasanen, einer Mühle, einem Schmetterling und einem sich aufbäumenden Hengst vorbei. Aber den Schwan suchte Ben vergebens. Bis in der Osterlilienstraße plötzlich ein Polizeiwagen neben ihm anhielt und das Blaulicht einschaltete. Esther öffnete grinsend die Beifahrertür.
«Komm rein», fordert sie ihn auf.
Er setzte sich neben sie, und sie umarmten sich über die Mittelkonsole hinweg.
«Werde ich jetzt doch noch verhaftet?»
«Gäbe es denn einen Grund?», fragte sie kokett.
«Ohne meinen Anwalt sage ich nichts.»
Sie nickte. «Der wird dir nichts nützen, die Polizei in Friedrichstadt bekommt alles heraus.»
«Schade.»
Dann wurde sie ernst. «Ich habe unseren Postbüddel Kalle angemorst. Der meinte, dein Schwan müsste an einem Haus im Inselweg zu finden sein.»
«Super! Wo ist das?»
«Ich fahre dich eben hin.»
«Ich bin noch nie in einem Polizeiwagen gefahren», stellte er fest.
«So lange du vorne sitzen darfst, besteht keine Gefahr.»
Kurze Zeit später hielt sie an.
«Kalle meinte, es müsste hinter der Hebammenbrücke gleich rechts sein.»
«Wieso heißt sie Hebammenbrücke?»
«Vor hundert Jahren lag hinter dem Ostersielzug das Armeleuteviertel. Die Familien dort hatten im Durchschnitt zwölf Kinder, da mussten Hebammen oft zu Geburten ins Haus kommen. Der Graben war immer ein Hindernis, also hat man als Abkürzung die Brücke gebaut, damit es schneller ging.»
«Ich schätze, die Seifenkiste ist für eine Familie mit Kind, das liegt nahe, oder?»
«Würde ich auch sagen. Obwohl, ausprobieren würde ich sie auch mal gerne.»
Ben lächelte. «Danke, Esther, du hast mir sehr weitergeholfen.»
«Gerne.»
Ben ging über die schmale Fußgängerbrücke. Ein zugefrorener Kanal führte an kleinen rot geklinkerten Häusern vorbei, in den Gärten lagen Boote und Kanus. Aus dem Armeleuteviertel war eine pittoreske Straße geworden, an fast allen Hauswänden rankten Rosensträucher. Die Häuser standen dicht an dicht. Kaum zu glauben, dass die Leute früher auf engstem Raum gewohnt hatten.
Er lenkte den Blick auf die Hausmarken. Erst kam ein Fuchs, daneben entdeckte er einen prächtigen Emailleschwan – endlich! Er trat näher. Laut Klingelschild wohnte hier eine Lina Palmberger. Schöner Name, dachte er.
Er drückte die Klingel und löste damit einen lauten Glockenton aus. Wer würde ihn wohl erwarten? Eine junge Person, oder war sie älter, und ihre Enkel würden mit der Seifenkiste fahren? Nichts passierte.
Gerade als er ein zweites Mal klingeln wollte, öffnete eine grauhaarige Frau mit Kurzhaarschnitt den oberen Teil der Klönschnacktür. Sie trug eine riesige Brille mit schwarzem Gestell und dicken Gläsern, ihre blauen Augen blickten ihn wach an.
«Moin, Ben», grüßte sie und lächelte. «Da bist du ja.»
Die Klappe wurde wieder geschlossen und die Tür ganz geöffnet. Die alte Dame stützte sich auf einen Rollator. Ben war perplex, er hatte die Frau noch nie gesehen.
«Moin, ich bin …», stammelte er.
«Der Großneffe von Onkel Hein, ich weiß. Ich bin Lina. Hein hat mir angekündigt, dass du bei mir auftauchen wirst.»
Diese alte Dame bekam die Seifenkiste? In ihrem Alter war das wohl reine Dekoration. Wieso hatte Onkel Hein sie dann aber fahrbereit gebaut und bestens geölt? Mussten doch die Enkel sein.
«Ich habe ein Weihnachtsgeschenk von Onkel Hein für Sie.»
Sie verzog das Gesicht. «Wir können uns gerne duzen, passt das?»
«Natürlich.»
«Ich bin sogar um ein paar Ecken mit dir verwandt. Genauer gesagt bin ich eine angeheiratete Cousine von deinem Großonkel.»
Das klang weit weg, aber näher dran als die meisten anderen Menschen.
«Komm rein.»
Er folgte Lina über einen schmalen Flur ins Wohnzimmer. Dort standen bestimmt ein halbes Dutzend Adventskränze mit brennenden roten Kerzen, auf dem Couchtisch, der Kommode, dem Esstisch, der Fensterbank, sogar auf dem Fußboden. An der Deckenlampe hingen Papierengel. Es war wunderbar unaufgeräumt, überall lagen Bücherstapel herum, das gefiel Ben.
«Du bist also der Schwan!», sagte er.
«Ja.»
«Und der Schwan versteht sich mit dem Fuchs nebenan?»
«Wir sind beste Freunde.» Sie schaute ihn betrübt an. «Probleme macht nur das Segelboot eine Tür weiter. Da sitzt eine Oberzicke am Ruder.»
«Sei froh, dass dein schönes altes Haus noch intakt ist. In Friedrichstadt sind ja einige Gebäude mit der Zeit ganz schön schief geworden. Da hätte ich Angst, dass sie zusammenkrachen.»
«Du irrst, die sind extra schief gebaut.»
«Nicht im Ernst.»
«Oben im Giebel war eine Winde, mit der die Waren hoch in die Lagerräume gezogen wurden. Damit die Säcke nicht dagegenschlugen, hat man die Wand schräg nach vorne verlagert.»
Eine verblüffend simple Konstruktion, darauf wäre er nicht gekommen. Er setzte sich auf ein dunkelgrünes Sofa. Auf dem Tisch davor standen friesisches Geschirr und eine Kanne mit Stövchen.
«Möchtest du einen Tee?», fragte sie.
«Gerne.»
Sie holte aus einem alten Schrank eine zweite Porzellantasse, durch die man fast durchsehen konnte, und goss ihm ein.
«Milch? Kluntjes?»
«Gerne beides.»
Nachdem sie eingeschenkt hatte, blickte sie zu Boden. «Traurig, das mit Hein.»
«Ja.»
«Aber wie schön, dass du in seine Fußstapfen trittst, Ben!»
Sie ging wie anscheinend alle davon aus, dass er den Spielzeugladen übernahm. Er schwieg dazu lieber, Lina musste nicht wissen, dass er schon in ein paar Tagen nach Singapur ziehen würde.
«Ich bereue es, dass Onkel Hein und ich uns kaum je gesehen haben.»
«Ich weiß von ihm aber, dass er immer Anteil an deinem Leben genommen hat.»
Ben blieb skeptisch. «Kann ich mir nicht vorstellen.»
«Doch, über seinen Bruder Falk war Heinrich immer auf dem neusten Stand, was dein Leben anbelangt.»
«Hmm.»
Warum hatte sich Onkel Hein für ihn interessiert? Als Sohnersatz? Wäre er dann nicht häufiger bei ihm aufgetaucht?
«Wann übernimmst du denn sein Geschäft? Vor Weihnachten wäre es günstig, schon wegen des Basars.»
Was für eine absurde Idee!, dachte Ben. Aber es war ja nett von ihr gemeint.
«Ich steige im Laden noch nicht ganz durch», sagte er, und das stimmte sogar.
Lina legte ihre knöcherne Hand auf seine. «Egal, was dabei herauskommt, den Basar am vierten Advent musst du machen! Versprich das bitte. Die Waisenkinder brauchen das Geld.»
Er hob abwehrend die Arme. «Ich würde gerne alles so zu Ende bringen, wie es Onkel Hein gewollt hat. Aber ich bin noch ganz am Anfang. Da stehen zum Beispiel eine Menge Pakete rum, die er Weihnachten ausliefern wollte.»
Lina nickte betrübt. «Er wollte zu Weihnachten immer vielen Menschen eine Freude machen. Dabei wäre er Neujahr aus Friedrichstadt weggezogen …»
«Das höre ich zum ersten Mal! Wo wollte er denn hin?»
Sie zuckte mit den Achseln. «Hat er niemandem verraten.»
«Er hat eine Liste mit Geschenken erstellt, aber bei einigen die Adressaten offengelassen. An deinem Geschenk klebte zum Glück deine Hausmarke.»
«Jetzt machst du mich aber doch neugierig, kann ich es sehen?»
Sie sprang mit einer Geschwindigkeit auf, die er der alten Dame nicht zugetraut hätte.
«Moment», rief er. «Du bekommst es Heiligabend, wie es sich gehört.»
Lina setzte sich wieder und nahm einen großen Schluck Tee. «Was ist es denn?», fragte sie beiläufig. Sie war keine besonders gute Schauspielerin, er merkte deutlich, wie brennend es sie interessierte.
«Eine Überraschung», antwortete er grinsend.
Sie breitete die Arme aus. «Ungefähr so groß?»
«Wie gesagt …»
Sie zeigte einen Spalt zwischen Daumen und Zeigefinger. «Oder so klein?»
Er gab nicht nach. «Bescherung ist Heiligabend.»
Laut Plan befand er sich da längst auf dem Sprung nach Singapur, wie schade. Er musste trotzdem dafür sorgen, dass die Pakete rechtzeitig zum Fest zugestellt wurden.
«Das darfst du einer alten Frau nicht antun», beschwerte sie sich.
«So sind nun mal die Weihnachtsgesetze.»
«Wo stehen die geschrieben? Die gibt es in Wirklichkeit gar nicht!»
Sein Blick fiel auf ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto an der Wand, darauf war eine junge Frau mit einer Lederkappe zu sehen, wie sie Rennfahrer früher getragen haben. Sie stand strahlend auf dem höchsten Podest, neben ihr zwei Männer, die verhalten lächelten.
«Wer ist das?», fragte er neugierig.
«Ich.» Lina reckte den Hals.
«Du warst Rennfahrerin?»
«Ja, schnelle Kisten fand ich toll. Außerdem hat es mir Spaß gemacht, es den Männern richtig zu zeigen.»
«Was für Autos bist du gefahren?»
«Nichts unter dreihundert PS .»
«Wow.»
«Klingt aus heutiger Sicht ziemlich unvernünftig – und war es damals auch schon.»
Ben nickte. «Ich kann dir verraten, dass dein Geschenk von Onkel Hein damit zu tun hat.»
Lina überlegte kurz, dann strahlten ihre Augen.
«Kinder, ihr seid verrückt!», rief sie. «Das könnt ihr nicht machen, ich werde wahnsinnig!»
Wie war sie so schnell auf die Seifenkiste gekommen?
«Mein geliebter 911er!», jubelte sie.
Dachte sie wirklich, Onkel Hein schenkte ihr einen echten Porsche?
«Hein und ich haben Jahrzehnte über den Elfer gefachsimpelt, ein Meisterwerk der Technik, nicht zu übertreffen! Wir sind sogar mal zusammen nach Zuffenhausen gefahren und haben uns die Fabrik angesehen.»
«Hattest du denn mal einen Elfer?», fragte er ungläubig.
«Dazu fehlte mir leider das nötige Kleingeld. Einmal habe ich einen übers Wochenende gemietet, allein das hat ein Vermögen gekostet.»
«Wohin bist du damit gefahren?»
«Von Friedrichstadt nach München und dann über den Ruhrpott zurück. Ich wollte nur fahren, fahren, fahren, Schlaf war überflüssig.»
Sie suchte seinen Blick.
«Ich weiß, heute sieht man so etwas anders. Aber Spaß gemacht hat es. Und kurz vor dem Ende bekomme ich nun wirklich einen vor die Tür gestellt?»
Ben wusste nicht, was er sagen sollte. «Vor Weihnachten verrate ich gar nichts.»
«Spielverderber!»
«Wie gesagt …»
Spontan überlegte er, ob er tatsächlich einen Porsche für Lina mieten sollte. Aber darum ging es gar nicht. Sie würde sich über die Seifenkiste genauso freuen. Bestimmt war sie als Mädchen in solchen Kisten die Deiche runtergerast, und es war der Beginn ihrer Autoleidenschaft gewesen. Sie würde sich die Seifenkiste in die Wohnung stellen und sich jedes Mal, wenn sie sie sah, an ihre besten Zeiten und an Onkel Hein erinnern. Schade nur, dass er das nicht mehr mitbekommen würde.
Kurze Zeit später schlenderte er zurück über die Hebammenbrücke.
Er schloss die Tür zum Spielzeugladen auf. Als Reedereikaufmann war er es gewohnt, zielorientiert und just in time zu arbeiten. Aber im Spielzeugladen verzettelte er sich sofort. Bis Heiligabend waren es nur noch zwölf Tage, er musste schneller vorankommen.
Gut, dass der Banker morgen kam und mit ihm über die Konditionen des Verkaufs redete, das würde ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Von Träumen allein konnte niemand leben.