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B en fühlte sich wie in einem Schnellzug, der dem 24. Dezember mit zunehmendem Tempo entgegenraste. Sein Kollege John Cussick hatte ihn wegen des Cabrios angerufen, er wollte damit noch vor Weihnachten zu seiner Familie nach Manchester fahren. Ben war das äußerst unangenehm, denn normalerweise hielt er sich an Verabredungen. Er hatte John sein Dilemma in Friedrichstadt geschildert und ihm vorgeschlagen, ihm ein Jaguar-Cabrio zu mieten, falls er es nicht rechtzeitig zurückschaffte. Doch das war komplizierter, als es auf den ersten Blick erschien. Finde mal einer im Dezember ein Cabrio! Als kleine Entschuldigung hatte Ben John einen kniehohen James-Bond-Aston-Martin aus Blech geschickt, worüber der sich sehr gefreut hatte. Aber nach Manchester kam er damit natürlich auch nicht.

In der Reederei hatte Ben vier Tage mehr Abwesenheit rausgeschlagen, um von Friedrichstadt aus ein paar Dinge regeln zu können. Dreißig Sattelschlepper für den Transport der Bagger hatte er in Indonesien schon zusammenbekommen. Vor allem musste er endlich entscheiden, was mit Onkel Heins Haus und den Spielzeugen passieren sollte. Davor drückte er sich, wo er konnte.

Also begann er, Fakten zu schaffen. Die verbliebenen Lego-Steine würde er den drei freundlichen Männern auf die Philippinen schicken – bevor sie Beucker in die Hände fielen. Als er vor der Seifenkiste stand, musste er Lina recht geben: In ihrem Fall war es wirklich nicht nötig, mit der Bescherung bis Heiligabend zu warten. Er rief sie an, um seinen Besuch anzukündigen.

 

Der Weg zu ihr war zwar nicht weit, aber die Seifenkiste zu schieben, erschien ihm zu anstrengend. Deswegen holte er seinen Wagen von der Pension, öffnete das Verdeck und schnallte die Seifenkiste mit einem Transportband auf den Kofferraum. Die Enden verknotete er mit den Nackenstützen. Es sah abenteuerlich aus, aber er wollte damit ja nicht durch ganz Europa fahren. Blieb nur zu hoffen, dass Esther mit ihrem Streifenwagen heute woanders unterwegs war – oder ein Auge zudrücken würde.

Lina wartete bereits an ihrer Klönschnacktür unter dem Schwan. Das Auto hatte Ben etwas weiter weg geparkt.

«Moin, Ben», rief sie fröhlich.

«Moin.»

Sie schloss die obere Tür, er hörte, wie sie von innen mit einem Schieber verschlossen wurde, dann klapperten Schlüssel, und die ganze Tür öffnete sich. Lina trug fast dieselbe Lederjacke wie er, dazu eine hellbraune Ledermütze mit Ohrenklappen. Um den Hals trug sie einen weißen Schal. Er bemerkte, dass sie etwas unsicher auf den Beinen war, sie benutzte heute weder Rollator noch Gehstützen.

«Wo ist denn nun mein Geschenk?», fragte sie.

«Auf der anderen Seite der Brücke.»

«Pardon, bei mir dauert das Laufen ein bisschen, ich bitte also um Geduld. Aber schon bald sitzen wir in deinem MX -5.»

Er musste lachen. «Du weißt, was für einen Wagen ich fahre?»

«Ich stehe doch nicht umsonst den ganzen Tag an der Klönschnacktür. Es ist ein Rechtslenker mit englischem Kennzeichen, das erste Mazda-MX -5-Modell.»

«Genau.» Er konnte nur staunen.

Sie reichte ihm ebenfalls eine Ledermütze. «Wenn wir im Winter offen fahren, brauchst du was auf dem Kopf. Hier, die stammt von meinem Ex.»

Er fragte nicht weiter nach und setzte sie auf. An seinem Arm bog sie mit ihm um die Ecke. Als sie das offene Cabrio mit der Seifenkiste sah, die er quer über dem Kofferraum befestigt hatte, blieb sie stehen. Begeistert klatschte sie in die Hände.

«Eine Seifenkiste», juchzte sie. «Ein Traum! Als junges Mädchen bekam ich nicht genug davon.»

Plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen.

«Was ist?», fragte er leise.

«Mein guter alter Freund Hein … Er wusste genau, wie sehr ich mich freuen würde.»

«Wie schön.»

Dann fing sie sich wieder. «Aber was ist schon eine Seifenkiste auf einem Auto, mein lieber Ben?»

«Keine Ahnung – was meinst du?»

«Das ist wie ein Fisch ohne Wasser.»

Er lachte. «Will sagen?»

Sie klopfte ihm mit ihrer zarten Faust energisch auf die Brust. «Eine Seifenkiste will bewegt werden!»

«Und wo ist die beste Stelle dafür?»

«Ich zeige sie dir.»

Sie ging zur Beifahrertür.

«Der Wagen ist klein und eng», warnte er. «Und wir müssen leider offen fahren, sonst bekomme ich die Seifenkiste mit dem kleinen Cabrio nicht mit.»

«Wieso leider?»

«Na ja, es ist unter null Grad.»

«Als ich fahren lernte, gab es in den Autos noch gar keine Heizungen. Für mich ist das überflüssiger Tüdelkram. Man kann sich doch warm anziehen, oder etwa nicht?»

Er hielt ihr die Beifahrertür auf und bot ihr beim Einsteigen seine Hilfe an, doch die wies sie zurück. Sie drehte sich einfach zur Seite und ließ sich auf den Sitz fallen. Ben setzte sich ans Steuer.

Lina fummelte eine getönte Motorradbrille aus ihrer Manteltasche und setzte sie auf.

Er blinzelte in den grauen Himmel. «Wirst du so stark geblendet?», fragte er sie amüsiert.

«In einem Cabrio trägt man bei jedem Wetter eine Sonnenbrille», belehrte sie ihn. «Und in geschlossenen Ortschaften dreht man die Musik auf – oder hat sich das heutzutage etwa geändert?»

«Nein.»

Er drehte das Radio auf volle Lautstärke. Aus den Lautsprechern kam Rap. Er vermutete, das war nicht ganz ihre Musik, aber sie verzog keine Miene. Bei dem strengen Frost war er froh, dass er Onkel Heins Motorradjacke hatte. Zusätzlich hatte er die Heizung auf volle Stufe gestellt, bei vollem Gebläse, versteht sich.

Auf ihrem Weg durch Friedrichstadt grüßte Lina ein paar Bekannte mit Kopfnicken.

«Wie wunderbar», rief sie. «Die Leute glauben jetzt, dass ich einen jungen Lover habe!»

«Schlimm?»

«Im Gegenteil. Ich werde ihnen erzählen, dass sie sich keine Sorgen machen sollen, weil du ohnehin nur ein One-Night-Stand bist.»

Ben verriss vor Lachen fast das Lenkrad.

«Hast du denn wen am Start?», fragte er sie. Bei keiner über Achtzigjährigen sonst würde er sich trauen, eine derartig indiskrete Frage zu stellen.

«Ist gerade vorbei», seufzte sie.

«Dann schau dich weiter um!»

Sie winkte ab. «Mache ich sowieso, ab achtzig wird es im Internet wieder einfach.»

«Wieso?»

«Da sind die meisten schon weg. Und die, die noch da sind, wollen keine Zeit verlieren und machen keine Spielchen.»

So wollte er auch mal alt werden.

 

Über eine schmale Landstraße fuhren sie zur Eidermündung. Die Sonne stand plötzlich als riesiger gelbroter Ball über dem Meer. Die Flut lief auf. Sie hielten vor einer Treppe zum Seedeich, und er stieg aus. Er löste die Gurte von der Seifenkiste und trug das Gefährt auf die Deichkrone. Schritt für Schritt führte er Lina hinauf. Sie hatten alle Zeit der Welt.

«Mit solchen Dingern sind meine Schwester und ich als kleine Mädchen den Deich runtergezischt», schwärmte sie.

Ben musste ihr irgendwie klarmachen, dass jetzt natürlich er an ihrer Stelle runterfahren würde.

«Nein, ich fahre», sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

«Ernsthaft?»

«Auf hundert Meter Hürdenlauf gewinne ich keine Goldmedaille mehr. Aber Fahren verlerne ich nie.»

Musste er sich Sorgen machen?

Sie kniff die Augen zusammen. «Gibt es irgendwo auf dieser Welt etwas Schönes ohne Risiko?»

Die Seifenkiste war noch niedriger als das Cabrio, aber Lina lehnte seine Hilfe beim Einstieg auch hier strikt ab. Ben war immer noch nicht sicher, ob es richtig war, ihr die Seifenkiste zu überlassen.

Zu spät.

Er gab ihr Anschwung, dann rollten die ungefederten Räder mit erstaunlicher Geschwindigkeit über die hart gefrorene Grasnarbe den Deich hinab. Er schaltete die Kamera seines Handys ein und lief hinterher. Lina lachte begeistert.

Hoffentlich schoss sie nicht über die Grasnarbe hinaus ins Watt und kippte um, dachte er. Doch Lina war Profi. Sie bremste unten nicht, sondern drehte eine elegante Schleife, die sie in der Gegenrichtung wieder ein Stück den Deich hinaufbrachte. So hätte sie auch einen Porsche mit Bremsenausfall zum Stehen bekommen.

Sie strahlte. «Ich fühle mich wie mit zehn.»

«Noch einmal?»

«Nee, das wird mir dann doch zu viel.»

Er half ihr heraus, weil das für sie allein viel schwieriger war, als sich hineinfallen zu lassen. Als sie wieder aufrecht stand, zeigte er ihr den Film auf seinem Handy.

«Kannst du das ins Netz stellen?», fragte sie. «Insta, Facebook, Tiktok?»

Ben staunte erneut. «Na klar, gerne.»

«Und das wird dann ewig von mir zu sehen bleiben?»

Er lächelte sie an. «Da kannst du dich drauf verlassen.»

«Sehr gut.»

Er zog die Seifenkiste an einer starken Schnur, die unter der vorderen Haube befestigt war, den Deich hoch und schnallte sie dann wieder hinten auf den Kofferraum.

 

Als sie vor ihrem Haus angekommen waren, war er ziemlich durchgefroren. Lina sah erschöpft, aber glücklich aus.

«Ich trage dir die Seifenkiste ins Haus», sagte er, schnallte sie ab und schloss das Verdeck.

«Nein.»

Ben sah sie fragend an.

«Lass mal, die gehört in Kinderhand. Schenk sie einem Kind, das Freude daran hat.»

«Aber wenigstens für ein paar Tage sollte sie bei dir bleiben.»

Sie schüttelte den Kopf. «Danke dir, Ben, das eben war für mich das schönste Abenteuer seit Jahren.»

Sie umarmte ihn.

Das matter werdende Westlicht von der Nordsee leuchtete in die kleinen Scheiben ihres Hauses. Er begleitete Lina am Arm hinein.

«Ich schaue demnächst wieder in deinem Spielzeugladen vorbei», kündigte sie an.

Er stutzte, hatte sie gerade «deinem Spielzeugladen» gesagt? Sie würde enttäuscht sein, wenn er bald nach Singapur verschwand.

«Bitte setz dich noch kurz», sagte sie.

Was kam nun?

«Ich habe noch etwas von Onkel Hein bekommen, das sollte ich dir geben, wenn du mit seinem Geschenk zu mir kommst.»

Onkel Hein hatte also damit gerechnet, dass sie sich trafen? Es kam Ben vor wie ein Spiel, bei dem er allerdings keine Ahnung hatte, worum es ging.

«Es ist etwas sehr Persönliches, was dich und Onkel Hein verbindet. Ich habe keine Ahnung, was es ist. Aber ich sollte es dir genau so sagen.»

Was konnte das sein?

Lina überreichte ihm einen länglichen Lederkoffer, den er auf den Tisch legte und vorsichtig öffnete. Sofort standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Er ahnte nichts Gutes. Und wurde sofort bestätigt.

Als er sah, was in dem Koffer lag, zog sich sein Magen zusammen. Er bekam kaum noch Luft. Verzweifelt versuchte er, seine Not zu überspielen, sodass Lina nichts mitbekam. Aber es klappte nur bedingt.

Sie sah ihn erstaunt an. «Alles in Ordnung mit dir, mein lieber Ben?»

«Jaja.»

«Sicher?»

«Ganz bestimmt, mach dir keine Sorgen.»

In dunkelblauen Samt gebettet lag eine goldglänzende Trompete! Sie war neu, ein Spitzeninstrument für Profis, wie er es noch nie in der Hand gehalten hatte. Damit konnte man die schönsten Töne hervorbringen, die auf so einem Instrument möglich waren. Jeder Trompetenspieler wäre begeistert gewesen.

Er bekam einen trockenen Mund. Onkel Hein hatte den Heiligabend vor zwanzig Jahren also nicht vergessen.

Jener Tag hatte sein Leben fundamental verändert. Nur deswegen war er nach Asien gezogen, weit weg von der Weihnachtsgefahr. Aber seine Flucht hatte nichts genützt. Die Trompete lag erneut vor ihm, und das wieder kurz vor Weihnachten! Onkel Hein forderte ihn heraus. Er meinte es gut, das wusste Ben, aber er war sich nicht sicher, ob er sich dem stellen wollte.

Mit glühendem Kopf verabschiedete er sich von Lina und schlich dicht an den Mauern der Giebelhäuser entlang zurück zum Spielzeugladen. Das Cabrio ließ er stehen, er fühlte sich nicht mehr in der Lage zu fahren. Den Instrumentenkoffer hielt er krampfhaft in der Hand. Die Giebel erschienen ihm plötzlich düster. Hoffentlich sprach ihn niemand auf den Koffer an. Der sollte einfach nur schnell verschwinden.

Ben war froh, als er vor dem Laden stand und die Tür aufschließen konnte. Die Welt dort drinnen kam ihm inzwischen vertrauter vor als die meisten Orte, an denen er in den letzten Jahren gewohnt hatte. Hier fühlte er sich sicher.

Er setzte sich an die Kante des Alkovens und warf einen Blick auf den Zauberer, den sein Onkel Hein mit so viel Liebe und Sorgfalt gestaltet hatte. Er rechnete nach: einundzwanzig Jahre, elf Monate und dreizehn Tage hatte er keinen Ton auf einer Trompete gespielt. Sollte er es jetzt wieder probieren?

Warum? Nur weil Onkel Hein es mit seinem Geschenk indirekt vorschlug?

Seltsam, dass er daran gedacht hatte.

Ben ließ den Koffer geschlossen, er wollte das Instrument nicht sehen. Damals hatte er beschlossen, ohne Trompete weiterzuleben. Ein Instrument spielen zu können, war schön, aber entbehrlich.

Er schob den Koffer unter eine Kommode in der letzten Ecke der Werkstatt. Er würde ihn nicht mit nach Amsterdam nehmen. Nur ganz leise regten sich Zweifel in ihm: Wollte er das Onkel Hein wirklich antun? Und die Chance verstreichen lassen, die sich ihm bot?