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A m nächsten Tag kam bereits der Vertragsentwurf von der Bank. Ben setzte sich an die Werkbank und las ihn einmal durch. Er war in dem typischen Juristenkauderwelsch geschrieben. Quintessenz war, dass er der Bank alle Rechte am Haus sowie am Verkauf der Spielzeuge übertragen sollte. Es fühlte sich nicht gut an.

Wie gerne hätte er die Welt von Onkel Hein erhalten! Vielleicht fand er jemanden, der den Spielzeugladen weiterführte? Aber wer sollte das sein?

Es musste nicht alles sofort entschieden werden, beschloss er und legte den Vertrag auf den Papierstapel. Zuerst würde er sich um die andere Aufgabe kümmern, die genauso zu seiner Erbschaft gehörte. Zumal er ahnte, dass die Sache mit der Bank nicht gut ausgehen würde. Wenn Ben das Rätsel der Weihnachtsliste löste, hätte er wenigstens etwas für Onkel Hein getan.

 

Draußen schien die Wintersonne durch die frostklare Luft. Die Tänzerin und die Marionette mit der Metallbrille hielt Ben in den Händen, den Zauberer hatte er vorne an seiner Jacke befestigt, dann marschierte er los. Die Häuser standen so weit auseinander, dass der Schatten auch beim höchsten Stand der Sonne nicht den Sockel der gegenüberliegenden Häuser erreichte.

Er suchte jedes einzelne Geschäft auf. Als Erstes ging er zu den beiden Bäckereien. Wenn die Vorbilder für die Marionetten in Friedrichstadt lebten, würden sie hier Brot und Brötchen kaufen.

Unterwegs fragte er sämtliche Passanten, die ihm in den Straßen begegneten: «Entschuldigung, Onkel Hein hat diese Marionetten gemacht. Ich möchte sie gerne denjenigen zukommen lassen, für die er sie gedacht hat. Weißt du, wer damit gemeint sein könnte?» Doch niemand hatte auf Anhieb eine Idee. Es kam nur immer wieder: «Onkel Hein war die Seele unserer Stadt.» Was ihn freute – und traurig machte.

In der Prinzenstraße gab es ein paar Kunstgalerien, die unter anderem besondere Objekte aus Treibholz anboten, dazu beeindruckende Gemälde von nordischen Landschaften sowie abstrakte Bilder. Er ließ keine aus. Die Galeristen schauten sich die Marionetten genau an, aber auch ihnen fiel niemand ein. Einige schlugen vor, dass er sie ihnen überlassen könnte, weil sie so kunstfertig gearbeitet waren. Aber das war natürlich nicht Sinn der Sache.

Irgendwann kam er zur Buchhandlung Frerichs, die im Fünf-Giebel-Haus neben der kleinen katholischen Kirche lag. Ben ging ein paar Stufen ins Hochparterre. Für Menschen, die das nicht konnten, war eine Klingel angebracht, dann half man ihnen weiter. Der Raum mit der hohen Decke war voller Bücher, die in Regalen standen oder in Stapeln auf den Tischen lagen. Ben wusste von Nintje, dass sein Großonkel fast alle seine Bücher hier gekauft hatte.

«Moin», grüßte er in den Raum, obwohl kein Mensch zu sehen war.

«Moin», kam es von irgendwo zurück. Hinter einem riesigen Bücherstapel tauchte ein mittelalter Mann auf, der ihn über seine randlose Lesebrille hinweg anlächelte. «Kann ich bei irgendwas behilflich sein?»

Ben hielt seine Marionetten hoch. «Es geht um diese Gestalten, die mein Onkel Hein hergestellt hat. Sie stellen Menschen aus Friedrichstadt dar, da bin ich sicher. Aber ich weiß nicht, wer gemeint ist.»

«Du bist Ben?»

«Ja.»

«Schön, dass wir uns kennenlernen, ich bin Piet.» Er gab ihm die Hand. «Unsere Buchhandlung war wie ein zweites Wohnzimmer für deinen Onkel.»

«Das habe ich mir schon gedacht.»

«Die Marionetten sehen interessant aus, zeig mal her.»

Ben gab sie ihm, Piet schaute sie sich genau an.

«Hast du eine Idee?», fragte Ben. Zusätzlich zeigte er dem Buchhändler Fotos von den Gegenständen im Alkoven: die Feuerwehr, das Röhrenradio, den Scheinwerfer. «Kannst du das irgendwem in Friedrichstadt zuordnen?»

«Auf Anhieb nicht.»

«Wer benötigt einen Angstlöscher? Und was soll das überhaupt sein?»

«Es wäre ja schön, wenn wir unsere Ängste mit irgendwas löschen könnten, oder?»

«Klar.»

«Für mich war dein Onkel Hein ein Dichter», sagte Piet. «Die Spielzeuge waren seine Gedichte, jedes hatte eine besondere Bedeutung oder Aussage. Die Menschen, die er beschenkte, bekamen immer genau das Spielzeug, das sie brauchten. Es gab etwas zum Nachdenken, nach dem Motto: Was hat das mit mir zu tun?»

Ben musste lächeln. «Ich weiß, dass ich nichts weiß?»

«Hein hat sich sogar in die Politik eingemischt.»

«Du meinst, richtig aktiv?»

«Na ja, auf seine ganz spezielle Art. Er hat den zerstrittenen Parteien im Stadtrat gezielt Spielzeuge geschenkt, die sie dazu brachten, bestimmte Entscheidungen noch mal zu hinterfragen. Und sie wussten meistens, worauf er hinauswollte. Das war magisch. So gesehen hatte er eine Menge Einfluss in Friedrichstadt.»

«Erstaunlich.»

«Im letzten Vierteljahr war er allerdings kaum noch hier», erinnerte sich Piet.

«Aber was war passiert? Die Gesundheit …?»

«Nein, ich habe ihn zufällig zweimal auf Föhr gesehen, da ging es ihm prächtig, würde ich sagen.»

«Auf Föhr?»

«Ja, ich bin dort regelmäßig im Urlaub. Und die letzten Male habe ich Hein dort eben gesehen …»

«Bei welcher Gelegenheit?», erkundigte sich Ben.

Piet druckste herum. «Ich will nicht petzen.»

«Wieso? Was war dort so schlimm?»

«Es ist eh vorbei.»

«Und wenn Onkel Hein nicht tot wäre? Würdest du es mir dann sagen?»

Was natürlich hypothetisch war, denn dann wäre Ben ja gar nicht hier.

Piet überlegte kurz.

«Er hatte sich mit einer Frau liiert.»

«Wirklich? Das ist doch toll!»

Endlich war es raus. Aber was war daran das Problem? Und wieso hatte Nintje nicht darüber reden wollen? Sich zu verlieben, war doch kein Verbrechen …

«Hast du sie kennengelernt?», fragte er.

«Das nicht. Ich habe nur mitbekommen, wie Hein auf Föhr Arm in Arm mit einer … nun ja, deutlich jüngeren, hübschen Frau über die Dorfstraße geschlendert ist. Ein anderes Mal habe ich die beiden mit Schubkarre und Rasenmäher in einem Garten gesehen. Ich hatte den Eindruck, dass er dort wohnt.»

«Wo war das genau?»

«Das kleine Inseldorf heißt Süderende, kennst du das?»

«Nein, ich war noch nie auf Föhr.»

Wieso sollte Onkel Hein kein Liebesleben gehabt haben? Ben hätte es ihm aus vollem Herzen gegönnt. «Hat er dir seine Freundin vorgestellt?»

«Nein, ich war auf dem Rad unterwegs und habe so getan, als wenn ich ihn nicht gesehen hätte.»

«Aber warum?»

Piet rückte seine Brille zurecht. «Es war seine Sache, und das sollte es auch bleiben.»

«Wie alt war die Frau denn ungefähr?»

«So in den Vierzigern.»

Sofort gingen Ben Fragen durch den Kopf: Wo war Onkel Heins Freundin jetzt? Wohnte sie auf Föhr, oder hatten sie dort nur ihren Urlaub verbracht? Nintje wusste das mit Sicherheit, sie musste ihm weiterhelfen, warum sträubte sie sich?

Piet lächelte. «Ich wünsche dir auf jeden Fall gutes Gelingen, wenn du das Erbe von Onkel Hein weiterführst. Das ist wichtig für unsere Stadt.»

«Ich tue mein Bestes», sagte er. Obwohl er nicht wusste, ob das der Wahrheit entsprach.

Draußen sah er den roten Ferrari-Rollstuhl mit dem Zigarre rauchenden Fahrer vorbeifahren.

«Kennst du den Mann im roten Rollstuhl?», fragte er Piet.

«Das ist Thies Martens. Er war dreißig Jahre Friedrichstädter Bürgermeister und Mitglied in allen Vereinen. Nun ist er über neunzig.»

«Ist sein Rollstuhl wirklich von Ferrari?»

«Bestimmt.» Er grinste. Dann wurde er wieder ernst. «Du meldest dich, wenn der Basar stattfindet?»

«Klar.»

Er verabschiedete sich und trat hinaus. Die Wintersonne ließ den Schnee hell aufleuchten und blendete ihn. Nichts schien die Friedrichstädter mehr zu beschäftigen als dieser Basar am vierten Advent. Überall wurde er darauf angesprochen, niemand konnte sich vorstellen, dass er nicht stattfinden würde. So gerne er ihn organisieren würde, es blieb dabei: Finanziell musste er auch an sich denken, er war kein reicher Mann. Gedankenverloren strich er der Tänzerin über den Saum ihres Tutus. Plötzlich bemerkte er einen kleinen Knubbel, der da nicht hingehörte.

War das ein Webfehler? Kaum vorstellbar. Er schaute genauer hin. Und dann wusste er, wer die Tänzerin war.