13

E s fing leicht an zu schneien, dann wurden die Flocken immer dichter, bis sich eine wattige weiße Decke auf die Giebel und Straßen der Stadt legte. Es sah zauberhaft aus.

Ben packte im Lavendelzimmer seinen kleinen Koffer. Nintje war nicht da, aber Fiete begleitete ihn mit wedelndem Schwanz, er konnte wieder mal nicht genug Streicheleinheiten bekommen. Gerade wollte Ben sich an den Laptop setzen, um die fehlenden Bagger in Indonesien zu organisieren, da wurde die Eingangstür geöffnet, und Nintje schleppte einen großen Weihnachtsbaum herein, der mit einem dünnen Netz verschnürt war.

«Kann ich dir helfen?», fragte er.

Sie nickte. «Der muss in den Eisenständer neben der Rezeption.»

«Okay.»

Ben packte mit an und hielt den Stamm fest, während Nintje auf die Knie ging und die Schrauben anzog.

«Okay?», fragte er.

«Moment … jetzt!»

Sie stand auf und schaute sich das gemeinsame Werk an.

«Sitzt, passt, wackelt, hat Luft», meinte sie.

In einem Karton vor dem Rezeptionstresen lag der Schmuck, der an den Baum gehörte: Auslegerboote mit Segeln aus Palmenblättern, kleine Blechflugzeuge, gehäkelte bunte Seepferdchen und ein paar Christbaumkugeln in Rot, Grün und Silber.

«Ist es nicht etwas früh für den Baum?», fragte Ben. «Bis Weihnachten sind es immerhin ja noch zehn Tage.»

«Umso länger habe ich was davon», meinte sie.

«Na, denn.»

«Wo feierst du dieses Jahr?», erkundigte sie sich.

«Im Airport-Hotel in Amsterdam.»

Sie nickte. «Schön da?»

«Geht so. Am nächsten Morgen geht es um sechs Uhr früh nach Singapur.»

«Hört sich so an, als wenn du etwas gegen Weihnachten hast.»

Bingo!

«Sagen wir mal so: Ich mache mir nicht viel daraus.»

Sie ließ sich in einen Ledersessel fallen. «Kein Mensch muss müssen.»

Dann zog sie ihre Jacke aus. Darunter trug sie einen hellblauen Wollpullover, der ihr hervorragend stand.

«Du ziehst aus?» Sie deutete auf seinen Koffer.

«Bevor ich fahre, möchte ich noch ein paar Tage in … meinem Haus wohnen.»

Es war das erste Mal, dass er es so ausdrückte.

«Verstehe.»

«Ich habe übrigens auch ohne dich interessante Dinge über meinen Großonkel herausgefunden.»

«Ach ja?» Ihre Augen blitzten auf.

Er setzte sich ihr gegenüber. «Kann es sein, dass er in letzter Zeit öfter auf der Insel Föhr war?»

«Wie kommst du darauf?», murmelte sie.

«War Hein mit einer jüngeren Frau zusammen?»

Vielleicht hatte Piet ja übertrieben, aber er gab das einfach mal so weiter.

«So würde ich es nicht ausdrücken.»

Also ja!, dachte Ben.

«Sondern?»

«Bitte, Ben …»

«Was ist schlimm daran, dass Onkel Hein eine Freundin hatte?»

Nintje schwieg beharrlich.

«Gut, lassen wir das», meinte er. Er schaute ihr in die Augen. «Champagner?»

Der rasante Stimmungsumschwung irritierte sie sichtlich. «Gibt es denn etwas zu feiern?»

«Ja.»

«Deinen Auszug bei mir?»

«Nein, ich war gerne hier.»

«Warte ab, bis du meine Rechnung gesehen hast.» Sie grinste.

Ben hatte eine Flasche Champagner in den Kühlschrank seines Zimmers gestellt, die er jetzt holte. Nintje fischte zwei Gläser hinter dem Tresen der Rezeption hervor. Ben öffnete vorsichtig und schenkte ihnen beiden ein.

«Ich muss mit dir reden», kündigte er an.

Sie klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr. «Wenn es um die Nutzung des Ladens geht – ändere ich meine Haltung nicht, das sage ich gleich.»

«Schade, ich wollte dich eigentlich gerade betrunken machen und dann ein paar unseriöse Papiere in der Sache unterschreiben lassen.»

«Netter Versuch.» Sie lachte.

«Mensch Nintje, ich würde den Spielzeugladen liebend gerne erhalten, wie er ist. Aber ich bin leider kein reicher Sponsor mit Geld ohne Ende.»

«Vielleicht finden wir ja eine andere Lösung.»

«Dann aber bitte schnell, in zehn Tagen bin ich weg.»

«Ich weiß.»

«Aber darum geht es gerade nicht.»

«Worum dann?»

«Können wir erst mal anstoßen?»

«Gerne.»

«Prost.»

«Prost.»

Sie nahmen einen Schluck. Fiete legte sich auf Bens Füße, was sich angenehm anfühlte.

«Wohin ist der Kredit geflossen, den sich Onkel Hein von der Bank auf das Haus geliehen hat? Zu seiner Freundin?»

«Alles weiß ich auch nicht.» Sie zuckte mit den Achseln.

Ben nahm einen weiteren Schluck. «Träumst du eigentlich manchmal vom Tanzen?»

Sie sah ihn erstaunt an. «Was? Wie kommst du jetzt darauf?»

Ben hielt ihrem Blick stand. «Hast du jemals davon geträumt, Ballett zu tanzen?»

«Du meinst, so richtig, in Tutu und auf Spitze?»

«Ganz genau: Primaballerina Nintje, die in der ganzen Welt gefeiert wird.»

«Ernsthaft oder als Mädchentraum?»

«Egal, beides.»

Sie schüttelte den Kopf. «Hör auf, Ben, dafür habe ich nicht die Figur, und das war nie anders.»

«Das hast du jetzt gesagt.»

«Sicher.» Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war ihr das Thema unangenehm. «Worauf willst du hinaus?»

«Einen Moment.» Er erhob sich.

Fiete folgte ihm in sein Zimmer. Ben nahm die Tänzerin, die er in rotes Geschenkpapier eingewickelt hatte, und ging damit zurück zu ihr. Das Paket legte er auf den Tisch. «Diese Figur ist für dich, mit den allerbesten Grüßen von Onkel Hein.»

Sie entfernte behutsam die Verpackung. Als die Marionette zum Vorschein kam, wirkte sie fast enttäuscht. «Aber die kenne ich doch, das ist die Tänzerin!»

Fiete spitzte die Ohren und wedelte mit dem Schwanz.

«Du bist die Tänzerin», sagte Ben und blickte ihr in die Augen. «Sie ist Onkels Heins persönliches Erbe für dich.»

«Wie kommst du darauf?»

«Fahr mal am Rocksaum entlang.»

Sie tat es und blieb an der kleinen Innentasche hängen. «Was ist das?»

«Da hat er etwas für dich versteckt.»

Sie zog den Zettel heraus und las laut vor: «Onkel Heins Abschiedsrednerin».

Nintje wirkte fast schockiert, sie starrte erst Ben, dann die Tänzerin an. «Aber sie sieht mir überhaupt nicht ähnlich! Ich meine, so rund bin ich nun auch wieder nicht.»

«Das behauptet Onkel Hein auch nicht. Das ist gar nicht das Thema. In jedem von uns stecken doch verschiedene Charaktere, oder? Ich meine, über das hinaus, was wir zu sein oder darzustellen meinen.» Er betrachtete die Figur. «Sie strahlt Vitalität und unbändige Energie aus, vielleicht hat Onkel Hein deswegen an dich gedacht.»

«Lass das bloß niemanden im Rathaus hören.»

«Wieso? Haben die anderen ein Problem mit Frauen, die wissen, wo es langgeht?»

Sie blieb einen Moment starr sitzen. Dann beugte sie sich vor und umarmte ihn, ihre Nase berührte kurz seinen Hals.

«Danke, Ben.»

Sein Herz pochte laut auf. Ob sie das mitbekam?

Draußen heulte der Wind ums Haus, sie hörten ihm eine Weile stumm zu. Ben blickte abwechselnd auf Nintje und die Tänzerin, die anscheinend eine Flut von Emotionen bei ihr auslöste. Nach einiger Zeit räusperte sie sich. «Zwischendurch hatte ich vermutet, dass du der Tänzer bist», sagte sie.

«Wieso das?»

«Na, so leichtfüßig wie du dich im Spielzeugladen bewegst …»

«Hör auf, ich bin ein bodenständiger Reedereikaufmann.»

Sie lachte. «Alles klar. – Wie war das mit den verschiedenen Seiten, die in uns stecken?»

«Aber wie kommst du bei mir auf Tanzen?»

«Lebenserfahrung.»

«Ach ja?»

Sie grinste. «Immerhin bin ich fünf Jahre älter als du.»

Woher wusste sie das nun schon wieder?

«Und was heißt das?»

Sie spitzte den Mund. «Ich habe Dinge erlebt, die erst noch auf dich zukommen.»

Da musste er lachen. «Gib mal nicht so an.»

«Als du ein Baby warst, hätte ich deinen Kinderwagen schieben können.»

«Und als du deinen ersten Freund hattest, war ich noch ein unschuldiger Junge.»

«Dazu sage ich nichts.»

Er blickte ihr neugierig in die Augen. «Wie schade, gerade das finde ich äußerst interessant.»

Sie nickte. «Inwiefern?»

Er lächelte vielsagend.

«Du bist bald wieder weit weg», sagte sie leise.

«Ja.»

«Damit steht fest, dass wir nicht zusammenkommen, so ist es doch.»

Er war überrascht, dass Nintje es so klar und offen aussprach. Das war ihm bei einer Frau noch nie passiert.

Beide schwiegen einen Moment.

«Ich muss dann», sagte er und schnappte sich seinen Koffer.

Nintje stand auf, sie umarmten sich vorsichtig, dann ging er hinaus. Als er im Schnee unter dem Pensionsschild stand, dachte er, dass das eben ein wunderschöner Moment gewesen war. Hätten sie mehr daraus machen sollen?

Er schob den Gedanken beiseite, wohin sollte das führen? Sie hatte ja recht, bald war er weit weg.

Vor seiner Abreise musste er unbedingt noch herausfinden, wer die Nachdenkliche und der Zauberer waren. Irgendetwas sagte ihm, dass die Antwort auf der Insel Föhr lag. Am besten also, er fuhr dorthin.

Hatte er dafür Zeit? Sein Chef würde ihn umbringen, wenn er noch später nach Amsterdam zurückkäme, außerdem brauchte John Cussick seinen Wagen. Aber Ben würde es sich nicht verzeihen, wenn er hier vor Ort nicht alle Rätsel seines Onkels gelöst hätte.