E ine halbe Stunde später saß Ben wieder im Cabrio. Er war immer noch ganz aufgewühlt von dem, was gerade in der Kirche geschehen war. Nach gut zwanzig Jahren hatte sich auf einer einsamen Insel ein Kreis geschlossen.
Die Suche nach Onkel Heins Freundin war plötzlich nebensächlich geworden. Ben schaute auf dem Handy nach, wann die nächste Fähre zum Festland fuhr: in einer Viertelstunde, das würde knapp werden. Er drückte den Startknopf für den Motor und gab Gas. Was bei der Straßenglätte heikel war, zumal das flache Cabrio sowieso mehr ein Sommerwagen war.
Plötzlich klappte der Deckel des Handschuhfachs auf, und alles, was drinnen lag, fiel in den Fußraum. Statt rechts ranzufahren, versuchte Ben, die Sachen mit der linken Hand aufzusammeln, über die Mittelkonsole hinweg und ohne anzuhalten. Dabei übersah er einen entgegenkommenden Wagen – wo kam der mit einem Mal her? Im letzten Moment riss er das Steuer rum. Es gab einen lauten Knall, der sich nicht gut anhörte. Er ging voll in die Bremsen, was der nächste Fehler war: Dadurch kam er auf der glatten Fahrbahn ins Schleudern und drehte sich einmal um die eigene Achse. Dass er nicht im Graben landete, war reines Glück.
Als er zum Stehen kam, bemerkte Ben, dass er seinen linken Spiegel abgefahren hatte. Sein Herz raste vor Aufregung. Er stieg aus und holte tief Luft. Etwas entfernt stand eine Frau neben einem Kombi. Sie war eingepackt in einen Mantel aus teddyartigem Stoff und hatte ihre Pudelmütze tief ins Gesicht gezogen. Ihr Spiegel sah unbeschädigt aus, wenigstens das! Sie kam auf ihn zu.
«Do you speak German? », fragte sie.
«Yes », antwortete er, bis ihm einfiel, dass er ja mit britischem Kennzeichen durch die Gegend fuhr. «Ich spreche auch Deutsch», sagte er. «Haben Sie etwas abbekommen?»
«Nein, alles in Ordnung.»
«Tut mir leid, ich bin weggerutscht.» Was etwas geflunkert war, in Wirklichkeit war er viel zu schnell gefahren und hatte nicht aufgepasst.
Sie tauschten Nummern aus, für alle Fälle.
«Mit dem Rechtslenker kann ich ohne Spiegel nicht weiterfahren», sagte er. «Wissen Sie, wo ich auf der Insel einen neuen bekomme?»
«Hier im Ort bei Gabi, ihre Werkstatt hat aber kein Firmenschild. Drittes Haus neben der Schule. Sie ist gerade nicht da, ruf sie einfach an.»
Sie reichte ihm die Visitenkarte einer Mechanikerin namens Gabi Christiansen.
«Danke.»
Ben fuhr im Schritttempo zu der angegebenen Auffahrt und wählte die Nummer.
«Moin», meldete sich Gabi.
Er schilderte ihr sein Dilemma.
«Passend für den Mazda habe ich nichts da», meinte sie. «Aber ich kann einen vom Golf II dranmontieren.»
«Nee, der Wagen ist geliehen, der muss original sein. Ich denke, der Besitzer will nicht mit zwei verschiedenen Rückspiegeln durch die Gegend fahren.»
«Original-Mazda muss ich im Lager bestellen. Die Fähren fahren bei Eisgang nicht regelmäßig, wenn du Glück hast, morgen, kann aber auch zwei Tage dauern.»
«Okay, der Wagen steht bei Ihnen in der Einfahrt, Schlüssel und Papiere werfe ich in den Briefkasten.»
Ben tat es wie angekündigt und verstaute den Trompetenkoffer im Kofferraum. Dann schnappte er sich seinen Rucksack mit dem Laptop und ging zurück an die Hauptstraße. Sollte er sich ein Taxi rufen?
Erst einmal beschloss er, Nintje anzurufen.
«Moin.»
«Moin, Ben, wo steckst du denn?»
Es tat gut, ihre Stimme zu hören.
«Auf Föhr.» Er schaute hinüber zum verschneiten Deich.
«Du lässt nicht locker, was?»
«Ich hatte gerade einen kleinen Unfall.»
«Mein Gott, bist du verletzt?»
«Nein, alles okay. Aber ich brauche eine Unterkunft – kennst du zufällig was auf der Insel?»
«Wo bist du genau?», erkundigte sie sich.
«In der Nähe der Süderender Kirche.»
«Pension Möwennest», sagte sie, ohne zu zögern. «Das ist von dort zehn Minuten zu Fuß.»
Er ließ den Blick über die Schneewüste vor sich kreisen. «Warst du schon mal da?»
«Nee, aber es soll okay sein.»
Über ihm flog ein Austernfischer mit langem rotem Schnabel vorbei – wie der, den seine erste Kundin auf ihrer Brosche gehabt hatte.
«Woher kennst du es dann?»
«Nur vom Hörensagen.»
«Okay, danke.»
«Nicht dafür.»
Er schnappte sich den Zauberer und die Nachdenkliche und stapfte über den Radweg durch den knöchelhohen Schnee. Nach ein paar schnellen Schritten wurde ihm etwas wärmer. Der Himmel hatte eine freundliche blaugraue Farbe angenommen, an einigen Stellen gab es zartrosa Einsprengsel.
Der Weg zur Pension dauerte etwas länger, als Nintje geschätzt hatte. Das reetgedeckte friesische Bauernhaus stand am Ende einer Seitenstraße. An der grün lackierten Holztür gab es keine Klingel, nur einen eisernen Klopfer, den er zweimal hochhob und fallen ließ.
Niemand meldete sich.
Er drückte die Klinke, die Tür war offen. Zögerlich trat er ein.
«Hallo?»
Keine Antwort.
Er ging durch einen engen Flur in den Speiseraum. Der war mit modernen Holzstühlen und -tischen ausgestattet, die nach dänischem Design aussahen. Die Tapeten waren in knalligem Orange gehalten, das hätte er in einem alten Haus nicht erwartet. Auf den Fensterbänken standen bunt gemusterte Vasen und ein Schaukelpferd aus Aluminium.
«Hallo?», rief er ein zweites Mal.
Er kam sich vor wie ein Einbrecher. War es vielleicht Zufall, dass die Tür hier nicht verschlossen war? In Onkel Heins Laden hatte er bei seiner Ankunft ja bereits eine ähnliche Erfahrung gemacht – sollte er wieder verschwinden?
«Ja?»
Ein Mann kam die Treppe runter. Er war vielleicht Mitte fünfzig, hatte graues Haar und stechend blaue Augen und trug eine dunkelblaue Latzhose. In der Hand hielt er einen Putzeimer.
«Kann ich weiterhelfen?»
«Ja, mit einem Zimmer.»
«Okay», murmelte er und ging die Treppe wieder rauf. Ben folgte ihm.
Oben zeigte ihm der Mann ein kleines Zimmer. Eigentlich fand er Singlezimmer mit schmalem Bett deprimierend, aber der fantastische Blick durch das Fenster in der Gaube entschädigte in diesem Fall für alles. Außerdem gab es ein kleines Tischchen, an dem er arbeiten konnte.
«Nehme ich», sagte er.
«Wie ist Ihr Name?»
«Benjamin Stein.»
Der Mann riss den Kopf herum. «Was?»
«Stimmt etwas mit meinem Namen nicht?»
Der Mann winkte ab, sah aber immer noch nervös aus. «Die Chefin ist gerade nicht da.»
Seltsam, dabei hatte er gar nicht nach ihr gefragt.
«Könnte ich vielleicht noch was Kleines zu essen bekommen?»
«Wenn Brotstullen und Käse genügen?»
«Vollkommen. Und hätten Sie auch eine Zahnbürste für mich?»
Immerhin war seine Übernachtung hier nicht geplant gewesen, er war ohne Gepäck unterwegs.
«Lege ich Ihnen neben den Teller.»
«Danke.»
Der Wind draußen war stärker geworden und hatte den Schnee aufgewirbelt. Es war totenstill im Haus. Ben klappte seinen Laptop auf und stürzte sich in seine Arbeit, um weitere Abläufe in Indonesien zu organisieren. Mit den Sattelschleppern war einiges schiefgelaufen, sie waren in den falschen Hafen geordert worden, wie immer das passieren konnte.
Als Erstes besorgte er übers Internet Genehmigungen für die Sattelschlepper, damit sie ins Hafengebiet fahren durften, um die Bagger aufzuladen. Zwischendurch telefonierte er mit John Cussick. Den abgefahrenen Spiegel an seinem Wagen erwähnte er lieber nicht, es war ihm peinlich. Er würde ihm das Cabrio perfekt repariert in Amsterdam vor die Tür stellen, dann war alles gut.
Später ging er nach unten in den Speiseraum. Das Möwennest kam ihm vor wie ein Geisterhotel, auch der Putzmann war nicht mehr da. Immerhin stand ein Korb mit einigen Brotscheiben auf dem Tisch, dazu Margarine und Käse, eine Thermoskanne mit schwarzem Tee. Neben dem Teller fand Ben die versprochene Zahnbürste und eine kleine Tube Zahnpasta.
Er lehnte sich zurück und schaute sich um. Da entdeckte er in einem Regal etwas, was ihn aufschrecken ließ: eine kleine Giraffe auf einem Hochrad, daneben eine Miniaturstraßenbahn aus Blech! Stammten die Spielzeuge etwa aus Onkel Heins Laden? Das konnte Zufall sein. Immerhin war es möglich, dass jemand aus der Pension sie in Friedrichstadt bei Onkel Hein gekauft hatte. Möglich – aber wie wahrscheinlich? Ihn wunderte bald gar nichts mehr.
Nach dem Essen legte er sich in seinem Zimmer aufs Bett. Zum Einschlafen war das beständige Heulen des Seewinds eine Wohltat, unter der warmen Decke fühlte er sich bestens aufgehoben. Er fiel in einen tiefen, satten Schlaf.