A m nächsten Morgen schien die Sonne gleißend hell von einem wolkenlosen Himmel auf die weiße Weite. Vor dem Fenster seiner Gaube hing ein Außenthermometer, das minus zehn Grad anzeigte. Das Frühstück im Speiseraum war wieder wie von Geisterhand arrangiert worden, Brötchen, Tee, Marmelade, Käse. Die Marmelade war köstlich, das musste er zugeben, wahrscheinlich war sie selbst eingekocht. Im Haus schien außer ihm niemand zu sein.
Während er aß, musste er immer wieder auf die Giraffe auf dem Hochrad und das Blechspielzeug starren. Es war ein Rätsel. Einerseits, warum sollte die Pensionsbesitzerin sie nicht in Friedrichstadt bei Onkel Hein gekauft haben? Es gab solche Zufälle. Andererseits hatte ihm Nintje genau diese Pension empfohlen … Nach seinem ersten Brötchen rief die Autowerkstatt an. Mechanikerin Gabi musste ihn vertrösten, der Spiegel war, wie befürchtet, nicht mit der Morgenfähre gekommen. Mit anderen Worten, er musste einen weiteren Tag auf der Insel verbringen – Schicksal.
Zum Glück hatte er seinen Laptop dabei, in der Pension kam er bestimmt intensiver zum Arbeiten als im Spielzeugladen, hier lenkte ihn nichts ab. Insofern war die Zeit nicht verschenkt.
Er ging zurück in sein Zimmer. Am Ende des Flurs stand eine Tür offen, ein Staubsauger lag auf der Türschwelle. Aus reiner Neugier ging er hin, um sich das Zimmer anzusehen. Vielleicht würde er irgendwann im Sommer noch mal hierherkommen, man konnte nie wissen. Als er hineinsah, wurde ihm flau im Magen.
Der Raum sah aus wie eine Zweigstelle von Onkel Heins Spielzeugladen, und das war jetzt bestimmt kein Zufall mehr: Auf einem großen Hochrad saß eine Giraffe, überall lag altes Blechspielzeug herum. Außerdem gab es ein Bett und zwei Spinde, wie in Onkel Heins Schlafzimmer, die von oben bis unten mit bunten Stoffen behängt und mit Seekarten beklebt waren.
Er ging hinein. Auf dem Nachttisch stand ein gerahmtes Foto, das Onkel Hein Arm in Arm mit einer deutlich jüngeren Frau zeigte, vermutlich seine Freundin. Also doch!
Ben schaute sie sich genauer an und war verblüfft: Er kannte sie! Das war die Frau, die die Kängurus in seinem Laden gekauft hatte, die mit der Austernfischer-Brosche! Sie war Onkel Heins Freundin?
Aber wieso hatte Nintje nichts gesagt, als sie im Laden aufgetaucht war? Sie war doch dabei gewesen. Kannte sie sie nicht? Und wieso hatte die Frau sich nicht zu erkennen gegeben? Bestimmt wusste sie, dass er Onkel Heins Großneffe war.
Verwirrt ging er zurück in sein Zimmer. Er steckte gerade den Schlüssel ins Schloss, als er eine Stimme hinter sich hörte.
«Moin.»
Ben drehte sich um. Vor ihm im Flur stand Onkel Heins Freundin höchstpersönlich. Sie trug einen dunkelgrünen Strickpullover, auf dem eine Brosche mit einem Austernfischer steckte. Ihre großen braunen Augen musterten ihn misstrauisch.
«Moin.» Er gab ihr die Hand. «Kann es sein, dass wir uns schon mal in Friedrichstadt gesehen haben? Im Spielzeugladen von Heinrich Stein?»
«Ja, kann sein.»
«Sie haben zwei Kängurus gekauft.»
«Stimmt.»
Er beschloss, direkt zum Wesentlichen zu kommen: «Hat mein Großonkel Heinrich Stein hier gewohnt?»
«Ja», sagte sie.
Sie war wirklich zäh.
«Ich bin Ben Stein.»
«Ich weiß.»
«Und wer sind Sie?»
«Anneke Petersen.»
Das sagte ihm nichts.
«Ah ja?»
«Wie sind Sie auf unsere Pension gekommen?», versuchte sie es mit einer Gegenfrage.
«Sie wurde mir empfohlen.»
«Von Nintje?»
«Sie kennen Nintje?»
«Nur vom Namen her.»
Sie blickte ihn skeptisch an.
«Du warst Heins Freundin, oder?», fragte er. Er wechselte zum Du, wie offenbar alle es taten.
Sie lachte laut und herzhaft.
«Nein.»
Ihm wurde ganz anders.
«Ich möchte es nur wissen, dann reden wir nie wieder darüber.»
«Es ist ganz anders», sagte sie.
«So? Wie denn?»
Langsam wurde er ungehalten.
Sie biss sich auf die Lippen: «Lass uns nach unten gehen, okay?»
Das klang nach einer großen Sache.
Anneke und er setzten sich im Speiseraum an den Tisch. Sie schwieg einen Moment und schien zu überlegen, dann suchte sie seinen Blick. «Ich bin Heins Tochter», erklärte sie.
Ben schüttelte den Kopf. «Onkel Hein hatte keine Kinder.»
Sie nickte. «Es war auch für mich eine Riesenüberraschung.»
«Warum sollte Onkel Hein verschwiegen haben, dass er eine Tochter hatte?»
«Weil er bis vor ein paar Wochen selbst nichts davon wusste.»
«Wie das?»
Anneke spielte mit dem tönernen Linienbus in der Hand, während sie es ihm erklärte. «Meine Mutter Dörte hatte einen kurzen Urlaubsflirt auf Föhr mit ihm, da waren beide schon über vierzig. Sie dachte, sie könne gar keine Kinder mehr bekommen. Es war nur eine Nacht, dann ist er wieder zurück nach Friedrichstadt gefahren.»
«Und das hat genügt, um …?»
Es war eine blöde Frage, aber er wollte es wissen.
«Meine Mutter ist kurz danach nach Australien gegangen. Erst da hat sie gemerkt, dass sie schwanger war, von ihm. Es kam niemand anderes infrage.»
«Und sie hat sich nie bei Onkel Hein gemeldet?»
«Nein.»
«Warum nicht?»
«Keine Ahnung. Erst kurz bevor sie gestorben ist, hat sie mir verraten, wer mein Vater ist.»
«Hat sie schlechte Erinnerungen an ihn gehabt, oder warum?»
«Gar nicht. Sie wollte das einfach alleine machen, da hatte sie eine Macke. Nach ein paar Jahren ist sie wieder zurück nach Föhr gezogen, weil sie von ihren Eltern das Haus hier geerbt hat. Sie hat das Möwennest bis zum Schluss geführt.»
«Und erst nach ihrem Tod hast du Kontakt zu deinem Vater aufgenommen?»
Anneke nickte. «Er fiel aus allen Wolken. Wir haben versucht, ein kleines bisschen Vater-Tochter-Leben nachzuholen.» Sie blickte zu Boden. «Uns blieben nur wenige Wochen.»
Ben fand das alles unglaublich.
«Wieso hast du mir im Spielzeugladen nicht gesagt, wer du bist?»
«Ich wusste nicht, ob es dir recht ist.»
«Unsinn! Wieso sollte es mir nicht recht sein?»
«Ich war unsicher.»
Ben stand auf. «Können wir uns vielleicht mal umarmen, Cousine?»
Sie erhob sich ebenfalls, dann umarmten sie sich fest und ließen sich eine Weile nicht los.
«Wie nennt man unseren Verwandtschaftsgrad überhaupt?», fragte er, während er Anneke immer noch hielt.
«Großcousine und Großcousin.»
Ben grinste. «Klingt wie Großherzogin und Großherzog.»
«Herr von Stein.»
«Frau von Petersen.»
«Auf jeden Fall sind wir Adelige des Herzens», meinte er lächelnd. Dann wurde er wieder ernst. «Der Spielzeugladen gehört unter diesen Umständen natürlich dir.» Zugegebenermaßen war er darüber sogar ein bisschen erleichtert.
Sie schüttelte den Kopf. «Auf gar keinen Fall, du hast ihn rechtmäßig geerbt.»
«Da wusste Onkel Hein aber noch nichts von seiner Tochter.»
«Papa Hein hat sein Erbe gerecht zwischen uns beiden aufgeteilt.»
«Wie das?»
Sie sah ihn nachdenklich an. «Er hat den Spielzeugladen beliehen, damit ich auf einen Schlag alle Schulden von der Pension tilgen konnte.»
«Du bist seine Tochter, es ist deiner!»
«Es ist alles gut, Ben. Wenn du das Haus in Friedrichstadt verkaufst, machst du kein Minus, darauf hat Papa Hein geachtet.»
Interessant, das hatte Bankmensch Beucker bestimmt nicht zufällig anders gerechnet …
«Du hast ihn ‹Papa Hein› genannt?»
«Er hat das so vorgeschlagen.»
Wenig später wanderten sie zusammen zum Nachbarort Oldsum. Dort stiegen sie auf den verschneiten Deich und blickten runter zum Watt, in dem dicke Eisschollen lagen. Die Gezeiten schoben sie immer weiter ineinander bis hinüber zur Nachbarinsel Sylt.
«Ich stelle mir vor, dass mein Vater jetzt dort hinterm Horizont lebt», sagte Anneke.
«Da, wo sich das Wetter zusammenbraut, bevor es auf die Insel zieht?»
«Genau da.» Sie seufzte.
«Ich freue mich übrigens riesig, eine neue Cousine bekommen zu haben.»
«Und ich erst!»
Ben kratzte sich am Kinn. «Sag mal, hier in der Pension ist doch bestimmt penible Buchführung angesagt, oder?»
«Allerdings, obwohl das nicht gerade meine Hauptbegabung ist.»
Er überlegte. «Was ist deine Lieblingszahl?»
«23», sagte sie, ohne zu überlegen.
«Wieso 23?»
«Kann ich nicht sagen. Ich habe bei der Buchhaltung festgestellt, dass ich auf Primzahlen stehe, die haben für mich etwas Emotionales. Bei denen bleibe ich immer hängen.»
Er lachte. «Wusste Onkel Hein das?»
«Ich denke, er hat mich für eine spinnerte Künstlerin gehalten, die mit Zahlen nicht klarkommt.»
«Da muss ich widersprechen. Onkel Hein muss von deiner Liebe zu den Primzahlen gewusst haben.»
«Wie kommst du drauf?»
Er lächelte. «Gehen wir zu meinem Auto, dann zeige ich es dir.»
Sie schaute ihn überrascht an.
«Sicher?»
«Absolut sicher.»
«Okay.» Sie hakte sich bei ihm ein, und sie wanderten zum Cabrio, das auf dem Hof von Gabi Christiansens Autowerkstatt stand.
«Oh, you live in England? », fragte sie, als sie das Kennzeichen sah.
«Der ist nur geliehen.»
«Ob du’s glaubst oder nicht, in Australien hatte ich den Gleichen in Weiß.»
«Da passt er vom Wetter auch besser hin.»
«Wie man’s nimmt, bei der Hitze dort konnte ich meistens auch nicht offen fahren.»
«Bitte dreh dich mal für einen Moment weg.»
Was sie auch tat. «Ich komme mir vor wie bei der Bescherung, dabei ist doch noch gar nicht Weihnachten.»
Ben holte die Matheversteckerin aus dem Kofferraum. Leider hatten sich die Fäden vertüdelt, sodass es etwas dauerte. Dann endlich konnte er die Marionette hochhalten.
«Es ist so weit.»
Sie drehte sich um.
«Oh, was für eine schöne Figur! Die ist sehr besonders.»
«Dein Vater hat sie für dich gebaut, er hat sie die Matheversteckerin genannt.»
«Matheversteckerin? Was hat er damit gemeint?»
«Du hattest doch Bedenken, die Pension alleine zu führen, oder?»
«Nicht wegen der Gäste oder des Essens, die Buchführung machte mir Angst.»
«Trotz deines engen Verhältnisses zu Primzahlen?»
«Die habe ich dabei ja erst entdeckt.»
«Aber sie haben für dich was Emotionales, sagst du.»
«Schon.»
«Heimlich hast du es also mit Zahlen! Und zwar mehr, als du denkst. Bestimmt meinte Onkel Hein das, könnte ich mir jedenfalls vorstellen.»
Sie sah ihn fragend an. «Du meinst, mit der Matheversteckerin wollte er mir Mut machen?»
Ben nickte. «Er hat sie für dich gebaut, da bin ich sicher. Du kannst sie irgendwo hinhängen, wo du sie immer siehst. Sie wird dich ermutigen – und dich immer an deinen Vater erinnern.»
«Was für eine schöne Idee.»
Dann gingen sie zurück zum Möwennest. Anneke trug die Marionette neben sich her und schaute sie immer wieder an.
«Ich muss unbedingt bald noch mal in den Spielzeugladen kommen», sagte sie.
«Darüber wollte ich gerade mit dir sprechen. Übermorgen veranstalte ich dort einen Basar, wie ihn dein Vater immer gemacht hat.»
Der Entschluss, den Basar stattfinden zu lassen, war ihm gestern Nacht gekommen. Er spürte deutlich, dass er nicht anders konnte – nach allem, was geschehen war.
Ihre Augen blitzten auf. «Kann ich da auch hinkommen?»
Ben lachte. «Aber sicher, ich wollte dich gerade einladen! Natürlich musst du dabei sein, Cousine, was denn sonst?»
Sie lächelte und nahm ihn in den Arm.
Dann erzählten sie bis in die Nacht hinein alle Geschichten, die sie mit Onkel beziehungsweise Papa Hein verbanden. Ben kannte ihn – von einer Handvoll persönlicher Begegnungen einmal abgesehen – im Wesentlichen nur durch die Erzählungen seines Vaters. Seiner Tochter hatte Hein viel ausführlicher von all den Reisen, die er als Seemann unternommen hatte, berichtet. Anneke erzählte natürlich auch von Australien, wo sie lange mit ihrer Mutter gelebt hatte. Und die Welt erwies sich wieder einmal als klein: Irgendwann stellten sie fest, dass sie vor Jahren zur selben Zeit und im selben Hotel in Jakarta übernachtet hatten!
«Da hätten wir uns am Frühstücksbuffet treffen können und uns nicht erkannt», meinte Anneke. «Wie traurig.»
«Schön, dass uns das jetzt nicht mehr passieren würde.»
«Allerdings.»
Es gab viel nachzuholen.
Wichtig war aber vor allem, dass sie sich gefunden hatten und sich offenbar sehr gut verstanden.