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Z u seinem letzten Abend in Friedrichstadt hatte Ben Esther, Lina, Kalle Auge, Buchhändler Frerichs, Thies Martens und Anneke eingeladen. Pastor Martin van Bommels wollte später nachkommen, er musste sich noch von der Untersuchung ausruhen, die ansonsten bestens verlaufen war. Sein Herz war vollkommen in Ordnung. Den blechernen Angstlöscher hatte er in den Untersuchungsraum mitgenommen – die Ärzte hatten es ausnahmsweise erlaubt und die Feuerwehr sogar extra sterilisiert!

Ben räumte den Paravent im vorderen Raum beiseite, damit die Giraffe auf dem Hochrad besser zur Geltung kam. Dann beleuchtete er von hinten einen Scherenschnitt der Häuser am Markt. Er überlegte, ob er die große Modelleisenbahn auf dem Esstisch aufbauen sollte, um damit Gläser und Teller zu transportieren, aber war das vielleicht zu aufwendig? Kurz bevor die Gäste eintrafen, entschied er sich dafür.

Er stellte zwei Tische hintereinander auf und deckte sie mit Leinendecken ein, darauf platzierte er Kerzenleuchter. Das Licht flackerte und warf bizarre Schatten an die Wände, wodurch die Spielzeuge im Raum zum Leben erweckt wurden.

Er lächelte hoch zum Regal. «In Ordnung für dich, Onkel Hein?»

Sein «Ja» meinte er deutlich zu hören.

Aber so schön alles aussah, blieb es ein schmerzlicher Abschied.

Es begann mit Nintje. Leider konnte sie nicht dabei sein, weil sie zu einem Bürgermeisterinnentreffen nach Köln musste, das am nächsten Tag um zehn begann. Zwei Stunden bevor die Gäste kamen, schaute er noch bei ihr vorbei.

Sie gingen nach draußen und stellten sich an die zugefrorene Treene.

«Danke für alles», sagte er. «Du hast es mir nicht immer leicht gemacht. Aber ich schätze es, wie loyal du Onkel Hein gegenüber warst.»

«Danke.»

«Sehen wir uns wieder?»

«Irgendwann bestimmt.»

Sie schwiegen einen Moment.

«Ich habe noch eine Kleinigkeit für dich», meinte er.

Ben überreichte ihr sein Geschenk in einem Samtbeutel, nicht größer als eine Taschenuhr. Sie packte es vorsichtig aus. Es war der glatte Mondstein von Kalle Auge. Er schimmerte im Licht der Straßenlampe.

«Vielen Dank», flüsterte sie, «er ist wunderschön.»

Dann umarmte sie ihn.

«Ich habe auch etwas für dich.»

Sie reichte ihm einen Umschlag. Es war ein Gutschein für zwölf Massagestunden bei einem Yogameister in der Nähe seines Hotels in Singapur.

«Wie aufmerksam von dir», staunte er. «Vielen Dank.»

Sie umarmten sich erneut.

«Und jetzt?», fragte er.

«Tanzen?»

«Wo?»

«Auf dem Eis?»

«Gute Idee.»

«Hast du dafür noch Zeit?»

«Immer.»

Sie gingen rein, setzten sich in die Sessel vor der Rezeption und zogen ihre Schlittschuhe an. Fiete ließen sie drinnen, was der mit tieftraurigem Blick quittierte. Auf den Schlittschuhen staksten sie über die Straße zum nahe gelegenen Ostersielzug. Das Mondlicht schien auf die Hausdächer hinter den Giebeln.

Und dann wagten sie sich aufs Eis. Es knirschte unter ihren Kufen. Anfangs liefen sie nebeneinanderher. Dann drehte Nintje plötzlich auf und legte ein ziemliches Tempo vor, er kam kaum hinterher. Die Giebelhäuser zogen schnell an ihnen vorbei, wie im Traum. Sie war eine fantastische Läuferin. Gemeinsam tauchten sie ab in tiefdunkle Abschnitte, sogar das Eis war hier pechschwarz.

Irgendwann wurden sie langsamer, um wieder zu Atem zu kommen. Sein Gesicht war schweißüberströmt, ihres auch. Wenn sie jetzt stehen blieben, würde ihr Schweiß anfrieren, fürchtete er.

Am Marktplatz waren die Scheinwerfer, die die Giebelhäuser anstrahlten, inzwischen ausgestellt. Davor beleuchteten nur noch einige Straßenlampen das grobe Kopfsteinpflaster, das mit einer hauchdünnen Schicht Pulverschnee bedeckt war. In den Straßen und auf dem Eis war niemand außer ihnen zu sehen. Ganz Friedrichstadt gehörte in diesem Moment ihnen.

Nintje zeigte vor ihm atemberaubende Pirouetten, drehte sich und fuhr ein paar Meter rückwärts weiter.

«Onkel Hein hatte recht, du bist wirklich eine Tänzerin», meinte er bewundernd.

Ihr war das Kompliment anscheinend etwas unangenehm, sie überging es lieber. «Wollen wir noch ein Stück die Treene herunterlaufen?», schlug sie vor.

«Da sehen wir doch gar nichts.»

«Keine Angst, ich kenne mich aus.»

«Okay.»

Er wollte ihr glauben, war aber nicht überzeugt. Sie begaben sich auf den schwarzen Fluss, ein schneidend kalter Wind wehte ihnen entgegen. In der Dunkelheit fuhren sie in Richtung des nächsten Ortes, Schwabstedt, der einige Kilometer entfernt lag. Offiziell waren die Fließgewässer nicht zum Betreten freigegeben, woher war sich Nintje also sicher, dass die Eisdecke hielt?

Ben wischte die Zweifel einfach beiseite und beschloss, ihr zu vertrauen. Nach den schmalen Kanälen in Friedrichstadt kam ihm der Fluss riesig vor. In der Finsternis war das ein bisschen unheimlich, auch wenn der halbe Mond etwas Licht spendete. Er hielt sich an Nintje, die ohne jedes Zögern voranstrebte. Wie gerne wäre er Hand in Hand mit ihr gelaufen – einfach, weil es in diesem Moment schön gewesen wäre. Aber das hätte er sich niemals getraut.

Du gehst in wenigen Tagen nach Singapur, ermahnte er sich, wohin sollte das führen?

Bald würde er sein Amsterdamer Hotelzimmer mit einem anderen am Ende der Welt tauschen, dann lagen Tausende Kilometer zwischen ihnen. In diesem Moment kam es ihm plötzlich so vor, als führte sein Umzug in ein Nichts, das er dann mit beliebigen Aktivitäten füllen würde. Es erschien ihm komplett austauschbar, Jakarta, Singapur, alles das Gleiche.

Wo würde man die Urne mit seiner Asche wohl hinstellen, wenn er mal nicht mehr war? Hinter die Rezeption eines gesichtslosen Businesshotels? Er holte tief Luft.

So schlimm war es auch wieder nicht, er sollte sich nicht verrückt machen. Das Gefühl der Sinnlosigkeit würde an seinem neuen Wohnort nur anfangs auftauchen und nach kurzer Zeit verschwinden, das war bisher immer so gewesen. Wieso sollte es dieses Mal anders sein?

Als sie irgendwann vor dem Spielzeugladen ankamen, fuhr er einmal um Nintje herum und blieb direkt vor ihr stehen.

«Ginge es vielleicht, dass wir uns ein einziges Mal küssen?», fragte er.

Sie schaute ihn ernst an. Dann näherten sich ihre Köpfe. Nintjes Lippen fühlten sich an wie Frühling, Sommer und Herbst, und das mitten im Winter. Sie mochten sich nicht voneinander lösen.

«Geh jetzt», flüsterte sie plötzlich. «Bitte! Alles andere macht große Probleme.»

Sie hatte recht.

«Ich werde an dich denken, Ben.»

«Ich auch an dich, Nintje.»

Dann entfernte sie sich, ohne sich noch einmal umzudrehen. Was konsequent war und wohl besser für sie beide.

Er schaute ihr nach, bis sie hinter dem alten Haus mit der schrägen Wand verschwunden war. Er war sich sicher, richtig gehandelt zu haben. Aber wieso fühlte er sich dann so elend?

 

Das anschließende Essen im Spielzeugladen lenkte ihn etwas ab. Ohne dass sie sich abgesprochen hatten, erschienen alle in festlicher Kleidung. Esther trug ein Cocktailkleid, Lina einen langen knallroten Rock, Kalle Auge und Piet Frerichs einen Smoking und Thies Martens einen Seidenanzug, dazu hatte er sich einen Micky-Maus-Schlips umgebunden. Anneke erschien in einem eleganten anthrazitfarbenen Hosenanzug.

Ben hatte Tapas zubereitet, israelisch, arabisch, deutsch, von allem etwas. Darunter seine Lieblingsvorspeise Baba-Ghanoush-Püree aus gegrillten Auberginen, Tahini, Zitronensaft, Knoblauch und exotischen Gewürzen, dazu Shawarma und Falafeln. Die Zubereitung war eine logistische Herausforderung, weil sich die kleine Küche oben in Onkel Heins Wohnung befand und er alles über die schmale Holzstiege nach unten tragen musste. Zum Glück half ihm Anneke.

Über der Tafel im Spielzeugladen schaukelten die philippinischen Auslegerboot, auf den Tisch hatte Ben Spielzeuge gestellt, die aus Coladosen gebastelt worden waren. Die Eisenbahn fuhr im Kreis und transportierte Teller und Schüsselchen. Dazu hatte Ben frische Blumen besorgt, die seine Gäste mit nach Hause nehmen sollten, weil er am nächsten Morgen abreisen würde. Sie standen in kleinen bunten Vasen aus Onkel Heins Schränken.

Alle redeten noch über den sensationellen Basar, über das bevorstehende Weihnachtsfest und über Friedrichstadt. Thies erzählte, dass er vor Jahren bei einem Geografiequiz im Fernsehen eine Reise nach Tunesien gewonnen hatte. Er hatte sie nie angetreten, da hätte er ja woanders übernachten müssen. Unvorstellbar: Er hatte Friedrichstadt in seinem ganzen Leben nur wenige Tage verlassen!

Beim Abschied fielen sich alle in die Arme, Ben half Thies in seinen Ferrari-Rollstuhl. Anschließend verabschiedete er sich von seiner Cousine (das «Groß-» ließen sie weg, es hörte sich weiter weg an, als es war). Anneke würde in seinem ehemaligen Lavendelzimmer in Nintjes Pension übernachten.

«Wir sehen uns!», sagte er.

«Spätestens, wenn wir Onkel Heins Urne dem Wasser übergeben», sagte sie.

«Im Frühling komme ich auf jeden Fall wieder nach Friedrichstadt», versprach er.

Er hatte es immer für einen Spruch gehalten, wenn man sagte, einem werde beim Abschied ganz schwer ums Herz. Aber an diesem Abend fühlte es sich für ihn genauso an.

 

In seiner letzten Nacht in Friedrichstadt schlief er im Alkoven. Zugegeben, es war dort eng, er konnte die Beine nicht ganz ausstrecken – aber wer schlief schon mit durchgedrückten Knien? Er überlegte immer noch, wie er Onkel Heins Universum für die Nachwelt erhalten konnte. Am liebsten würde er den Laden an die Friedrichstädter verschenken, als Museum oder als Ort zum Spielen, für Kinder und Erwachsene. Aber wovon sollte er das als normaler Angestellter bezahlen?

Vor allem musste er an Nintje denken, die seit Stunden im Zug saß und sich in diesem Moment jede Minute weiter von ihm entfernte. Er mochte sich nicht vorstellen, dass sie bald aus seinem Leben verschwunden wäre. Bestimmt würden sie sich E-Mails schreiben oder skypen. Aber vielleicht wären sie sich auch fremd, wenn sie sich das nächste Mal sahen.

Schon um sich selbst zu schützen und weil es aussichtslos war: Friedrichstadt und Singapur lagen genau 10185 Kilometer auseinander, er hatte im Internet nachgesehen.

Vor dem Einschlafen leuchtete er noch mal mit seiner Taschenlampe auf das Spielzeug, das im Raum verteilt stand. Dabei entdeckte er ein grau lackiertes Flugzeug aus Balsaholz, das seiner Aufmerksamkeit bisher entgangen war. Es trug die Aufschrift «Pan American». Diese Fluglinie gab es schon lange nicht mehr.

Er stand auf und holte es zu sich. Sofort tauchten in seiner Fantasie zahlreiche Reisen in die ganze Welt auf. Mit dem Flugzeug auf dem Kopfkissen fiel er irgendwann in einen tiefen Schlaf.