B lieb die Frage nach dem Zauberer.
Die beantwortete sich erst, nachdem sie ein halbes Jahr im kleinen Haus von Onkel Hein gewohnt hatten. Der Zauberer hing neben dem Eingang des Spielzeugladens. Ben war er vertrauter als viele Menschen, er konnte ihn aber nicht erkennen. Dazu hätte er in den Spiegel schauen müssen.
In den Papierbergen der Werkstatt fand Nintje zufällig einen Brief, den Onkel Hein an Ben adressiert hatte. Ben traute sich kaum, ihn zu lesen, deswegen las Nintje ihn mit ihrer angenehmen Stimme vor.
Mein lieber Ben,
ich vermute doch sehr, dass Du Heiligabend in Friedrichstadt und nicht in Singapur verbracht hast. Wenn ich richtigliege, hast Du es gut gemacht, es gibt keinen schöneren Ort für das Weihnachtsfest!
Ja, Du bist der Zauberer.
Schau ihn Dir an: Er wirkt von der einen Seite amüsiert, von der anderen melancholisch. Ben, Du warst ein Junge, der im Inneren immer daran glaubte, dass er an der richtigen Stelle ankommt. Dein Grundvertrauen ins Leben konnte Dir eigentlich niemand nehmen.
Doch dieser wunderbare Glaube wurde am verfluchten Heiligabend in der Frankfurter Kirche erschüttert. Das soll die melancholische Seite zeigen. Wie gerne hätte ich Dir Scham und Schmerz genommen, damals habe ich so mit Dir gelitten! Es gibt nur einen Weg da raus: Du musst noch einmal an den Punkt zurückgehen, der so wehgetan hat, Dich dort um hundertachtzig Grad drehen und dann beherzt vorwärtsgehen. Deshalb habe ich Dir die Trompete zukommen lassen. Ich weiß, dass das etwas aufdringlich wirken kann. Mein Rat ist trotzdem: Spiele sie, und sei es nur ein paarmal. Wo immer ich gerade bin, freue ich mich über jeden Ton, versprochen (selbst wenn es quietscht)!
Ich werde Dir übrigens nicht verraten, warum Du der Zauberer bist. Wenn es Dir bewusst wird, ist der Zauber nämlich weg. Nur so viel möchte ich sagen: Du kannst bei anderen Menschen sehr viel in Gang setzen. Wo wir gerade dabei sind – willst Du nicht den Spielzeugladen weiterführen? Überlege es Dir – wenigstens für ein paar Minuten!
Abschließend eine kleine Warnung von Deinem alten Onkel, sorry, das muss sein: Eine ziemlich blöde Angelegenheit im Leben wird auch Dich erwischen, vor der kannst Du nicht weglaufen. Bis Mitte dreißig habe ich gedacht, nur die anderen werden älter. Dann sagte eine Ärztin nach einem Routinecheck zu mir: «Ihr Herz ist in Ordnung – für einen Mann Ihres Alters.»
Ich war schockiert!
Man muss sich wegen des Älterwerdens aber auch nicht verrückt machen, ich sage nur: Take care!
Mein lieber Ben, ich habe mich immer nach meiner Familie gesehnt, es aber nicht oft hinbekommen, mich zu melden. Trotzdem habe ich mich riesig gefreut, wenn ich gehört habe, dass Du Deine Jobs mit einer gewissen Lässigkeit genommen hast. Das hat mich beruhigt und inspiriert!
Zaubere Dich weiter durchs Leben, denn es ist wunderschön! Gerade Du empfindest instinktiv die guten Seiten, egal was andere reden. Das ist eine große Gabe.
Was mich betrifft, muss ich zugeben, bin ich nicht halb so weise, wie ich hier gerade tue: Auch im hohen Alter von siebenundachtzig gehe ich nicht gerne, denk das bloß nicht! Ich bin auch nicht in Frieden entschlafen oder so etwas. Ich wäre gerne in Frieden geblieben, das ist die Wahrheit! Aber, mein lieber Ben, wenn Du gehen musst, kannst Du nichts dagegen machen. Mein einziger Trost ist, dass Ihr auf meiner Beisetzung geweint habt – wehe nicht!
Dein Dich liebender Onkel Hein
PS : War Nintjes Trauerrede nicht faszinierend? Aber glaube ihr nicht jedes Wort, so gut, wie sie behauptet, war ich nie. 😊