Es war bloß pures Glück,
einen Bus zu erwischen, als die Hintertür noch offen stand. Aber jetzt, da ich seit vierzig Minuten darin herumfahre, muss ich mich entscheiden, was ich als Nächstes tun soll. Wenn ich zu lange im Bus bleibe, wird er mich wieder zurück zum Omega-House bringen. Es ist unwahrscheinlich, dass meine Glückssträhne lange genug hält, dass ich an dem Ort vorbeifahre, ohne dass Curtis meinen Duft wittert. Auch wenn ich weiß, wie sehr ich stinke. Gott sei Dank gibt es in diesem Bus keine Alphas, sonst würde ich in ernsthaften Schwierigkeiten stecken.
Mein Blick ist direkt auf das Fenster neben mir gerichtet, und ich versuche zu ergründen, wo ich bin. Wir fahren an einem bekannten Park vorbei und ich begreife, warum er mir bekannt vorkommt. Tad lebt hier in der Nähe. Er hat mich über die Jahre ein paar Mal mit zu sich nach Hause genommen, als es im Ropers Wartungen gab, und er es nicht riskieren wollte, dass ein Fremder mich findet.
Ich ziehe an der Schnur, um dem Fahrer zu signalisieren, er soll anhalten, und stelle mich neben eine Tür, kann es kaum abwarten auszusteigen und nach Tad zu suchen. Ich weiß nicht, ob er zu Hause sein wird oder ob er immer noch im Gefängnis ist, aber einer der Köche meinte, dass die Angestellten der Zuchtfarm normalerweise nicht länger als ein paar Tage dabehalten werden, ehe sie aufgrund eines schriftlichen Schuldanerkenntnisses vor Gericht freigelassen werden und horrende Geldstrafen reingedrückt bekommen. Die Behörden suchen meistens nach den Besitzern, den Drahtziehern dieser Einrichtungen, und nicht so sehr nach den Betas, die sich eigentlich nur den Lebensunterhalt verdienen wollen. Solange Tad keine direkte kriminelle Tätigkeit nachgewiesen werden kann, ist es möglich, dass er im Moment zu Hause sitzt.
Als ich aus dem Bus steige, mache ich mich sofort zurück in den Park auf. Ich erinnere mich an zwei Säulen vor Tads Gebäude, die man vom Teich aus sehen konnte. Wenn ich es dorthin schaffe, sollte ich es auch schaffen, den Weg zu ihm nach Hause zu finden.
Nachdem ich über
eine Stunde auf der Treppe gesessen habe, fasse ich endlich den Mut, um an Tads Tür zu klopfen. Zuerst sind keine Geräusche zu hören. Kein Fernseher oder Radio auf der anderen Seite. Aber gerade, als ich mich umdrehen und gehen will, hält mich das Geräusch von Schritten davon ab, die in meine Richtung kommen.
Ein kleines Fenster in der Mitte seiner Eingangstür geht auf und Tads Auge spickt hindurch. Eine Sekunde später fliegt die Tür auf und er zieht mich in seine Arme. „Max, Süßer, bist du das?“
Es fühlt sich gut an, so gehalten zu werden, aber es fühlt sich auch falsch an, weil es von Tad kommt. Er hat mich über die Jahre hinweg zwar umarmt, aber wir waren uns nie körperlich nah. Obwohl ich vielleicht für eine Weile in ihn verknallt war, er hat nie irgendein Anzeichen von Interesse gezeigt. Aber die Erleichterung, die er offensichtlich darüber empfindet, mich gefunden zu haben, ist fast greifbar.
„Es tut mir leid, dass ich einfach so hier aufkreuze.“ Ich umarme ihn eine weitere Sekunde lang und ziehe mich dann zurück. „Aber ich wusste nicht, wohin ich sonst gehen sollte.“
„Ich bin so froh, dass du es hast. Ich hatte gehofft, dass du in einer der guten Unterkünfte, wie das Omega-House kommen würdest, damit du neu anfangen kannst, aber ich schätze, das ist nicht passiert…“
„Naja, ich bin eigentlich dorthin gekommen und alles war nett bis… naja, egal, ich konnte einfach nicht dort bleiben, also dachte ich mir, ich schaue nach dir und sehe, ob es dir gut geht. Ich dachte, du wurdest verhaftet.“
Tad knurrt und drängt mich zum Sofa. „Das wurde ich, aber sie haben uns nur über Nacht da behalten. Ich glaube nicht, dass es zu einer Anzeige kommt.“
„Gut. Ich habe mir Sorgen gemacht.“
Tad lächelt und greift nach meiner Schulter. „Ich bin so froh, dass du hier bist. Du hast mir wirklich gefehlt.“
Seine Finger streifen über meine Haut hoch bis zu meinem Nacken. Und seine Pupillen sind unter seinen Lidern geweitet. Scheiße. Er reagiert auf meine Läufigkeit.
Ich ziehe mich aus seinem Griff und gleite auf die andere Seite der Couch. „Ich brauche Blocker. Es hat gerade heute begonnen und dieses Verlangen in mir ist beinahe schmerzhaft.“
Tad lehnt sich nach vorn, kommt langsam auf mich zu, seine rechte Hand ist ausgestreckt. „Du musst es nicht mehr blocken, Süßer. Du bist jetzt frei. Du kannst ein normales Leben führen. Wir können ein normales Leben führen… zusammen.“
„Was?“ Ich verstehe nicht, was er sagt. Es hört sich fast wie ein romantischer Antrag an und nicht wie eine Betreuer-Kind-Beziehung, die wir so lang hatten. Seine Hormone müssen so wie meine im Moment auf Hochtouren laufen. „Vielleicht sollten wir die Fenster aufmachen. Oder ich kann auch gehen, bis die Blocker wirken.“
„Nein.“ Tad zieht mein Handgelenk zu seiner Nase und atmet tief ein. „Du riechst so gut. Ich habe immer gewusst, dass das so sein würde. Ich hatte vor, dich zu fragen, ob du mit mir zusammenziehen möchtest, als die Einrichtung gestürmt wurde. Du hättest doch Ja gesagt, nicht wahr?“
Was? Nein! Naja, vielleicht hätte ich das, aber das war vor… jetzt, da ich weiß, was er will, weiß ich zweifellos, dass er nicht das ist, was ich will. „Tad, ich glaube, du bist verwirrt. Meine Läufigkeit macht dir was vor.“
„Nein, Max. Ich habe viel darüber nachgedacht… über dich. Ich wollte das schon seit einer langen Zeit, und jetzt, wo du bereit bist, können wir zusammen sein.“
„Was? Ich bin nicht bereit.“ Ich stehe auf und schaffe etwas Distanz zwischen uns, rücke näher zur Eingangstür. „Du bist für mich wie ein Vater… oder zumindest ein Bruder. Das ist nicht richtig.“
„Max, das war, als du noch ein Kind warst.“ Er steht auf, kommt aber nicht näher. „Du bist jetzt ein Mann. Ein wunderschöner Mann, der mich braucht.“
Heilige Scheiße. Das wird nicht passieren.
„Tut mir leid, Tad. Ich hätte nicht kommen sollen.“ Ehe er mich aufhalten kann, renne ich aus seiner Wohnung und die Treppe runter. Ich weiß nicht, wieso ich mich so gegen den Gedanken sträube, mit Tad zusammen zu sein. Er ist ein guter Mann und es gab Zeiten, als ich nichts auf der Welt mehr wollte, als dass er mich auf diese Weise bemerkt.
Aber diese Zeiten sind vorbei. Ich weiß nicht, was sich verändert hat oder wann, aber etwas hat
sich verändert. Ich bin nicht bereit für das hier. Und draußen in der Öffentlichkeit zu sein ist einfach nur dumm. Sobald mich ein Alpha wittert, ist es vorbei. So wie mit Curtis.
Curtis.
Wieso fühlt sich der bloße Gedanke an seinen Namen wie eine beruhigende Decke an, die mich umhüllt? Wo ist die Angst, die ich vor ein paar Stunden gespürt habe, als er mich mit Verlangen und Verzweiflung in seinem Blick angeschaut hat? Wieso denke ich darüber nach, zurück ins Omega-House zu gehen?
Ohne Geld habe ich nicht viele Möglichkeiten. Und während ich läufig bin, ist das Einzige, was mir wirklich wichtig ist, mich so weit es geht von den Alphas fernzuhalten. Es gibt nicht viele Orte, die mir einfallen, aber ich bin nicht weit weg vom Ghetto, in dem ich aufgewachsen bin. Omega-Villes sind überall in der Stadt verstreut und es sind sichere Häfen für Omegas. Zumindest waren sie das mal. Mit all den vor Kurzem durchgeführten Razzien in Zuchtfarmen sind Gerüchte über Omegas, die von der Straße aufgegabelt und nie wieder gesehen werden, aufgetaucht. Ich weiß nicht, ob sie stimmen oder einfach nur Großstadtmythen sind, damit die Omegas von der Straße wegbleiben, aber ich habe keine andere Wahl.
Ich mache mich auf den Weg in eine von diesen ‚Städten in den Städten‘, die am nächsten zu Tads Wohnung liegt. Heute weht eine sanfte Brise, aber wenn der Wind etwas stärker wird, könnte er meinen Duft mit all den anderen Omega-Pheromonen vermischen. Es ist kein brillanter Plan, aber ich hoffe, dass er mich durch die nächsten paar Tage bringt. Ich bin schon jetzt weniger geil als ich es war, als ich in diesen Bus gestiegen bin.
Vielleicht wird das ein schneller Zyklus und ich komme vor meinem nächsten an Blocker.