»Hier ist der Anschluss von Ben …«
Fleischer knallte den Hörer aufs Telefon und rang um Fassung. Noch etwas mehr als eine halbe Stunde bis zur Sitzung und sein wichtigster Mann war verschwunden.
Er zündete sich eine Zigarette an und nahm ein paar hektische Züge. Jetzt hatte er Ben bereits dreimal auf die Mailbox gesprochen, aber er rief einfach nicht zurück. Dabei hatten sie sich extra so früh im Büro verabredet, um die letzten Änderungen, die Ben noch spät abends an dem Zahlenmaterial vorgenommen hatte, gemeinsam durchzugehen. Wenn er nicht bald auftauchte, war er aufgeschmissen.
Er rauchte ein paar Sekunden still vor sich hin und rief dann ins Vorzimmer: »Nadine, ist er mittlerweile im Haus?«
»Nein, Herr Fleischer. Ich habe ihm gerade eine Nachricht am Schreibtisch hinterlassen.« Sie machte eine kurze Pause und erschien, als sie keine Antwort bekam, mit ihrem Timer in der Hand im Türstock: »Möchten Sie jetzt über die Termine von heute sprechen?«
Mit gequältem Gesichtsausdruck legte Fleischer die Zigarette in den Aschenbecher und wies seiner Assistentin wortlos den Stuhl vor seinem Schreibtisch zu.
»Schaffen Sie es diesmal zum Tennis?«, wiederholte Nadine und fügte, weil sie erneut keine Antwort bekam, hinzu: »Kann ich sonst noch etwas tun?«
»Ja, schaffe ich. Und nein, Sie können gehen. Hauptsache, Sie bringen mir Ben so schnell wie möglich«, antwortete Fleischer kurz angebunden, weil er mit seinen Gedanken bereits bei der abendlichen Tennisverabredung mit Matzner war. Das Match würde er sich nicht verderben lassen. Schließlich hatte er noch eine Rechnung offen mit Matzner, weil der das letzte Mal, da war Fleischer ganz sicher, geschummelt und ein paar seiner Bälle fälschlich als Aus erklärt hatte. Matzner war, wie Fleischer fand, zwar enorm ambitioniert, aber eindeutig der schwächere Spieler und ein schlechter Techniker. Heute Abend würde er sich die Schummelei nicht mehr bieten lassen und seinen Gegner vom Platz fegen. Vorausgesetzt, das Wetter hielt.
Er griff nach den Zigaretten, die vor ihm lagen, und zündete sich eine an. Beim ersten Abaschen stellte er fest, dass die Zigarette, die er zuvor geraucht hatte, immer noch im Aschenbecher vor sich hinglimmte. Er drückte beide Zigaretten aus und hüstelte. Was für ein schrecklicher Tag – dabei hatte er noch nicht einmal richtig angefangen.
Fleischer schloss die Augen, bettete seinem Kopf in die offenen Hände und sagte leise: »Wieso muss ausgerechnet vor dieser Sitzung alles schiefgehen? Womit habe ich das verdient?« Obwohl er wie verrückt arbeitete, einen guten Job machte und seine Leute antrieb, erreichte er von Jahr zu Jahr immer knapper die Umsatzvorgaben. Seit die Versicherung von der Ratingagentur herabgestuft worden war, sanken die Zahlen noch weiter in den Keller. Und nun erwartete die Chefetage einen Richtungswechsel – auf der Basis von nichts. Noch mehr arbeiten ging doch gar nicht: Er raste schon jetzt von einem Meeting zum nächsten, war ständig auf Reisen, kam kaum einen Wochentag vor 20 Uhr nach Hause und verbrachte an den Wochenenden mindestens einen Tag im Homeoffice. Sein pubertierender Sohn war schon wie ein Fremder für ihn. Seine Frau, die neuerdings wieder angefangen hatte zu arbeiten, machte gute Miene zum bösen Spiel. Und wofür das alles? Frustriert griff er zu der Zigarettenschachtel, die auf dem Schreibtisch lag, zog die Hand dann aber wieder zurück.
»Pah«, rief Fleischer aus und setzte sich im Sessel auf. »Und wer soll in der Zwischenzeit die Arbeit machen, wenn ich mich mehr bewege?«
Er fasste sich mit der Hand an die linke Brust, während er ein paar Mal tief durchatmete. So ging es nicht weiter. Er musste härtete Saiten aufziehen.
»Haben Sie Ben endlich gefunden?«, rief er barsch ins Vorzimmer.
Das Klingeln des Telefons durchbrach die Stille, doch keiner nahm ab. Nadine war offensichtlich nicht am Platz.
»Das ist doch nicht zu fassen!«, murmelte Fleischer, griff entnervt zum Hörer und sagte: »Ja!«
»Du kannst dir nicht vorstellen, was heute Morgen zu Hause los war«, sprudelte eine Frauenstimme los. »Erst wollte Paul nicht aufstehen. Und als ich ihn endlich aus dem Bett hatte, erklärt er mir, dass er keinen Bock mehr auf Schule hat. Keinen Bock!? Wie findest du das?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr die Stimme fort: »Dann hab ich gesagt: ›Du hörst jetzt sofort mit dem Unfug auf und gehst ins Bad.‹ Und was macht er? Er schaut mich rotzfrech an und sagt: ›Mama, es gibt echt Wichtigeres als Schule.‹ ›Was denn?‹, frag ich. Und was meinst du, was er darauf erwidert hat? ›Schildkröten vor dem Aussterben retten zum Beispiel.‹ Deshalb will er jetzt die Schule schmeißen und sich einen Job auf dem Bau suchen. Mit dem Geld will er dann auf die Galapagos-Inseln. Schildkröten! Kannst du dir das vorstellen! Was gehen uns diese Viecher an? Er soll Abitur machen. Also hab ich zu ihm gesagt: ›Paul, bitte, komm zur Vernunft …‹«
»Wo ist er jetzt? In der Schule?«, unterbrach Fleischer seine Frau etwas unsanft und schaute auf die Uhr. Noch knapp 25 Minuten bis zur Sitzung. Und er hatte weder eine Nachricht von Ben noch die Sitzungsunterlagen. Es musste eine Lösung her, und zwar schnellstens.
»Keine Ahnung«, antwortete sie leise und fügte etwas lauter hinzu: »Als ob ich nicht schon genug Probleme hätte.«
»Wieso denn du?«, warf Fleischer verärgert ein. Seit seine Frau wieder halbtags arbeitete, funktionierte nichts mehr zu Hause.
»Meinst du, mich lässt das kalt?«, setzte er beleidigt nach.
»Jetzt reg dich doch nicht gleich wieder auf! DU kriegst ja von all dem fast nichts mit, weil du nie da bist.«
»Fängst du schon wieder damit an! Du weißt doch, was hier gerade los ist!« Er hielt kurz inne. Als er sich etwas beruhigt hatte, fragte er: »Und was soll ich jetzt deiner Meinung nach tun?«
»Du musst ihn anrufen und zur Vernunft bringen. Sofort! Ich mach mir solche Sorgen!«
»Beruhig dich doch, Schatz«, versuchte er seine Frau zu beschwichtigen, er konnte schließlich nicht ewig mit ihr telefonieren. »Gleich fängt das Meeting mit den Bereichsleitern an. Du weißt doch, wie wichtig das für mich ist.«
»Bitte!«, flehte Frau Fleischer.
»Also gut«, entgegnete er kopfschüttelnd. Alles musste man selber machen!
Und mit leicht angespanntem Unterton fügte er hinzu: »Ich meld mich, sobald ich mehr weiß. Tschüss.«
Noch 20 Minuten bis zur Sitzung. Er kramte die Papiere auf seinem Schreibtisch hervor, die er am Vorabend mit Ben durchgesprochen hatte. Sie waren voll mit seinem Gekritzel – und damit unkopierbar. Wenn Ben nicht bald mit den aktualisierten Dateien kam, würde das Meeting in einem Desaster enden.
Fleischer ließ sich in seinen Sessel zurückfallen. Als er im Vorzimmer Geräusche hörte, rief er nach draußen: »Ist er endlich aufgetaucht?«
Nadine trat ins Zimmer und schüttelte wortlos den Kopf.
»Das darf doch alles nicht wahr sein!«, rief Fleischer aufgebracht. »Holen Sie mir Georg her. Sofort!«
»Aber Ben hat eine ganz eigene Ordnung in seinem PC«, fuhr Georg fort. »Ich weiß, das ist eigentlich nicht erlaubt, weil wir ein allgemeines Ablagesystem haben. Und ich habe ihm oft genug gesagt, dass das nicht geht. Sonst finden wir anderen uns nie zurecht. Die anderen Kollegen sagen auch …«
»Schluss!«, fiel Fleischer Georg ins Wort. Warum konnte er nicht einfach mal ohne Beschwerden und Anmerkungen tun, was man ihm sagte?
Mit einem strengen Blick, der keinen weiteren Widerspruch duldete, ordnete er an: »Ich darf Sie bitten, die Papiere auf dem schnellsten Weg zusammenzusuchen. Punkt.«
»Aber …«
Der Signalton des Handys, das auf dem Schreibtisch lag, übertönte Georgs Widerstand. Fleischer griff nach dem Apparat und sagte, während er die eingehende Nachricht öffnete: »Kein Aber!«
»Und???«, schrieb seine Frau. »Hast du Paul schon erreicht? Ruf mich an!!!«
Er sah zu Georg hoch, der mit versteinerter Miene vor seinem Tisch stehen geblieben war, und sagte in scharfem Ton: »Wenn ich mit leeren Händen in die Sitzung gehen muss, ziehe ich Sie beide dafür zur Verantwortung.«
Kaum hatte Georg unter stillem Protest das Büro seines Chefs verlassen und die Tür hinter sich geschlossen, schlug Fleischer mit der flachen Hand auf den Tisch und schrie: »Tut denn hier keiner, was er soll?«
Wie konnte Ben ihn nur so hängen lassen! Wenn er als junger Mann eine solche Chance auf dem goldenen Tablett serviert bekommen hätte, er hätte zugepackt und das Beste daraus gemacht. An seiner bevorstehenden Hochzeit konnte es nicht liegen. Bens Verlobte, eine sehr begabte und engagierte junge Frau, arbeitete ebenfalls bei der Versicherung. Sie hatte selbst Ambitionen und wusste mit Sicherheit, wie wichtig dieser Karriereschritt für ihren Zukünftigen war.
Fleischer schüttelte den Kopf. Er hatte so große Stücke auf den Jungen gehalten. Seine Leidenschaft für Oldtimer, sein Talent im Umgang mit Kunden und Vorgesetzten wie auch seine positive Art, das alles waren gute Voraussetzungen für ein berufliches Vorankommen, auch wenn Ben noch nicht so erfahren war und keinen Studienabschluss wie Georg hatte. Aber er brauchte einen Mann an seiner Seite, auf den er sich jederzeit verlassen konnte. Und keinen, der sich ständig bitten und betteln ließ. Genau aus diesem Grund hatte er sich bei der Besetzung der Stelle gegen Georg entschieden. Dabei war er früher so ehrgeizig und engagiert gewesen.
Und jetzt ließ ihn Ben genauso im Stich. Was für eine Enttäuschung! Fleischer griff nach seinen Zigaretten und schaute wieder auf die Uhr. Noch 15 Minuten bis zur Sitzung. Wenigstens blieb noch genug Zeit, um seinen Sohn zur Vernunft zu bringen.
Fleischer wählte erneut die Nummer seines Sohnes, erreichte aber nur noch die Mailbox, auf die er entrüstet über die Respektlosigkeit seines Sohnes schimpfte: »Glaub ja nicht, dass du damit durchkommst. Das wird ein Nachspiel haben!«
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er aufgelegt hatte. Völlig außer sich zündete er eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und atmete den Rauch langsam aus, um sich zu beruhigen.
Dann sah er auf die Uhr. In sieben Minuten sollte die Sitzung anfangen und er wusste immer noch nicht, ob er mit den richtigen Unterlagen in den Ring steigen konnte. Um sich etwas zu sammeln, blickte er zum Fenster hinaus in das schöne Blau des Himmels, das nach und nach von einem grauen Wolkenband verdrängt wurde.
»Das fehlt gerade noch, dass es jetzt es auch noch anfängt zu regnen«, meckerte er vor sich hin. »Wieso ausgerechnet heute? Auf einem nassen Tennisplatz kann man doch nicht gewinnen.«
Fleischer drückte die Zigarette aus und fragte ein weiteres Mal im Vorzimmer bei Nadine nach, ob sie Ben endlich gefunden hatte. Doch der blieb wie vom Erdboden verschluckt. Schwerfällig erhob Fleischer sich aus dem Sessel und rückte seine Krawatte für das Meeting zurecht.
Ziele erreichen, Umsatz machen, Status erhöhen, Punkte machen, besser sein als andere – das äußere Spiel lässt sich nicht immer gewinnen, weil du nicht alle Variablen steuern kannst. Wenn du das innere Spiel spielst und dein Bestes gibst, bist du im Entwicklungsprozess. Dann gewinnst du am Ende.