Ihnen wurde die begehrte Stelle zugesagt und Sie finden sich im Sekretariat des Personalbüros ein, um den Arbeitsvertrag zu unterzeichnen. Die Sekretärin übergibt Ihnen ein dreiseitiges Formular (Überschrift: „Arbeitsvertrag“). Sie bittet Sie um Unterzeichnung mit der Bemerkung: „Damit alles formell in Ordnung ist, brauchen wir hier noch Ihre Unterschrift.“ Sie haben im Rechtsberatungsteil einer Wochenzeitschrift gelesen, dass es Vorschriften im Bürgerlichen Gesetzbuch über Formularverträge gibt, wonach in einem Formularvertrag nichts Überraschendes oder Unvorteilhaftes stehen darf. Derart beruhigt unterschreiben Sie. Ein Freund, mit dem Sie später darüber sprechen, hält Ihr Verhalten für unvorsichtig, weil nach seiner Kenntnis das Recht des „Kleingedruckten“ im Arbeitsrecht nicht gelte. – Hat Ihr Freund Recht?
Bis zum Inkrafttreten des sog. Schuldrechtsmodernisierungsgesetz am 1. Januar 2002 galten die verbraucherfreundlichen gesetzlichen Regeln über Formularverträge in Gestalt des „Gesetzes zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ (AGB-Gesetz) nicht im Arbeitsrecht. Das hat sich damals geändert: Die Vorschriften des AGB-Gesetzes wurden in das Bürgerliche Gesetzbuch unter den Paragrafenbezeichnungen § 305 bis § 310 BGB übernommen 20und finden seitdem unter Berücksichtigung „der im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten“ auch hier Anwendung.
Das heißt aber nicht, dass Sie einen Formularvertrag sorglos unterschreiben sollten. Wenn sich die Möglichkeit bietet, sollten Sie auch bei vorformulierten Verträgen die Bestimmungen darauf abklopfen, ob sie wirklich Ihren Interessen entsprechen und ob nicht im Verhandlungswege eine Abänderung möglich ist. Auch in solchen Verträgen gibt es im Übrigen regelmäßig – nicht ausgefüllte oder anzukreuzende – Passagen, die im Einzelfall noch auszufüllen sind – zB Regelungen über die Arbeitszeit, den Arbeitsort, die Beschreibung des Aufgabengebiets uä. Spätestens hier sollte man genau überlegen, was man will.
Nicht in jedem Arbeitsverhältnis wird der Arbeitnehmer mit einem vorformulierten Arbeitsvertrag konfrontiert. Bisweilen gibt es gar nichts Schriftliches. Dann stellt sich die Frage:
Es geht um die Frage, welche Bestimmungen das Arbeitsverhältnis regeln. Wir wollen sie im Folgenden aus Gründen der Anschaulichkeit als Spielregeln bezeichnen, auch wenn ein Arbeitsverhältnis natürlich kein Spiel ist.
Die wichtigste und zentrale „Fundstelle“ für die Spielregeln des Arbeitsverhältnisses ist der Arbeitsvertrag, den Sie mit Ihrem Arbeitgeber geschlossen haben. Diese Fundstelle – man spricht auch von einer „Quelle“ – kann unterschiedlich ergiebig sein.
Der Personalleiter eines Kaufhauses sagt zu einer Bewerberin: „Frau Kern, Sie fangen ab Montag bei uns als Verkäuferin auf einer Halbtagsstelle für 1.100 EUR brutto an.“ Sie erwidert: „In Ordnung.“
Bei der im Beispiel geschilderten Absprache handelt es sich um einen Arbeitsvertrag. Er lässt nämlich erkennen, dass Frau Kern als Arbeitnehmerin zu einer bestimmten Vergütung anfangen soll und dass sie – sehr wichtig – auch einverstanden ist. Verträge kommen nämlich nur im beiderseitigen Einverständnis zustande.
Der beschriebene Arbeitsvertrag ist jedoch – wie Sie sehen – eine wenig ergiebige Quelle, da er nur weniges regelt, nämlich: Arbeitsbeginn, zeitlichen Umfang der Tätigkeit und Vergütung. Wenige Punkte, wenn man bedenkt, was alles im Arbeitsverhältnis wichtig ist und damit zum Streit führen kann. Außerdem ist diese mündliche Form zwar im Grundsatz zulässig, jedoch unzweckmäßig, weil die Regeln, über die Einigkeit erzielt wurde, nur in Ihrem Gedächtnis und dem des Personalleiters gespeichert sind. Das Gedächtnis ist jedoch ein schlechter Speicher. Es kann daher später schon deswegen zum Streit kommen, weil einer von Ihnen – der Personalleiter oder Sie – vergessen hat oder sich falsch erinnert, was vereinbart war. Da sind Sie besser dran, wenn der von Ihnen unterzeichnete Arbeitsvertrag etwa folgende Punkte regelt:
Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme, Probezeit, Kündigungsfristen, Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit, Urlaub, Arbeitsverhinderung, Vergütung, Zulässigkeit von Nebenbeschäftigungen, Vertragsstrafe, evtl. zusätzliche Vergütungen, wie zB Weihnachtsgeld oder Bonus.
Wichtig:
In den Arbeitsvertrag sollten Sie immer als erstes hineinschauen, wenn es zu Differenzen zwischen Ihnen und Ihrem Arbeitgeber kommt.
Ein relativ unbekanntes und wenig beachtetes Gesetz schreibt übrigens vor, dass Ihr Arbeitgeber verpflichtet ist, Sie spätestens innerhalb eines Monats nach dem vereinbarten Beginn des Arbeitsverhältnisses über wesentliche Bedingungen Ihres Arbeitsverhältnisses in Form eines schriftlichen Nachweises zu informieren. Dieses sog. Nachweisgesetz verlangt, dass insbesondere der Arbeitsort, die Art 22der von Ihnen verlangten Arbeitsleistung, die Höhe des Entgelts, die vereinbarte Arbeitszeit, die Dauer des jährlichen Erholungsurlaubs, die Kündigungsfristen sowie die Anwendbarkeit etwaiger Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge schriftlich dokumentiert werden.
Die Spielregeln des Arbeitsverhältnisses bestimmen Sie und Ihr Arbeitgeber, und zwar im Grundsatz gleichberechtigt. Denn zu einem Arbeitsvertrag gehören – wie wir schon gesehen haben – zwei Personen, die zu dem Ausgehandelten „ja“ sagen: Sie und der Arbeitgeber. Es wäre allerdings unrealistisch, außer Acht zu lassen, dass derjenige, der „am längeren Hebel“ sitzt, die Bedingungen weitgehend einseitig formulieren kann.
Der Arbeitsvertrag ist aber nicht die einzige Stelle, wo Spielregeln für das Arbeitsverhältnis niedergelegt sind. Wenn Sie sich zum Beispiel ein Gesellschaftsspiel wie „Mensch ärgere dich nicht“ oder „Mühle“ oder „Monopoly“ zulegen, dann können Sie sich darauf verlassen, dass alle Spielregeln dem Spiel beigegeben sind. Sie brauchen, wenn es zwischen Ihnen und den Mitspielern zum Streit kommt, nur die Spielanleitung zur Hand zu nehmen. In 99% aller Fälle finden Sie hier auch die Lösung. Anders im Arbeitsverhältnis.
Hier können Sie keineswegs sicher sein, dass alle geltenden Spieregeln in Ihrem Arbeitsvertrag enthalten sind. Im Gegenteil: Häufig sind – wie wir schon anhand des Beispiels der Bewerberin um die Stelle einer Verkäuferin gesehen haben – Arbeitsverträge so kurz, dass Sie sich naturgemäß nach anderen Quellen umschauen müssen, um zu erfahren, was in Ihrem Arbeitsverhältnis gilt und was nicht.
Der Gesetzgeber hat sich – an etwas eigenartiger Stelle, nämlich in § 105 der Gewerbeordnung unter der Überschrift „Allgemeine arbeitsrechtliche Grundsätze“ zu dieser Fragestellung folgendermaßen geäußert: „Arbeitgeber und Arbeitnehmer können Abschluss, Inhalt und Form des Arbeitsvertrages frei vereinbaren, soweit nicht zwingende gesetzliche Vorschriften, Bestimmungen eines anwendbaren Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung entgegenstehen. Soweit die Vertragsbedingungen wesentlich sind, richtet sich ihr Nachweis nach den Bestimmungen des Nachweisgesetzes.“
23Hier wird deutlich, dass wesentliche Quelle für die Spielregeln des Arbeitsverhältnisses der Arbeitsvertrag ist, dass es daneben aber noch andere Quellen gibt: Gesetzliche Vorschriften, Bestimmungen eines anwendbaren Tarifvertrags und Bestimmungen einer anwendbaren Betriebsvereinbarung.
Als wichtigste weitere Quelle sind zunächst die arbeitsrechtlichen Gesetze zu nennen. Diese Gesetze sagen Ihnen, was im Arbeitsverhältnis sein darf und was nicht und was bestimmte Verhaltensweisen für Folgen haben.
Frau Kern (aus unserem obigen Beispiel) bittet ein halbes Jahr nach Arbeitsbeginn um bezahlten Jahresurlaub. Der Arbeitgeber sagt: „Von bezahltem Urlaub ist in unserem Arbeitsvertrag nicht die Rede gewesen. Sie können gerne ein paar Tage freinehmen, allerdings ohne Bezahlung.“ Kann er die Bitte von Frau Kern abschlagen?
Der Arbeitgeber hat zwar Recht mit seiner Behauptung, dass diese Frage im Arbeitsvertrag nicht geregelt ist. Hier greift aber die „Spielregel“ des § 1 des Bundesurlaubsgesetzes ein, die besagt: „Jeder Arbeitnehmer hat in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub.“
Der Arbeitgeber muss Frau Kern also den bezahlten Urlaub gewähren. Einzelheiten der Urlaubsgewährung sind dann in den – ziemlich komplizierten – weiteren zwölf Paragrafen des Bundesurlaubsgesetzes nachzulesen.
Vielleicht haben Sie sich darüber gewundert, dass es für einen so kleinen Teilbereich des Arbeitsverhältnisses wie die Urlaubsgewährung ein eigenes Gesetz mit 13 Paragrafen gibt. Das ist in der Tat verwunderlich.
24Es läge eigentlich nahe, dass der gesamte Lebensbereich der abhängigen Arbeit – wie man Arbeitsverhältnisse auch umschreiben kann – in einem eigenen Gesetzbuch zusammenfasst und abgehandelt wäre. Das würde Ihnen sicher den Zugang zu den „Spielregeln“ des Arbeitsverhältnisses erleichtern. Die Realität sieht leider anders aus: Die (gesetzlichen) Regeln des Arbeitsrechts sind auf eine Vielzahl von Einzelgesetzen verstreut und teilweise in ihnen auch gut versteckt. Wichtige Vorschriften über Kündigungsfristen, das Schriftformerfordernis bei Kündigungen und Auflösungsverträgen, die Zulässigkeit fristloser Kündigungen, die arbeitsrechtlichen Folgen eines Betriebsübergangs ua finden Sie in den Paragrafen 611 bis 630 des Bürgerlichen Gesetzbuchs.
Die zuvor wiedergegebene Vorschrift des § 105 Gewerbeordnung ist im Übrigen ein anschauliches Beispiel für die „Kunst“ des Gesetzgebers, arbeitsrechtliche Gesetze da zu verstecken, wo man sie eigentlich nicht vermutet. Die Gewerbeordnung gilt nämlich im Grundsatz nur für Gewerbebetriebe. Arbeitsverhältnisse gibt es aber in allen Lebensbereichen. Im Anschluss an die Regelung der Vertragsfreiheit im Arbeitsverhältnis finden Sie in den dann folgenden Paragrafen der Gewerbeordnung noch arbeitsrechtliche Bestimmungen über das Weisungsrecht des Arbeitgebers (§ 106), über die Berechnung, Zahlung und Abrechnung des Arbeitsentgelts (§§ 107 und 108), über den Zeugnisanspruch (§ 109) sowie über die Möglichkeit der Vereinbarung eines Wettbewerbsverbots (§ 110).
Die wichtigsten für das Arbeitsverhältnis geltenden Gesetze finden Sie im preiswerten Taschenbuch „Arbeitsgesetze“ in der Reihe „Beck-Texte im dtv“. Dieser Band enthält in ständig aktualisierter Form die wesentlichen gesetzlichen Spielregeln des Arbeitsrechts. Wenn Sie nicht gleich das richtige Gesetz finden, versuchen Sie es mit dem Stichwortverzeichnis am Ende dieser Gesetzessammlung.
Wir sind mit unserer Aufzählung wichtiger Rechtsquellen im Arbeitsrecht noch nicht am Ende. Von mindestens ebenso großer Bedeutung für das Arbeitsleben wie die Gesetze sind nämlich die Tarifverträge.
Tarifverträge sind Verträge zwischen Gewerkschaften auf der einen Seite und Arbeitgeberverbänden oder einzelnen Firmen auf der anderen Seite. Auch Tarifverträge enthalten – wie Gesetze und Arbeitsverträge – Spielregeln für das Arbeitsverhältnis. Dabei werden in den Lohn- und Gehaltstarifverträgen die Lohnhöhe sowie die Lohngruppen festgelegt.
In Manteltarifverträgen (manchmal auch als „Rahmentarifverträge“ bezeichnet) werden sonstige Arbeitsbedingungen festgelegt. Hier finden sich zum Beispiel Bestimmungen über die Länge der Arbeitszeit, Erholungsurlaub, Freistellung bei Verhinderung aus persönlichen Gründen, Überstunden, Kündigungsfristen und anderes.
Waren es beim Arbeitsvertrag Sie und der Arbeitgeber, bei den Gesetzen das Parlament, so sind es bei den Tarifverträgen die Tarifvertragsparteien, also die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände oder einzelne Firmen, die die Regeln bestimmen.
Die Regelungen eines Tarifvertrages gelten zunächst nur für „Tarifgebundene“, das sind Mitglieder der den Tarifvertrag schließenden Gewerkschaft(en) einerseits und zB die Mitgliedsfirmen des jeweiligen Arbeitgeberverbandes andererseits.
Sie sind Mitarbeiter im Rechnungswesen eines großen Bauunternehmens. Im „Tarifvertrag über die Gewährung eines 13. Monatseinkommens 26für die Angestellten des Baugewerbes“ findet sich folgende Bestimmung: „§ 2 – Anspruch: „Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis am 30. Nov. des laufenden Kalenderjahres mindestens zwölf Monate ununterbrochen besteht, haben Anspruch auf Zahlung eines Betrages in Höhe von 55% ihres Tarifgehalts.“
Ihr zum Bauindustrieverband (Arbeitgeberverband) gehörender Arbeitgeber zahlt Ihren Kollegen, Herrn G und Herrn W., die beide in der Gewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt organisiert sind, zu Weihnachten jeweils zusätzlich zu ihrem Gehalt 55/100 eines Monatsgehalts. Bei der Dezemberabrechnung stellen Sie fest, dass Ihr Arbeitgeber Ihnen kein anteiliges 13. Monatsgehalt ausgezahlt hat. – Zu Recht?
Ihr Arbeitgeber hat Ihnen rechtlich einwandfrei die zusätzliche Vergütung verweigert, weil Sie nicht tarifgebunden sind. Es gibt allerdings noch zwei weitere Möglichkeiten, wie die Regeln eines Tarifvertrages auf ein einzelnes Arbeitsverhältnis einwirken können, wie Sie also vielleicht doch noch in den Genuss der Tarifleistung kommen könnten.
Erste Möglichkeit: Allgemeinverbindlichkeit. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales oder – soweit im Einzelfall hierzu beauftragt – die oberste Landesbehörde des jeweiligen Bundeslandes können auf Antrag einzelne Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären. Wie das Wort schon sagt, gelten diese Tarifverträge für alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber der betreffenden Branche und des im Tarifvertrag genannten geographischen Geltungsbereichs (zB Hessen, Bayern usw.), unabhängig davon, ob sie gewerkschaftlich organisiert bzw. Verbandsmitglied sind oder nicht.
Da der in unserem Beispiel genannte Tarifvertrag nicht allgemeinverbindlich ist, können nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer hieraus keine Rechte herleiten.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass der Tarifvertrag einzelvertraglich als anwendbar vereinbart wird. In einem solchen Fall enthält der Arbeitsvertrag etwa folgende Regelung: „Soweit in diesem Arbeitsvertrag nichts anderes bestimmt ist, finden die Tarifverträge für die Bauindustrie in ihrer jeweils geltenden Fassung Anwendung.“
Einfach ist es, wenn Sie in einer Gewerkschaft Mitglied sind. Dann wird man Ihnen ohne weiteres ein Exemplar des für Sie einschlägigen Tarifvertrages zukommen lassen.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, für die ein Tarifvertrag aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung verbindlich ist, sowie deren beauftragte Interessenvertreter (zB Rechtsanwälte, Steuerberater) können von einer der Tarifvertragsparteien eine Abschrift des Tarifvertrages gegen Erstattung der Selbstkosten (das sind die Papier- und Vervielfältigungs- oder Druckkosten sowie das Übersendungsporto) verlangen.
Außerdem kann Ihnen, wenn Sie nicht gewerkschaftlich organisiert sind, § 8 des Tarifvertragsgesetzes weiterhelfen: „Die Arbeitgeber sind verpflichtet, die für ihren Betrieb maßgebenden Tarifverträge an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen.“
Das Gesetz gibt Ihnen also das Recht und die Möglichkeit, bei Ihrem Arbeitgeber Einsicht in den für Sie in Betracht kommenden Tarifvertrag zu nehmen. Diese Verpflichtung gilt allerdings nur für tarifgebundene Arbeitgeber, dh für Arbeitgeber, die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Verbände sind, und für solche Betriebe, die in den Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags fallen.
Sie haben mit Ihrem Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag geschlossen, der folgende Bestimmung enthält: „Soweit in diesem Vertrag nichts anderes bestimmt ist, finden die Vorschriften des Manteltarifvertrags für die Arbeitnehmer in der Metallindustrie in der jeweils geltenden Fassung Anwendung.“ Der bezeichnete Tarifvertrag ist nicht allgemeinverbindlich, und Ihr Arbeitgeber ist auch nicht Mitglied des Arbeitgeberverbandes. Sie wollen bei Gelegenheit in der Personalabteilung in den Tarifvertrag Einsicht nehmen. Man sagt Ihnen, man habe leider kein Exemplar des Tarifvertrages und sehe auch keine Möglichkeit, ein solches zu beschaffen. Sie berufen sich auf § 8 des Tarifvertragsgesetzes. – Mit Recht?
Leider haben Sie kein durchsetzbares Recht, von Ihrem Arbeitgeber den Wortlaut des Tarifvertrags zu erfahren. Was können Sie also tun?
28Wichtig:
Sie können bei den Verbänden, die den Tarifvertrag abgeschlossen haben, um Übersendung eines Exemplars gegen Kostenerstattung erbitten. Diese sind aber zur Übersendung nur dann gesetzlich verpflichtet, wenn der Tarifvertrag allgemeinverbindlich ist.
Hier empfiehlt sich ein Anruf oder eine Anfrage bei dem für Ihr Bundesland zuständigen Arbeitsministerium bzw. Senator für Arbeit. Dort weiß man über den aktuellen Stand der Allgemeinverbindlicherklärungen Bescheid. Außerdem veröffentlicht das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Internet eine laufend aktualisierte Liste der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge (www.bmas.de).
In Betrieben, in denen ein Betriebsrat besteht, können Arbeitgeber und Betriebsrat über Fragen, die zum Aufgabenbereich des Betriebsrats gehören und im Betriebsverfassungsgesetz näher beschrieben sind, Verträge schließen. Diese Verträge nennt man Betriebsvereinbarungen. Sie haben – bezogen auf den Betrieb – ähnliche Wirkungen wie Tarifverträge.
Ein Arbeitgeber vereinbart mit seinem Betriebsrat, dass in seinem Betrieb stichprobenweise Torkontrollen durchgeführt werden sollen. Die Vereinbarung sieht vor, dass diese Torkontrollen nur von einer Kommission, bestehend aus einem Vertreter der Personalabteilung, einem Mitglied des Betriebsrats und dem dienstältesten Arbeitnehmer, angeordnet und vorgenommen werden dürfen.
Hier einige weitere Beispiele für Themen, zu denen häufig Betriebsvereinbarungen geschlossen werden:
Es gibt noch einen wichtigen Komplex weiterer Spielregeln: das so genannte Richterrecht. Hier wird’s etwas kompliziert. Das Richterrecht ist nämlich nicht etwa eine Sammlung von festen Regeln, sondern es sind Entscheidungen von Gerichten in Einzelfällen. Diese Entscheidungen lassen allerdings mitunter erkennen, dass die jeweiligen Richter von bestimmten, regelmäßig durch Gesetze nicht erfassten Regeln ausgegangen sind und diese auch angewendet haben.
Frau Kilian hat sich um die Position einer Filialleiterin einer Drogeriekette bewerben. Frau Kilian ist schwanger. Im Einstellungsfragebogen beantwortet sie wider besseres Wissen die Frage: „Sind Sie schwanger?“ mit „Nein“. Frau Kilian wird eingestellt. Nach einiger Zeit legt sie ein Schwangerschaftsattest vor, aus dem hervorgeht, dass sie bereits vor ihrer Einstellung schwanger war und das gewusst haben müsste. Der Personalleiter ist erbost. Frau Kilian bestreitet nicht, dass sie bei Ausfüllung des Fragebogens gewusst hat, dass sie schwanger war. Ihr Arbeitgeber ficht den Arbeitsvertrag wegen arglistiger Täuschung an. – Mit Erfolg?
30Wie Sie im ersten Kapitel erfahren haben, wird die Firma mit ihrer Anfechtung keinen Erfolg haben. Denn die Frage nach der Schwangerschaft ist im Allgemeinen unzulässig und kann folgenlos falsch beantwortet werden. Die Spielregel: „Die Frage nach der Schwangerschaft ist in der Regel unzulässig und kann von der Bewerberin ohne Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses falsch beantwortet werden.“ werden Sie in keinem Gesetz finden. Sie ist Teil des Richterrechts oder genauer: Sie ist der Kernsatz der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, des höchsten Arbeitsgerichts in der Bundesrepublik Deutschland. Beachten Sie aber, dass das Richterrecht bestehende Gesetze nicht ändern kann, sondern lediglich da neue Regeln findet, wo Gesetze nicht genügend klar sind oder Lücken gelassen haben.
Ein wichtiger Unterschied des Richterrechts zum Gesetz besteht darin, dass die Gerichte der unteren Instanzen (Arbeitsgerichte und Landesarbeitsgerichte) an solche Kernsätze des obersten Gerichts nicht zwingend gebunden sind. Sie können, wenn sie anderer Meinung sind, sich über ein solches höchstrichterliches Urteil hinwegsetzen. Von Richterrecht kann man also eigentlich erst dann sprechen, wenn solche Kernsätze, wie der vorher zitierte, in der Rechtsprechung der unteren Gerichte auch tatsächlich angewendet werden. Das ist allerdings häufig der Fall, so dass man in der Praxis als Faustregel davon ausgehen kann, dass die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts das arbeitsrechtliche Richterrecht bestimmt.
Ein weiterer Unterschied des Richterrechts zum Gesetzesrecht besteht darin, dass das Richterrecht – zumindest auf dem Gebiet des Arbeitsrechts – einem laufenden Wandel unterworfen ist. Der Richter oder Rechtsanwalt, der über das Richterrecht Bescheid wissen will, muss also ständig die neuesten Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts verfolgen, um auf dem Laufenden zu sein.
31Wichtig:
Will man das in einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts oder auch eines Landesarbeitsgerichts dokumentierte Richterrecht verstehen, muss man die Urteilsgründe sehr sorgfältig lesen. Häufig erschließt sich der Inhalt des Richterspruchs erst dann, wenn man auch den zugrunde liegenden Sachverhalt in den Einzelheiten kennt. Aus diesem Grund sind Urteilsleitsätze, wie Sie sie öfters in Zeitungen und Zeitschriften lesen können, nur mit Vorsicht zu genießen.
Fassen wir noch einmal zusammen: Wenn Sie als Arbeitnehmer über die Spielregeln des Arbeitsverhältnisses Bescheid wissen wollen, müssen Sie verschiedene Quellen zu Rate ziehen. Die wesentlichen Quellen sind
Die ersten beiden Quellen (Arbeitsvertrag und Gesetze) spielen für Sie immer eine Rolle, die beiden zuletzt genannten nur unter besonderen Voraussetzungen (Tarifbindung bzw. das Bestehen eines Betriebsrats). Darüber hinaus gibt es noch das Richterrecht, dessen Bedeutung für ein bestimmtes Problem im Einzelfall allerdings nur schwer einzuschätzen ist.
Wenn Sie die beschriebene Situation betrachten, werden Sie vielleicht sagen: Bei so zahlreichen Regeln aus den unterschiedlichsten Quellen ist doch damit zu rechnen, dass sich diese Regeln widersprechen. Das ist tatsächlich ein wichtiges Problem. Immer wieder ergeben sich nämlich Regelungswidersprüche zwischen den genannten Quellen. Häufig sind diese Widersprüche sogar bewusst 32herbeigeführt, weil die Beteiligten mit der vorher vorhandenen Regelung nicht zufrieden waren.
In Ihrem Arbeitsvertrag steht unter der Überschrift: § 5 – Arbeitszeit: Es wird eine tägliche Arbeitszeit von elf Stunden vereinbart. In § 3 des Arbeitszeitgesetzes lesen Sie andererseits: „Die werktägliche Arbeitszeit darf die Dauer von acht Stunden nicht überschreiten.“ Es kommt zum Streit. Ihr Arbeitgeber erklärt: „Ich zahle Ihnen ohnehin ein sehr großzügig bemessenes Gehalt, deshalb bestehe ich auf der Ableistung der vereinbarten 77 Wochenstunden.“ Sie berufen sich hingegen auf das Arbeitszeitgesetz und sagen: „Ab der 49. Wochenstunde bin ich zur Arbeitsleistung nur in den vom Gesetz erlaubten Ausnahmefällen bereit.“ – Wer hat Recht?
Sie haben Recht, weil Sie sich auf ein zwingendes Gesetz berufen können. Die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes sind zwingendes Recht, das heißt, die Regel eines Arbeitsvertrags, die hiervon abweicht, ist unwirksam. Das Gesetz steht hier also auf höherer Stufe als der Einzelarbeitsvertrag. Hier noch einige weitere Beispiele für Fälle, in denen das Gesetz zwingende Regeln vorsieht:
Nicht alle Gesetze haben jedoch zwingenden Charakter. Vielmehr gibt es eine Reihe von gesetzlichen Bestimmungen, die durch den Einzelarbeitsvertrag geändert werden können. Man nennt diese Bestimmungen dispositive bzw. abdingbare Gesetzesbestimmungen, weil sie „abbedungen“ (= ausgeschaltet) werden können. Das kann durch den Arbeitsvertrag, einen Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung geschehen.
In Ihrem Arbeitsvertrag steht unter der Überschrift: „Kündigung“: „Das Arbeitsverhältnis kann mit einer Frist von 2 Wochen gekündigt werden.“
33In der Vorschrift des § 622 Absatz 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (abgekürzt: BGB) lesen Sie andererseits: „Das Arbeitsverhältnis eines Arbeiters oder eines Angestellten (Arbeitnehmers) kann mit einer Kündigungsfrist von vier Wochen zum Fünfzehnten oder zum Ende eines Kalendermonats gekündigt werden.“
Sie wollen wissen, was für Sie gilt: Die Bestimmung des Arbeitsvertrags (zwei Wochen) oder die des Gesetzes (vier Wochen zum Fünfzehnten oder zum Ende eines Kalendermonats). Die Lösung ergibt sich aus dem § 622 Absatz 5 BGB. Dort heißt es:
Einzelvertraglich kann eine kürzere als die in Absatz 1 genannte Kündigungsfrist nur vereinbart werden,
Die einzelvertragliche Vereinbarung längerer als der in den Absätzen 1 bis 3 genannten Kündigungsfristen bleibt hiervon unberührt.“
Lassen Sie sich durch das kompliziert klingende Juristendeutsch nicht abschrecken! Gemeint ist, dass zugunsten des Arbeitnehmers (längere Kündigungsfristen also) immer abgewichen werden kann. Eine Abweichung zum Nachteil des Arbeitnehmers ist andererseits nur dann möglich, wenn Sie zur vorübergehenden Aushilfe eingestellt wurden und das Arbeitsverhältnis noch nicht länger als drei Monate besteht oder wenn Ihr Arbeitgeber nicht mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigt und die vereinbarte Kündigungsfrist vier Wochen nicht unterschreitet.
Es geht noch einen Schritt weiter: Es gibt gesetzliche Bestimmungen, die nicht durch einen Arbeitsvertrag, wohl aber durch den Tarifvertrag abgeändert werden können.
34In einem Manteltarifvertrag ist bestimmt, dass die Kündigungsfrist innerhalb der Probezeit eine Woche beträgt.
Eine solche Regelung wäre in einem Arbeitsvertrag unzulässig und damit unwirksam. Im Tarifvertrag ist sie jedoch erlaubt. Das ergibt sich aus § 622 Absatz 4 des Bürgerlichen Gesetzbuchs: „Von den Absätzen 1 bis 3 abweichende Regelungen können durch Tarifvertrag vereinbart werden…“
Wegen dieses Vorbehalts nennt man die Vorschrift des § 622 BGB „tarifdispositiv“, was soviel heißt wie: kann durch Tarifvertrag abbedungen, also ausgeschaltet werden.
In diesem Fall sind den Parteien des Arbeitsvertrages die Hände mehr gebunden als den Tarifvertragsparteien (= Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und einzelne Arbeitgeber). Dahinter steckt die Vorstellung des Gesetzgebers, dass ein Tarifvertrag Ergebnis einer Verhandlung zwischen ungefähr gleich starken Partnern ist. Diese sind mit den Gegebenheiten der einzelnen Branche am besten vertraut. Sie können am besten beurteilen, was hier richtig und angemessen ist. Man unterstellt, dass bei Tarifverträgen unter dem Strich die Interessen beider Seiten gewahrt sind.
Bei (Einzel-)Arbeitsverträgen wird dies nicht so gesehen. Das Gesetz hält die Position des Arbeitnehmers, der einen Arbeitsvertrag schließt, ohne in den Schutzbereich eines Tarifvertrags zu fallen, für besonders schützenswert und greift da mit zwingenden Spielregeln ein.
Wir haben festgestellt, dass bei den Regelarten zu unterscheiden ist zwischen zwingenden und abdingbaren Regeln. Hieraus ergibt sich – beginnend mit dem höchsten Rang – folgende Rangordnung:
Was sagt uns diese Rangliste? Sie gibt Aufschluss über die Durchschlagskraft der verschiedenen Regeln, je nachdem, welcher Gruppe sie zuzuordnen sind. Widersprechen sich also Regeln verschiedener Regelgruppen, die den gleichen Sachverhalt betreffen (zum Beispiel die Länge der Arbeitszeit in unserem Beispiel), so brauchen wir nur festzustellen, welchen Rechtsquellen die sich widersprechenden Regeln zugehören, um zu erkennen, welche Regel die stärkere ist und die andere aussticht: Je höher in der Rangordnung, umso stärker.
Wichtig:
Häufig ist im Gesetz oder Tarifvertrag ausdrücklich bestimmt, ob und inwieweit abweichende Regeln der Arbeitsvertragsparteien oder der Betriebspartner (Arbeitgeber und Betriebsrat) zulässig sein sollen. Es gibt aber auch Fälle, in denen dies nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht wird und erst durch Auslegung der Vorschrift ermittelt werden kann.
Bei den zwingenden Vorschriften muss man sich im Einzelfall noch vergewissern, ob jede Abweichung oder nur eine Abweichung zu Lasten des Arbeitnehmers verboten ist.
Das Bundesurlaubsgesetz bestimmt einen Mindesturlaub von 24 Werktagen pro Jahr. Eine für den Arbeitnehmer günstigere Regelung (also mehr Urlaub) kann im Arbeitsvertrag vereinbart werden.
36Man nennt eine solche gesetzliche Regelung „einseitig zwingendes“ Gesetz, einseitig, weil einer Abweichung nur in einer Richtung (nämlich zum Nachteil des Arbeitnehmers) ein Riegel vorgeschoben wird.
Zwingende Bestimmungen des Tarifvertrags oder einer Betriebsvereinbarung sind immer einseitig zwingend, dh, einzelvertragliche Abmachungen, die für Sie als Arbeitnehmer günstiger sind, bleiben möglich. Man nennt das deshalb auch Günstigkeitsprinzip. Als Faustregel können Sie sich also merken, dass zwingende Regeln in Gesetzen, Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen regelmäßig nicht ausschließen, dass im Einzelarbeitsvertrag für den Arbeitnehmer etwas Günstigeres vereinbart wird.
Eine weitere Besonderheit müssen wir uns noch für das „Stärkeverhältnis“ von Tarifvertrag einerseits und Betriebsvereinbarung andererseits merken: Hier hat der Gesetzgeber nämlich die Rangordnung so geregelt, dass im üblichen Betätigungsfeld der Tarifvertragsparteien Vereinbarungen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber generell unzulässig sein sollen. Das gilt auch dann, wenn die Betriebspartner für den Arbeitnehmer günstigeres vereinbaren. § 77 Absatz 3 Satz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes stellt hierzu fest: „Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein.“
Sinn dieser Vorschrift: Den Gewerkschaften soll Vorrang vor den Betriebsräten eingeräumt werden. Es soll verhindert werden, dass das Recht der Gewerkschaften zum Abschluss von Tarifverträgen durch eifrige Betriebsräte beeinträchtigt oder ausgehöhlt wird. Man sagt auch: Der Tarifvertrag übt eine „Sperrwirkung“ aus.