Im Arbeitsrecht gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser verbietet es, „mit Kanonen auf Spatzen zu schießen“.
Bevor ein Arbeitgeber zu dem denkbar schärfsten arbeitsrechtlichen Mittel, der Kündigung, greift, muss er demnach zuvor den Arbeitnehmer erfolglos abgemahnt haben.
Herr Lang ist Sachbearbeiter bei der Firma Huber GmbH. Jahrelang hat er pünktlich und zuverlässig gearbeitet. In letzter Zeit jedoch ist er morgens häufig zu spät dran. Seinem Vorgesetzten ist es lästig, sich mit Herrn Lang, der immer eine Ausrede parat hat, deswegen in lange Diskussionen einzulassen. Als er Herrn Lang morgens um 9.30 Uhr zum dritten Mal innerhalb von zwei Wochen nicht antrifft, obwohl es um wichtige Angelegenheiten geht, regt er bei der Personalabteilung die Kündigung von Herrn Lang an. Herrn Lang wird gekündigt. Er klagt vor dem Arbeitsgericht gegen die Kündigung. Ist die Kündigung wirksam?
Das Arbeitsgericht erklärt die Kündigung für unwirksam, da ihr keine „Abmahnung“ vorausgegangen ist!
Will ein Arbeitgeber ein bestimmtes Fehlverhalten eines Arbeitnehmers nicht hinnehmen – etwa wiederholte Unpünktlichkeit, langsames Arbeiten, Alkoholgenuss während der Arbeit trotz bestehenden Verbots, unfreundliches Verhalten gegenüber Kunden –, so darf er deswegen nicht gleich kündigen.
Vielmehr muss er zunächst den Mitarbeiter darauf hinweisen, mündlich oder auch schriftlich, dass er das genau zu bezeichnende Verhalten nicht billigt. Ein allgemein gehaltener Hinweis auf „Unpünktlichkeit“ oder „Schlechtleistung“ reicht dabei nicht aus.
Vielmehr muss der Arbeitgeber das Fehlverhalten genau kennzeichnen, also an welchen Tagen um welche Uhrzeit der Arbeitnehmer sich um wie viele Stunden oder Minuten verspätet hat oder welche Fehler der Sekretärin beim Schreiben von Briefen bei welcher Gelegenheit unterlaufen sind.
Das allein reicht aber noch nicht aus. Der Arbeitgeber muss diese Beanstandung überdies mit dem Hinweis verbinden, dass im Wiederholungsfall das Arbeitsverhältnis in seinem Bestand gefährdet ist. Der Arbeitnehmer muss erkennen können, dass er bei neuerlichem Fehlverhalten uU mit einer Kündigung zu rechnen hat. Bestimmte kündigungsrechtliche Maßnahmen (ordentliche oder fristlose Kündigung) braucht der Arbeitgeber dabei nicht ausdrücklich anzudrohen. Bei Arbeitsleistungen, die nach Auffassung des Arbeitgebers unzulänglich waren, ist vor Ausspruch einer ordentlichen Kündigung schon deshalb regelmäßig eine vorherige vergebliche Abmahnung erforderlich, damit der Arbeitnehmer ausreichend Zeit und Gelegenheit hat, sich auf die Erwartungen des Arbeitgebers einzustellen und sein Verhalten zu ändern.
Andererseits liegt es für jeden Arbeitnehmer von vornherein auf der Hand, dass er seinen Arbeitgeber nicht betrügen, bestehlen, bedrohen oder beleidigen darf. Darauf braucht ihn der Arbeitgeber nicht noch eigens hinzuweisen. Hier kann der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer uU auch ohne vorherige Abmahnung kündigen.
Gegen eine Abmahnung kann sich der Arbeitnehmer mit einer Gegendarstellung wehren. Diese ist zu den Personalakten zu nehmen. Er kann auch auf Entfernung einer Abmahnung aus der Personalakte klagen, wenn die Abmahnung seiner Ansicht nach zu Unrecht ausgesprochen worden ist.
Der Arbeitgeber beanstandet „häufiges Zuspätkommen“ des Mitarbeiters – zu Unrecht, wenn dieser sich nur ein- oder zweimal verspätet hat.
Der Arbeitgeber rügt, dass der Angestellte seine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für seine beiden Krankheitstage nicht eingereicht hat und dass er während der Arbeitsunfähigkeit spazieren gegangen ist – zu Unrecht, wenn der einschlägige Tarifvertrag erst für eine Krankheitsdauer von mehr als zwei Tagen einen entsprechenden Nachweis verlangt und wenn der Angestellte entsprechend der ärztlichen Anordnung während seiner Erkrankung nicht das Bett hüten musste.
Herr Frisch verteilt während der Mittagspause in der Kantine Einladungen der örtlichen Friedensinitiative „Friedenstaube“. Sein Arbeitgeber, die Firma Zahnrad GmbH, mahnt ihn wegen unzulässiger politischer Betätigung ab. Diese Abmahnung ist zu Unrecht erfolgt. Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung macht vor den Werkstoren nicht Halt. Das gilt jedoch nur, wenn der Arbeitnehmer hierdurch den Betriebsfrieden nicht stört. (Lesen Sie hierzu auch die Erläuterungen in Kapitel IV sowie Kapitel XII)
Ein Krankenhaus mahnt eine Krankenschwester ab, weil sie sich als einzige unter Berufung auf ihre sittliche Überzeugung wiederholt geweigert hat, an „sozial indizierten“ Schwangerschaftsabbrüchen mitzuwirken.244 Das Verhalten der Krankenschwester ist vom Grundrecht auf Gewissensfreiheit geschützt. Dieses hat auch der Arbeitgeber bei Ausübung seines Direktionsrechts zu beachten. Auch sie kann vor dem Arbeitsgericht die Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte durchsetzen.
Der Mitarbeiter kann gegen die Abmahnung vor dem Arbeitsgericht klagen. Ob er dies tut, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit.
Besonders häufig werden die Arbeitnehmer diesen Weg sicherlich nicht wählen, da sie während des bestehenden Arbeitsverhältnisses ungern ihren Arbeitgeber vor Gericht zitieren werden, zumal den Arbeitnehmern aus dem Unterlassen der Klage nicht unbedingt Nachteile erwachsen.
Den Fernmeldehandwerker Felix Sanft hatte sein Arbeitgeber in den vergangenen Jahren wegen angeblichen Zuspätkommens wiederholt abgemahnt.
Gegen diese Abmahnungen hat er nichts unternommen. Auch Lohnkürzungen wegen der behaupteten Verspätungen nahm er widerspruchslos hin. Erst als ihm der Arbeitgeber wegen behaupteter erneuter Verspätungen kündigte, wehrte er sich mit einer Klage vor dem Arbeitsgericht – mit Erfolg?
Ja. Der Arbeitgeber konnte die Verspätungen im Einzelnen nicht (mehr) beweisen. Der Mitarbeiter hatte sich gegen die Abmahnungen zuvor nicht gewehrt. Das brauchte er jedoch nicht zu tun.
Dies hat ihm nicht das Recht genommen, die abgemahnten Pflichtwidrigkeiten in dem Kündigungsrechtsstreit zu bestreiten.
So erklärte das Arbeitsgericht die Kündigung für unwirksam. Felix Sanft durfte an seinen Arbeitsplatz zurückkehren.
Es kann für einen Arbeitnehmer sogar von Vorteil sein, wenn er gegen eine Abmahnung zunächst nichts unternimmt. Zum einen verliert eine länger zurückliegende Abmahnung mit wachsendem Zeitabstand immer mehr an Bedeutung und Gewicht. Eine Abmahnung etwa, die drei Jahre zurückliegt, kann der Arbeitgeber nicht mehr zur Begründung einer Kündigung heranziehen. Feste Fristen lassen sich indes nicht nennen.
Zum anderen dürfte es dem beweispflichtigen Arbeitgeber mit wachsendem Zeitabstand immer schwerer fallen, die der Abmahnung zugrunde liegenden Vorgänge und Tatsachenbehauptungen im Einzelnen zu beweisen. Mit einer Klage gegen eine Abmahnung geben Sie also dem Arbeitgeber die Möglichkeit, frühzeitig Beweise für das Ihnen vorgeworfene Fehlverhalten im Rahmen eines Gerichtsverfahrens zu sichern.
Sinnvoller als vor dem Arbeitsgericht auf Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte zu klagen, kann es uU sein, sich an den Betriebsrat zu wenden. Dieser kann dann mit dem Arbeitgeber darüber verhandeln, wie nicht zu beweisende oder sonst zu Unrecht erfolgte Vorwürfe geklärt und gegebenenfalls aus der Welt geschafft werden können.