Als ich meine Schwester das erste Mal tot auffand, war sie sechzehn. Das war im Sommer 2002. Achtundvierzig Stunden zuvor, an einem Freitagnachmittag, war sie nach der Schule mit Freundinnen losgezogen und hatte mir gesagt, sie käme am Abend nach Hause.
Sie kam nicht.
Am Samstag rief ich vor lauter Angst Kaceys Freundinnen an und fragte sie, ob sie wüssten, wo sie sein könnte. Aber keine von ihnen wusste es oder wollte es mir sagen. Ich war damals siebzehn, sehr schüchtern, bereits fest für die Rolle besetzt, die ich mein ganzes Leben gespielt habe: die Verantwortliche. «Eine kleine, alte Lady», sagte meine Großmutter Gee. «Ernster, als gut für sie ist.» Kaceys Freundinnen hielten mich garantiert für eine Art Mutterfigur, eine Autoritätsperson, vor der es Informationen zu verschweigen galt. Wieder und wieder entschuldigten sie sich gelangweilt und verneinten, irgendwas zu wissen.
Kacey war damals ausgelassen und laut. Wenn sie zu Hause war, was immer seltener vorkam, war das Leben besser, das Haus wärmer und fröhlicher. Ihr ungewöhnliches Lachen – ein lautloses Zittern mit offenem Mund, gefolgt von einer Reihe spitzer, hoher, lautstarker Atemzüge, wobei sie sich krümmte, als würden sie ihr Schmerzen bereiten – hallte von den Wänden wider. Ohne dieses Lachen war ihre Abwesenheit spürbar, die Stille im Haus unheimlich und fremd. Ihre Geräusche waren ebenso verschwunden wie ihr Geruch, irgendein grässliches Parfüm namens Patchouli Musk, das sie und ihre Freundinnen benutzten – wahrscheinlich um zu überdecken, was sie rauchten.
Ich brauchte ein ganzes Wochenende, bis ich Gee überredet hatte, die Polizei zu rufen. Sie schaltete nur sehr ungern Außenstehende ein. Ich glaube, aus Angst, sie würden einen kritischen Blick auf ihre Erziehungsmethoden werfen und sie irgendwie für ungeeignet halten.
Als sie endlich zustimmte, verwählte sie sich prompt auf ihrem olivgrünen Telefon mit Wählscheibe und erreichte die Polizei erst beim zweiten Versuch. Ich hatte sie noch nie so ängstlich und so wütend erlebt. Sie zitterte heftig, als sie auflegte – vor Wut oder Sorge oder Scham. Ihr längliches, gerötetes Gesicht bewegte sich auf eine Weise, die beunruhigend und ungewohnt war. Sie sprach leise mit sich selbst, unverständliche Sätze, die sich wie ein Fluch oder ein Gebet anhörten.
Dass Kacey einfach so verschwand, war einerseits überraschend, andererseits auch wieder nicht. Sie war schon immer kontaktfreudig gewesen und hatte sich in letzter Zeit einer bunt zusammengewürfelten Clique angeschlossen. Ihre Freundinnen waren umgänglich, aber faul, beliebt, aber nicht ernst zu nehmen. In der achten Klasse hatte sie eine kurze Hippiephase, gefolgt von etlichen Jahren, in denen sie sich wie ein Punk kleidete, die Haare mit Manic Panic färbte, sich einen Nasenring zulegte und ein unseliges Tattoo – eine Spinne in einem Netz – stechen ließ. Sie ging mit Jungen aus. Ich hatte noch nie einen Freund gehabt. Sie war beliebt, setzte ihre Beliebtheit aber meist für etwas Gutes ein: In der Mittelschule nahm sie sich eines unglücklichen Mädchens namens Gina Brickhouse an, die wegen ihres Gewichts, ihrer Körperhygiene, ihrer Armut und ihres bedauerlichen Namens so schlimm gehänselt wurde, dass sie im Alter von elf praktisch verstummt war. Dann zeigte Kacey Interesse an ihr, und unter Kaceys Schutz blühte sie auf. Am Ende der Highschool wurde Gina Brickhouse «das Unikum» genannt, eine Auszeichnung, die sonderbaren, aber angesehenen Anarchos vorbehalten war.
In letzter Zeit jedoch hatte Kaceys gesellschaftliches Leben eine Wende genommen. Sie hatte sich regelmäßig so großen Ärger eingehandelt, dass ihr schon der Schulverweis drohte. Sie trank viel, sogar in der Schule, und nahm verschiedene rezeptpflichtige Medikamente, die damals niemand für bedenklich hielt. Zum ersten Mal in ihrem Leben versuchte Kacey, mir Dinge zu verheimlichen. Bis dahin hatte sie mir immer alles anvertraut, oft mit einem dringlichen und flehenden Unterton in der Stimme, als wollte sie von mir die Absolution. Aber ihre ungewohnten Geheimhaltungsversuche waren erfolglos. Ich konnte es spüren – natürlich konnte ich es spüren. Ich beobachtete eine Veränderung in ihrem Verhalten, ihrer Physis, ihrem Blick. Kacey und ich teilten uns ein Zimmer und schliefen im selben Bett, unsere ganze Kindheit hindurch. Es gab eine Zeit, da kannten wir einander so gut, dass wir vorhersagen konnten, was die andere als Nächstes sagen würde. Wir unterhielten uns schnell und für andere unverständlich, fingen Sätze an und ließen sie unvollendet, führten längere Verhandlungen ausschließlich mit Blicken und Gesten. Deshalb war ich fraglos beunruhigt, als meine Schwester immer häufiger bei Freundinnen übernachtete oder in den frühen Morgenstunden nach Hause kam und nach irgendwas roch, was ich da noch nicht identifizieren konnte.
Und als ich zwei Tage hintereinander nichts von ihr gehört hatte, fand ich weder ihr Verschwinden überraschend noch den Gedanken, dass irgendwas mit ihr furchtbar falsch lief. Das Einzige, was mich überraschte, war der Gedanke, dass Kacey mich so vollständig aus ihrem Leben ausschließen konnte. Dass sie ihre wichtigsten Geheimnisse selbst vor mir derart verbergen konnte.
Kurz nach Gees Anruf bei der Polizei meldete sich Paula Mulroney bei mir. Paula war eine von Kaceys besten Freundinnen in der Highschool und eigentlich die einzige, die mich ernst nahm, die die Bedeutung unserer familiären Bindung verstand und respektierte. Sie sagte, sie habe von Kacey gehört, und sie glaubte zu wissen, wo sie war.
«Aber kein Wort zu eurer Großmutter», sagte Paula, «falls ich mich täusche.»
Paula war ein hübsches Mädchen, stark und groß und tough. Sie erinnerte mich irgendwie an eine Amazone – vom Volk der Amazonen hörte ich zum ersten Mal, als wir in der Neunten die Aeneis lasen, und dann wieder mit fünfzehn, als ich begeistert Comic-Hefte verschlang –, doch als ich Kacey gegenüber einmal die Ähnlichkeit erwähnte, was ich als Kompliment für Paula meinte, sagte sie: «Mick. Erzähl das bloß keinem.» Jedenfalls, obwohl ich Paula mochte – noch immer mag –, war mir schon damals klar, dass sie vermutlich einen schlechten Einfluss auf Kacey hatte. Ihr Bruder Fran war ein Dealer, und Paula arbeitete für ihn, und das wusste jeder.
An dem Tag traf ich mich mit Paula an der Kensington, Ecke Allegheny.
«Komm mit», sagte Paula.
Sie erzählte mir, dass sie und Kacey vor zwei Tagen in diesem Viertel zu einem Haus gegangen waren, das einem Freund von Paulas Bruder gehörte. Ich wusste, was das bedeutete.
«Ich musste gehen», sagte Paula, «aber Kacey wollte noch ein bisschen bleiben.»
Paula führte mich die Kensington Ave hoch zu einer kleinen Seitenstraße, an deren Namen ich mich jetzt nicht mehr erinnern kann, und dann zu einem baufälligen Reihenhaus mit einer weißen Sturmtür. An der Tür war eine schwarze Metallsilhouette von einem Pferd und einer Kutsche, bloß dass dem Pferd die Vorderbeine fehlten: Ich konnte es mir lange genug ansehen, weil wir fünf Minuten klopfen mussten, ehe einer aufmachte.
«Glaub mir, die sind zu Hause», sagte Paula. «Die sind immer zu Hause.»
Als die Tür endlich aufging, stand vor uns ein Gespenst von einer Frau mit schwarzen Haaren. Sie war unglaublich dünn, hatte das rötliche Gesicht und die schwerlidrigen Augen, die ich später mit Kacey in Verbindung bringen sollte. Damals wusste ich noch nicht, was es bedeutete.
«Fran ist nicht da», sagte die Frau zu Paula. Sie war vielleicht zehn Jahre älter als wir, obwohl das schwer zu schätzen war.
«Wer ist das?», fragte die Frau, ehe Paula etwas erwidern konnte.
«Meine Freundin. Sie sucht ihre Schwester», sagte Paula.
«Keine Schwestern hier», sagte die Frau.
«Kann ich mit Jim sprechen?», wechselte Paula das Thema.
Der Juli in Philadelphia kann heftig sein, und in dem Haus mit seinem schwarzen Teerdach war es heiß wie in einem Glutofen. Es roch nach Zigaretten und irgendwas Süßlichem. Es machte mich sehr traurig, als ich daran dachte, für wen das Haus mal gebaut worden war: für eine funktionierende Familie vielleicht, einen Fabrikarbeiter mit Frau und Kindern. Jemand, der jeden Tag in einem der riesigen Backsteingebäude schuftete, die jetzt leer standen, aber noch immer Kensingtons Straßen säumten. Jemand, der am Ende jedes Arbeitstages nach Hause kam und vor dem Abendessen ein Dankgebet sprach. Wo wir in diesem Augenblick standen, war vielleicht mal ein Esszimmer gewesen. Jetzt war es leer geräumt bis auf ein paar Metallklappstühle, die an einer Wand lehnten. Aus Respekt vor dem Haus versuchte ich, mir den Raum so vorzustellen, wie er vor einer Generation gewesen sein könnte: ovaler Tisch mit Spitzentischtuch. Dicker Teppich auf dem Boden. Polstersessel. An den Fenstern Gardinen, die jemandes Großmutter genäht hatte. An der Wand ein Bild von einer Schale mit Obst.
Jim, der Besitzer des Hauses, wie ich vermutete, kam in einem schwarzen T-Shirt und in Jeansshorts ins Zimmer und sah uns an. Seine Arme hingen schlaff herab.
«Du suchst Kacey?», sagte er zu mir. In dem Moment fragte ich mich, woher er das wusste. Vermutlich wirkte ich unschuldig, wie eine Retterin, wie eine Beschützerin, wie eine, die suchte und nicht floh. Diese Wirkung hatte ich schon immer. Tatsächlich brauchte ich, nachdem ich bei der Polizei angefangen hatte, eine ganze Weile, um mir gewisse Gewohnheiten und Eigenarten zuzulegen, damit mich die Straftäter, die ich verhaftete, auch wirklich ernst nahmen.
Ich nickte.
«Oben», sagte Jim. Ich glaube, er schob noch nach: «Ihr geht’s nicht besonders», aber ich hörte nicht genau hin, und er hätte alles Mögliche gesagt haben können. Ich war bereits aus dem Raum.
Jede Tür auf dem oberen Flur war geschlossen, und dahinter, so dachte ich, konnten namenlose Schrecken lauern. Ich hatte ehrlich gesagt Angst. Ich stand eine Weile reglos da. Später sollte ich mir wünschen, ich hätte das nicht getan.
«Kacey», sagte ich leise in der Hoffnung, sie würde einfach auftauchen.
«Kacey», sagte ich wieder, und jemandes Kopf lugte aus einer Tür, verschwand dann wieder.
Der Flur war dämmrig. Von unten herauf konnte ich hören, wie Paula Small Talk machte: über ihren Bruder, über die Nachbarn, über die Polizei, die in letzter Zeit verstärkt auf der Ave Streife fuhr, zum Frust aller.
Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen, klopfte leise an die Tür, die mir am nächsten war, und öffnete sie nach kurzem Zögern.
Da war meine Schwester. Ich erkannte sie zuerst an ihrem Haar, das sich Kacey kürzlich grell pink gefärbt hatte und das jetzt hinter ihr auf der nackten Matratze ausgebreitet war. Sie lag auf der Seite, mit dem Rücken zu mir, und in Ermangelung eines Kissens war ihr Kopf seltsam abgewinkelt.
Sie trug nicht genug Kleidung.
Ich wusste, dass sie tot war, ehe ich bei ihr war. Ihre Haltung war mir vertraut, nachdem ich die ganze Kindheit hindurch neben ihr im selben Bett gelegen hatte, aber ihr Körper hatte an dem Tag eine andere Art von Schlaffheit. Ihre Gliedmaßen wirkten zu schwer.
Ich zog an ihrer Schulter und drehte sie auf den Rücken. Ihr linker Arm plumpste aufs Bett. Ein Streifen von einem BaumwollT-Shirt hing, jetzt gelockert, unten um ihren Bizeps. Unterhalb von dieser provisorischen Aderpresse: der lange, leuchtende Fluss ihrer Vene. Ihr Gesicht war schlaff und bläulich, der Mund offen, die Augen geschlossen, bis auf einen schmalen Spalt Weiß, der unter den Wimpern zu sehen war.
Ich schüttelte sie. Ich rief ihren Namen. Die Spritze lag neben Kacey auf dem Bett. Ich rief wieder ihren Namen. Sie roch nach Fäkalien. Ich schlug ihr ins Gesicht, fest. Damals hatte ich noch nie Heroin gesehen. Ich hatte noch nie jemanden auf Heroin gesehen.
«Ruft einen Krankenwagen», schrie ich – was im Rückblick ziemlich lustig ist. Nie im Leben hätte jemand aus dem Haus einen Krankenwagen oder gar die Polizei gerufen. Aber ich schrie es noch immer, als Paula ins Zimmer gerannt kam und mir eine Hand auf den Mund drückte.
«Ach du Scheiße», sagte Paula, als sie Kacey sah, und dann – ich staune noch immer über ihre Unerschrockenheit, ihre Besonnenheit, ihre raschen und sicheren Bewegungen – schob sie einen Arm unter Kaceys Knie und einen Arm unter ihre Schultern und hob sie von dem Bett. Kacey war auf der Highschool mollig, aber das schien Paula nichts auszumachen. Sie trug sie energisch und stapfte mit ihr die Treppe hinunter, den Rücken an die Wand gedrückt, um ja nicht zu stolpern, und dann zur Haustür hinaus. Ich folgte hinterdrein.
«Ruft bloß nicht von irgendwo hier in der Nähe an», sagte die Frau, die die Tür geöffnet hatte.
Sie ist tot, dachte ich, sie ist tot, meine Schwester ist tot. Ich hatte Kaceys totes Gesicht vor mir auf diesem Bett gesehen. Obwohl weder Paula noch ich überprüft hatten, ob Kacey atmete, war ich überzeugt, dass ich sie verloren hatte, und meine Gedanken eilten bereits voraus durch eine Zukunft ohne meine Schwester: meine Schulabschlussfeier, ohne Kacey. Meine Hochzeit. Die Geburt meiner Kinder. Gees Tod. Und aus Selbstmitleid begann ich zu weinen. Weil ich den einzigen anderen Menschen verloren hatte, der imstande war, die ganze Last zu schultern, die uns von Geburt an aufgebürdet worden war. Die Last unserer toten Eltern. Die Last von Gee, an deren gelegentliche Freundlichkeit wir uns inniglich klammerten, aber deren Gefühlskälte für uns Alltag war. Die Last unserer Armut. Mir liefen Tränen über die Wangen. Ich sah den Boden nur noch verschwommen. Ich stolperte über die Kante einer Gehwegplatte, die von einer tastenden Wurzel hochgeschoben worden war.
Sekunden später erblickte uns ein junger Officer, der neu in dem Revier war: einer der vielen zusätzlichen Polizisten, über die Jim und Paula gejammert hatten. Minuten später kam ein Krankenwagen, und ich fuhr hinten bei meiner Schwester mit und sah zu, wie sie mit einer Dosis Narcan von den Toten auferweckt wurde, mit Macht, wie durch ein Wunder, laut schrie, vor Schmerz und Übelkeit und Verzweiflung, uns anflehte, sie zurückkehren zu lassen.
An dem Tag erfuhr ich folgendes Geheimnis: Keiner von ihnen will gerettet werden. Sie wollen alle wieder zurücksinken in Richtung Erde, um vom Boden verschluckt zu werden, um weiterzuschlafen. In ihren Gesichtern liegt Hass, wenn sie wiederbelebt werden. Diesen Ausdruck habe ich inzwischen schon zigmal gesehen, im Job: wenn ich irgendeinem armen Rettungssanitäter über die Schulter schaue, dessen Aufgabe es ist, sie aus dem Jenseits zurückzuholen. Es war der Ausdruck in Kaceys Gesicht, als sie an dem Tag die Augen aufschlug, als sie fluchte, als sie weinte. Er galt mir.