jetzt

Lafferty und ich werden vom Fundort entlassen. Es obliegt jetzt Sergeant Ahearn, alles Weitere zu koordinieren, die Rechtsmedizin, die Detectives, die Kriminaltechnik.

Lafferty, neben mir im Wagen, ist endlich still. Ich entspanne mich, bloß ein wenig, lausche auf das Schmatzen der Scheibenwischer, auf das leise Knistern des Funkgeräts.

«Alles in Ordnung?», sage ich zu ihm.

Er nickt.

«Irgendwelche Fragen?»

Er schüttelt den Kopf. Wieder versinken wir in Schweigen.

Ich denke über die verschiedenen Arten von Stille nach, die es gibt: Diese Stille ist unangenehm, angespannt, das Schweigen von zwei Fremden, zwischen denen etwas Unausgesprochenes steht. Prompt vermisse ich Truman, dessen Schweigen friedlich war, dessen regelmäßige Atemzüge mich immer ermahnten, ruhiger zu werden.

Fünf Minuten vergehen. Und schließlich ergreift er das Wort.

«Schon bessere Tage gesehen», sagt er.

«Bitte?», sage ich.

Lafferty deutet mit einem Armschwenk auf unsere Umgebung.

«Ich hab gesagt, das Viertel hat schon bessere Tage gesehen. Es war eine anständige Gegend, als ich klein war. Bin immer hergekommen, um Baseball zu spielen.»

Ich runzele die Stirn.

«Ist kein schlechtes Viertel», sage ich. «Es hat seine guten und seine schlechten Seiten, schätze ich. Wie die meisten Viertel.»

Lafferty zuckt die Achseln, keineswegs überzeugt. Er ist noch kein ganzes Jahr bei der Polizei, und schon beklagt er sich. Manche Officers haben die unschöne und destruktive Angewohnheit, ständig an den Revieren herumzumäkeln, in denen sie Streife fahren. Ich habe viele Officers – darunter leider auch Sergeant Ahearn persönlich – über Kensington in einer Art und Weise reden hören, die sich nicht gehört für jemanden, der die Aufgabe hat, ein Gemeinwesen zu schützen und zu bewahren. Drecksdorf, sagt Sergeant Ahearn manchmal bei der Einsatzbesprechung. Ketamin-City. Kackstadt, USA.

«Ich brauch einen Kaffee», sage ich jetzt zu Eddie Lafferty.

Normalerweise trinke ich meinen Kaffee in einem kleinen Eckladen, wo Glaskannen auf Warmhalteplatten stehen und der Geruch nach Katzenstreu und Ei-Sandwiches in die Wände eingebrannt ist. Alonzo, der Betreiber, ist inzwischen ein Freund. Aber ich habe schon länger ein neues Café im Auge. Bomber Coffee, eines von einer ganzen Reihe von Läden, die in letzter Zeit an der Front Street aufgemacht haben, und ich vermute, der Grund, warum ich ihn vorschlage, ist Laffertys Geringschätzung des Viertels.

Diese neuen Läden – vor allem das Bomber – haben etwas an sich, das mich jedes Mal anlockt. Vielleicht ihre Inneneinrichtung, aus kühlem Stahl oder warmem und klingendem Holz. Vielleicht die Leute darin, die mir vorkommen, als wären sie von einem anderen Planeten in unseren Bezirk gefallen. Worüber sie nachdenken und reden und schreiben, kann ich mir nur vorstellen: Bücher und Klamotten und Musik und was für Pflanzen sich für ihre Häuser eignen. Sie überlegen, welche Namen sie ihren Hunden geben sollen. Sie bestellen Getränke mit unaussprechlichen Bezeichnungen. Gelegentlich will ich einfach nur mal kurz runter von der Straße, um unter Leute zu kommen, die solche Sorgen haben.

Als ich vor dem Bomber Coffee anhalte, blickt Lafferty mich an. Skeptisch.

«Ist das dein Ernst, Mike?», sagt er. Das ist eine Anspielung auf Der Pate. Wahrscheinlich denkt er, ich würde sie nicht erkennen. Er weiß ja nicht, dass ich alle Teile von Der Pate mehrmals gesehen habe, nicht aus freien Stücken, und dass ich es jedes Mal furchtbar fand.

«Bist du bereit, vier Dollar für deinen Kaffee zu bezahlen?», fragt er.

«Ich würde dich gern einladen», sage ich.

Ich bin nervös, als wir hineingehen, und ich ärgere mich deshalb über mich selbst. Unisono stutzen alle Gäste einen Moment, als sie unsere Uniformen, unsere Waffen wahrnehmen. Ein kurzer Blick von oben nach unten, an den ich mich längst gewöhnt habe. Dann wenden sie sich wieder ihren Laptops zu.

Das Mädchen hinter der Theke ist dünn und hat einen Pony, der ihr schnurgerade in die Stirn fällt, und eine Art Wintermütze, die ihn an Ort und Stelle hält. Der Junge neben ihr hat Haare, die an den Wurzeln dunkel und zu den Spitzen hin platingrau gebleicht sind. Seine Brille ist groß und eulenartig.

«Was darf’s sein?», fragt der Junge.

«Zwei mittelgroße Kaffee, bitte», sage ich. (Ich sehe mit einiger Zufriedenheit, dass diese Größe nur zwei Dollar fünfzig kostet.)

«Sonst noch was?», fragt der Junge. Er steht jetzt mit dem Rücken zu uns, während er den Kaffee eingießt.

«Ja», sagt Lafferty. «Tun Sie einen Schuss Whiskey rein, wenn Sie schon mal dabei sind.»

Er lächelt, als er das sagt, wartet auf Anerkennung. Diese spezielle Art von Humor kenne ich von meinen Onkeln: abgedroschen, vorhersehbar, harmlos. Lafferty ist groß und sieht einigermaßen gut aus, und er ist es wahrscheinlich gewohnt, gemocht zu werden. Er grinst noch immer, als der Junge sich umdreht.

«Wir verkaufen keinen Alkohol», sagt der Junge.

«Das war ein Witz», sagt Lafferty.

Der Junge reicht uns feierlich unseren Kaffee.

«Könnte ich mal Ihre Toilette benutzen?», fragt Lafferty. Er hat seine Freundlichkeit jetzt abgelegt.

«Außer Betrieb», sagt der Junge.

Aber ich kann sie sehen, eine Tür weiter hinten, klar und deutlich, ohne ein Schild dran, nichts, was darauf hindeutet, dass die Toilette defekt ist. Seine Kollegin, das Mädchen, meidet den Blickkontakt mit uns.

«Habt ihr nur die eine?», fragt Lafferty. Mit vielen Lokalen haben Streifenpolizisten eine Übereinkunft: Wir haben kein Büro, und wir hocken den ganzen Tag in unseren Fahrzeugen. Öffentliche Toiletten sind ein wichtiger Bestandteil unseres Arbeitsalltags.

«Ja», sagt der Junge. «Sonst noch was?», fragt er wieder.

Ich gebe ihm wortlos mein Geld. Ich gehe. Unseren Nachmittagskaffee werden wir wieder im Eckladen von Alonzo trinken. Alonzo lässt uns seine dämmrige, schmuddelige kleine Toilette benutzen, selbst wenn wir nichts kaufen. Er lächelt uns an. Er kennt Kacey. Er weiß, wie mein Sohn heißt, und er fragt nach ihm.

«Echt nette Kids», sagt Lafferty draußen. «Richtige Herzchen.»

Seine Stimme klingt bitter. Seine Gefühle sind verletzt. Zum ersten Mal mag ich ihn.

Willkommen in Kensington, denke ich. Tu nicht so, noch nicht, als würdest du es kennen.

Am Ende unserer Schicht parke ich unseren Wagen auf dem Parkplatz – ich inspiziere ihn noch gründlicher, als ich das normalerweise tun würde, achte darauf, dass Lafferty genau zusieht –, und dann gehen wir ins Revier, um unser Einsatzprotokoll abzugeben.

Sergeant Ahearn ist zurück in seinem Büro, einem Raum nicht größer als eine Besenkammer, mit Betonwänden, die schwitzen, wenn die Klimaanlage läuft –, aber es ist seins, etwas, das ihm gehört. Er hat ein Schild an der Tür mit der Aufschrift Erst klopfen.

Wir tun es und treten ein.

Er sitzt an seinem Schreibtisch und guckt sich irgendwas auf seinem Computer an. Wortlos nimmt er das Protokoll entgegen, ohne uns anzusehen.

«Nacht, Eddie», sagt er, als Lafferty geht.

Ich verharre einen Moment auf der Türschwelle.

«Nacht, Mickey», sagt er. Betont.

Nach kurzem Zögern frage ich: «Können Sie mir irgendwas über unser Opfer sagen?»

Er seufzt. Blickt von seinem Bildschirm auf. Schüttelt den Kopf.

«Noch nicht», sagt er. «Nichts Neues.»

Ahearn ist ein kleiner, schmächtiger Mann mit grauem Haar und blauen Augen. Er sieht nicht schlecht aus, aber er ist unsicher wegen seiner Statur. Mit meinen ein Meter zweiundsiebzig schaue ich mindestens fünf Zentimeter auf ihn herab. Aufgrund des Größenunterschieds stellt er sich manchmal auf die Zehenspitzen und bleibt in der Position, während er mit mir redet. Heute, da er an seinem Schreibtisch sitzt, bleibt ihm diese Demütigung erspart.

«Nichts?», sage ich. «Ist sie noch nicht identifiziert?»

Wieder schüttelt Ahearn den Kopf. Ich weiß nicht, ob ich ihm glauben soll. Ahearn ist seltsam: Er lässt sich nicht gern in die Karten schauen, selbst wenn er keinen Grund dazu hat. Eine Angewohnheit, mit der er hauptsächlich die relativ geringfügige Macht demonstrieren will, die er über uns hat, glaube ich. Er konnte mich von Anfang an nicht leiden. Ich führe das auf einen Fehler zurück, den ich kurz nach seiner Versetzung in unseren Bezirk gemacht habe: Bei der Einsatzbesprechung gab er uns eine Falschinformation über einen Täter, den wir suchten, und ich hob die Hand, um ihn zu korrigieren. Es war eine dumme und gedankenlose Reaktion von mir. Ich hätte ihn erst hinterher darauf aufmerksam machen sollen, um die Rangordnung zu wahren, das wurde mir später klar, doch die meisten Sergeants würden über so einen kleinen Lapsus hinwegsehen, sie würden Danke sagen und vielleicht einen Witz darüber machen. Ahearn dagegen warf mir einen Blick zu, den ich so bald nicht vergessen werde. Truman und ich haben oft gewitzelt, Ahearn hätte mich auf dem Kieker. Und obwohl wir das halb im Scherz sagten, glaube ich, dass wir beide deshalb in Wirklichkeit beunruhigt waren.

Jetzt sage ich zu Ahearn: «Ich habe sie noch nie auf der Straße gesehen. Nur für den Fall, dass Sie sich das gefragt haben.»

«Hab ich nicht», sagt Ahearn.

Sollten Sie aber, würde ich am liebsten sagen. Das ist eine wichtige Information. Sie könnte bedeuten, dass die Frau entweder neu in unserem Revier war oder einfach auf der Durchreise. Wir Streifenpolizisten kennen unsere Bezirke am besten. Wir sind ständig auf den Straßen unterwegs, lernen jeden Laden und jedes Wohnhaus kennen, die Menschen, die dort leben. Immerhin haben die Detectives, die am Fundort der Leiche waren, mir diese Frage und auch noch etliche andere Fragen gestellt, deren Gewissenhaftigkeit mich beruhigt hat.

Ich sage nichts von alldem. Ich klopfe einmal an den Türrahmen. Wende mich zum Gehen.

Doch dann ergreift Ahearn wieder das Wort. Er schaut dabei auf seinen Computer, sieht mich nicht an.

«Wie geht’s Truman?», fragt er.

Ich stutze. Perplex.

«Gut, vermutlich», sage ich.

«Haben Sie in letzter Zeit nichts von ihm gehört?»

Ich zucke die Achseln. Manchmal ist es schwierig, Ahearns Absichten zu durchschauen, aber ich weiß aus Erfahrung, dass er immer welche hat.

«Seltsam», sagt Ahearn. «Ich dachte, Sie wären befreundet.»

Dann blickt er auf und sieht mich einen kleinen Moment länger an, als mir lieb ist.

Auf dem Nachhauseweg rufe ich Gee an. Wir telefonieren mittlerweile nur selten. Wir sehen uns noch seltener. Als Thomas geboren wurde, fasste ich den Entschluss, ihm eine ganz andere Kindheit zu bieten, als ich sie erlebt habe, und das bedeutet so wenig Kontakt zu Gee – im Grunde zu allen O’Briens – wie möglich. Widerwillig, aus irgendeinem unverwüstlichen familiären Pflichtgefühl heraus, vollziehe ich das formelle Ritual, Gee um Weihnachten herum mit Thomas zu besuchen, und ich rufe sie sporadisch an, um mich zu vergewissern, dass sie noch lebt. Sie beklagt sich zwar manchmal darüber, aber ich glaube nicht, dass sie uns wirklich vermisst. Sie ruft mich nie an. Sie bietet nie an, mal auf Thomas aufzupassen, obwohl sie fit genug ist, ihren Catering-Job zu stemmen und obendrein stundenweise im Supermarkt Thriftway zu arbeiten. Seit einiger Zeit glaube ich, wir würden nie wieder miteinander sprechen, wenn ich aufhören würde, mich bei ihr zu melden.

«Ich höre», sagt Gee, als sie nach mehrmaligem Klingeln abhebt. So meldet sie sich immer am Telefon.

«Ich bin’s», sage ich, und Gee sagt: «Ich wer?»

«Mickey», sage ich.

«Oh», sagt Gee. «Hab deine Stimme gar nicht erkannt.»

Ich stocke, lasse die Andeutung sacken. Sie will mir ein schlechtes Gewissen machen. Wie immer.

«Ich wollte nur mal fragen», sage ich, «ob du in letzter Zeit was von Kacey gehört hast.»

«Wieso interessiert dich das?», fragt Gee argwöhnisch.

«Nur so», sage ich.

«Nein», sagt Gee. «Du weißt, ich halte mich von ihr fern. Du weißt, ich will mit ihrem Scheiß nichts zu tun haben. Ich halte mich fern», wiederholt sie, nur der Deutlichkeit halber.

«Alles klar», sage ich. «Gibst du mir Bescheid, falls du was von ihr hörst?»

«Was hast du vor?», fragt Gee. Misstrauisch.

«Nichts», sage ich.

«Du würdest auch auf Abstand bleiben», sagt Gee, «wenn du wüsstest, was gut für dich ist.»

«Mach ich», sage ich.

Nach einer kurzen Pause sagt Gee: «Das weiß ich doch.»

Beruhigt.

«Wie geht’s meinem Kleinen?», wechselt Gee das Thema. Sie war schon immer netter zu Thomas, als sie je zu uns war. Sie verwöhnt ihn, wenn sie ihn sieht, zaubert aus ihrer Handtasche bergeweise uralte, verklebte Bonbons hervor, die sie auspackt und ihm eigenhändig in den Mund steckt. Wahrscheinlich spiegeln diese kleinen Gaben die Art und Weise wider, wie sie mit ihrer eigenen Tochter umgegangen ist, Lisa, unserer Mutter.

«Er ist in letzter Zeit ganz schön frech», sage ich. Was gar nicht stimmt.

«Ach, hör auf», sagt Gee. Endlich höre ich ganz schwach ein Lächeln in ihrer Stimme. «Hör auf damit. Rede nicht so über meinen Jungen.»

«Ist er aber», sage ich.

Ich warte. Ein Teil von mir hofft noch immer, dass Gee als Erste nachgibt, dass sie mich bittet, Thomas vorbeizubringen, dass sie sich als Babysitterin anbietet, dass sie vorschlägt, uns in unserer neuen Wohnung zu besuchen.

«Sonst noch was?», sagt Gee schließlich.

«Nein», sage ich. «Ich denke, das ist alles.»

Bevor ich noch ein weiteres Wort sagen kann, hat sie aufgelegt.

Meine Vermieterin, Mrs. Mahon, harkt ihren Vorgarten, als ich in die Einfahrt biege. Mrs. Mahon wohnt in einem alten zweigeschossigen Haus im Kolonialstil, das sie planlos um eine zweite Etage für eine Einliegerwohnung aufgestockt hat. In die Wohnung – die seit fast einem Jahr unsere ist – gelangt man über eine wackelige Treppe auf der Rückseite des Hauses. Das Grundstück ist klein, aber hinter dem Haus ist ein langer Garten, den Thomas und ich nutzen können, und eine alte Reifenschaukel, die an einem Baum hängt. Ein wesentlicher Vorteil der Wohnung, neben dem Garten, ist die Miete: fünfhundert Dollar im Monat, einschließlich Nebenkosten. Ich fand sie über einen Kollegen, dessen Bruder gerade dort auszog. «Ist nichts Tolles», sagte der Bruder, «aber sie ist sauber, und die Vermieterin lässt schnell einen Handwerker kommen, wenn was kaputt geht.»

«Ich nehme sie», sagte ich. Am selben Tag bot ich mein Haus in Port Richmond zum Verkauf an. Es tat mir in der Seele weh; ich liebte das Haus. Aber ich hatte keine andere Wahl.

Ich winke Mrs. Mahon durchs Fahrerfenster zu, und sie unterbricht ihre Arbeit, als sie mich sieht, stützt sich mit dem Ellbogen auf den Holzstiel ihrer Harke.

Ich steige aus. Winke noch einmal. Auf dem Rücksitz liegt eine volle Einkaufstüte, und ich greife mit beiden Händen danach, gebe leise Geräusche von mir, um anzudeuten, wie gehetzt ich wieder mal bin. Ich spüre bei Mrs. Mahon immerzu eine Bedürftigkeit, habe aber keine große Lust, der näher auf den Grund zu gehen. Sie steht fast immer im Vorgarten, wo sie darauf wartet, dass irgendwer vorbeikommt, den sie ansprechen kann (mir ist aufgefallen, dass auch der Postbote unsicher dreinblickt, wenn er sich nähert), und ich finde, dass sie immer besorgt und hoffnungsvoll zugleich aussieht, als würde sie gern gefragt werden, was sie beunruhigt, damit sie sich eine Weile darüber auslassen kann. Ungebeten erteilt sie Ratschläge – zur Wohnung, zum Auto, zur Wahl unserer Kleidung, die Mrs. Mahon zufolge meist für das Wetter ungeeignet ist – und das mit einer Dringlichkeit, wie man sie normalerweise bei medizinischen Notfällen einsetzen würde. Sie hat kurzes weißes Haar, und wenn sie den Kopf bewegt, pendeln zwischen Kinn und Schlüsselbein weiche Hautlappen. Sie trägt gern weite Bluejeans und Sweatshirts mit Motiven, die zur Jahreszeit passen. Von Nachbarn gleich nebenan habe ich gehört, dass sie mal verheiratet war, aber falls das stimmt, weiß anscheinend niemand, was aus ihrem Mann geworden ist. Wenn ich nicht gut auf sie zu sprechen bin, stelle ich mir vor, dass er an Verdruss gestorben ist. Immer wenn Thomas sich beim Ein- oder Aussteigen mal schlecht benimmt, kann ich darauf wetten, dass Mrs. Mahon uns von ihrem Fenster aus beobachtet wie eine Schiedsrichterin ein Spiel. Hin und wieder kommt sie sogar aus dem Haus, um besser zuschauen zu können, mit verschränkten Armen und ungehaltener Miene.

Als ich mich heute vom Rücksitz aufrichte, die Einkaufstüte in der Hand, sagt Mrs. Mahon: «Es war jemand da, der zu Ihnen wollte.»

Ich runzele die Stirn.

«Wer?», sage ich.

Mrs. Mahon scheint sehr erfreut, dass ihr diese Frage gestellt wird.

«Er hat seinen Namen nicht genannt», sagt sie. «Hat nur gesagt, dass er noch mal wiederkommt.»

«Wie hat er ausgesehen?», frage ich.

«Groß», sagt Mrs. Mahon. «Dunkles Haar. Sehr attraktiv», sagt sie verschwörerisch.

Simon. Ein kleines Stechen im Unterleib. Ich sage nichts.

«Was haben Sie ihm gesagt?», frage ich.

«Dass Sie nicht zu Hause sind.»

«Hat er sonst noch was gesagt? Hat Thomas ihn gesehen?»

«Nein», sagt Mrs. Mahon. «Er hat bloß bei mir geklingelt. Er hat sich vertan. Ich glaube, er hat gedacht, Sie würden in meinem Haus wohnen.»

«Und haben Sie ihn korrigiert?», frage ich. «Haben Sie ihm gesagt, dass wir in der Wohnung oben wohnen?»

«Nein», sagt Mrs. Mahon. Sie blickt finster. «Ich kannte ihn nicht. Ich hab ihm gar nichts gesagt.»

Ich zögere. Alles in mir sträubt sich dagegen, Mrs. Mahon irgendetwas aus meinem Leben zu erzählen, aber in diesem Fall bleibt mir wohl keine andere Wahl.

«Wieso?», fragt Mrs. Mahon.

«Wenn er noch mal kommt», erwidere ich, «sagen Sie ihm doch einfach, wir sind ausgezogen. Sagen Sie ihm, wir wohnen hier nicht mehr. Irgendwas in der Art.»

Mrs. Mahon nimmt eine etwas aufrechtere Haltung ein. Vielleicht aus Stolz, einen Auftrag erteilt zu bekommen.

«Hauptsache, Sie bringen mir keinen Ärger ins Haus», sagt sie. «Ich will keinen Ärger in meinem Leben.»

«Er ist nicht gefährlich», sage ich. «Ich rede bloß nicht mehr mit ihm. Wir sind aus gutem Grund hierhergezogen.»

Mrs. Mahon nickt. Ich bin überrascht, so etwas wie Zustimmung in ihren Augen zu sehen.

«Na schön», sagt sie. «Dann mach ich das.»

«Danke, Mrs. Mahon», sage ich.

Mrs. Mahon winkt ab.

Dann kann sie sich nicht länger beherrschen und sagt: «Die Tüte reißt gleich.»

«Wie bitte?», sage ich.

«Die Tüte», sagt Mrs. Mahon und zeigt auf meine Einkäufe. «Die ist zu schwer, und sie reißt gleich. Deshalb bitte ich die Kassiererin immer, zwei ineinanderzustecken.»

«Guter Tipp. Das mach ich in Zukunft auch», sage ich.

Anfangs, als ich nach Thomas’ Geburt wieder arbeiten gegangen war, spürte ich kurz vor Feierabend eine geradezu körperliche Sehnsucht nach ihm. Es war vergleichbar mit Hunger. Wenn ich zur Kinderkrippe hetzte, um ihn abzuholen, stellte ich mir vor, wir wären durch eine Schnur verbunden, die sich von allein wieder aufwickelte, wie bei einem Jo-Jo. Das Gefühl hat sich abgeschwächt, je größer Thomas wurde, in eine mildere Version seiner selbst verwandelt, aber ich nehme noch immer zwei Stufen auf einmal, wenn ich die Hintertreppe hochlaufe, und habe sein Gesicht vor Augen, sein breites Grinsen, seine Arme, die sich mir entgegenstrecken.

Ich öffne die Tür. Da ist er, mein Sohn, springt auf mich zu, gefolgt von Bethany, der Babysitterin.

«Ich hab dich vermisst», sagt er zu mir, sein Gesicht dicht an meinem, seine Hände an meinen Wangen.

«Warst du schön lieb zu Bethany?», frage ich.

«Ja», sagt er.

Ich sehe Bethany an, damit sie das bestätigt, doch sie schaut schon auf ihr Handy, will möglichst schnell weg. Seit Monaten ist mir klar, dass ich eine andere, bessere Babysitterin brauche. Thomas mag sie nicht. Er redet jeden Tag über seine frühere Kita in Fishtown, seine früheren Freunde dort, seine früheren Erzieherinnen. Aber es ist schier unmöglich, jemanden zu finden, der sich meinem zweiwöchigen Wechsel zwischen Früh- und Spätschicht anpassen kann, und Bethany – einundzwanzig, stundenweise als Visagistin tätig – ist sowohl billig als auch fast jederzeit verfügbar. Aber was sie an Flexibilität zu bieten hat, lässt sie an Verlässlichkeit vermissen, und in letzter Zeit hat sie sich so oft krankgemeldet, dass ich schon meinen gesamten Urlaub aufgebraucht habe. Wenn sie dann tatsächlich erscheint, kommt sie regelmäßig zu spät, weshalb ich auch regelmäßig zu spät komme, weshalb Sergeant Ahearn jedes Mal unfreundlicher wird, wenn wir uns auf der Wache über den Weg laufen.

Jetzt bedanke ich mich bei Bethany und bezahle sie. Sie geht wortlos. Und sofort wird die Stimmung heiterer.

Thomas sieht mich an.

«Wann kann ich wieder in die Kita?», fragt er.

«Thomas», sage ich. «Du weißt, deine alte Kita ist zu weit weg. Und nächsten September kommst du in die Schule, schon vergessen?»

Er seufzt.

«Nur noch ein bisschen länger», sage ich. «Nicht ganz ein Jahr.»

Ein weiterer Seufzer.

«Ist es so schlimm?», frage ich ihn.

Aber natürlich habe ich ein schlechtes Gewissen. Jeden Abend nach der Frühschicht und häufig auch morgens versuche ich, es wiedergutzumachen. Ich setze mich neben ihn auf den Fußboden und spiele mit ihm, bis er keine Lust mehr hat, versuche, ihm alles beizubringen, was er über die Welt wissen muss, versuche, ihn so mit Wissen und Stärke und Neugier vollzustopfen, dass diese Eigenschaften ihm helfen, selbst die langen Zeitspannen ohne mich durchzustehen, die endlosen Spätschicht-Wochen, in denen ich ihn nicht mal ins Bett bringen kann.

Jetzt zeigt er mir aufgeregt, was er in meiner Abwesenheit gebaut hat: eine ganze Stadt aus hölzernen Bahngleisen, die ich gebraucht gekauft habe; Knäuel aus buntem Bastelpapier sollen Felsbrocken und Berge und Häuser darstellen, während Getränkedosen und Flaschen, die er aus der Recycling-Tonne gefischt hat, als Bäume fungieren.

«Hat Bethany dir dabei geholfen?», frage ich ihn hoffnungsvoll.

«Nein», sagt er. «Hab ich ganz allein gemacht.»

In seiner Stimme liegt Stolz. Ihm ist nicht klar – wie auch? –, dass ich wünschte, die Antwort wäre Ja gewesen.

Mit seinen fast fünf Jahren ist Thomas groß und stark und stürmisch und bereits schlauer, als gut für ihn ist. Er ist auch hübsch. So schlau und hübsch wie Simon. Aber anders als sein Vater ist er bislang freundlich und lieb.

Am nächsten Tag meldet sich die Mordkommission nicht bei uns, auch nicht am übernächsten oder dem danach.

Zwei Wochen vergehen. Ahearn teilt mir weiterhin Eddie Lafferty als Partner zu. Ich vermisse Truman. Ich vermisse sogar den Solo-Dienst, den ich nach seiner Krankmeldung geschoben habe. Es ist heutzutage ungewöhnlich, langfristig einen Partner zu haben – das Budget ist knapp, und Einzelstreifen sind zunehmend gängige Praxis –, aber Truman und ich lieferten den schlagenden Beweis für die Vorteile einer Zweierkonstellation. Wir arbeiteten so gut zusammen, dass unsere Einsätze quasi wie nach einer Choreografie abliefen und unsere Erfolgsquote im Revier unübertroffen war. Ich bezweifle, dass Eddie Lafferty und ich je ein vergleichbar enges Verhältnis haben werden. Jeden Tag höre ich mir jetzt an, was er am liebsten isst, was für Musik er am liebsten hört und wo er politisch steht. Ich höre mir an, wie er über seine Ex-Frau Nummer drei schimpft und dann über die Jugend und dann über die Senioren. Ich bin, soweit möglich, noch stiller als am Anfang.

Wir wechseln in die Spätschicht, arbeiten von vier Uhr nachmittags bis Mitternacht, die ganze Zeit müde.

Ich vermisse meinen Sohn.

Mehrmals – vielleicht zu oft – frage ich Sergeant Ahearn nach der Frau, die wir am Gleis gefunden haben. «Ist sie identifiziert worden?», will ich wissen. «Konnte die Todesursache festgestellt werden? Will die Mordkommission noch einmal mit uns sprechen?»

Wieder und wieder wimmelt er mich ab.

An einem Montag Mitte November – seit dem Fund der Leiche ist fast ein ganzer Monat vergangen – gehe ich vor Beginn meiner Schicht zu Ahearn, der am Kopierer steht und Papier nachfüllt. Bevor ich etwas sagen kann, wirbelt er zu mir herum und sagt: «Nein.»

«Bitte?», sage ich.

«Nichts Neues.»

Ich stutze. «Keine Obduktionsergebnisse?», sage ich. «Nichts?»

«Wieso interessieren Sie sich so dafür?», fragt er.

Er sieht mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, fast ein Lächeln. Als wollte er mich provozieren, als hätte er irgendwas gegen mich in der Hand. Es ist sehr beunruhigend. Außer mit Truman spreche ich bei der Arbeit nie über Kacey, und ich habe nicht vor, jetzt damit anzufangen.

«Ich finde es bloß eigenartig», sage ich. «Es ist schon so lange her, dass wir die Tote gefunden haben. Ist einfach ziemlich seltsam, dass wir so gar nichts erfahren, finden Sie nicht?»

Ahearn atmet tief aus. Er legt eine Hand auf den Kopierer.

«Hören Sie, Mickey», sagt er. «Die Sache fällt ins Ressort der Mordkommission, nicht in meins. Ich habe lediglich gehört, dass die Obduktion keine eindeutigen Ergebnisse erbracht hat. Und da das Opfer noch immer nicht identifiziert ist, kann ich mir vorstellen, dass der Fall nicht gerade oberste Priorität hat.»

«Das ist nicht Ihr Ernst», sage ich, ehe ich mich bremsen kann.

«So ernst wie ein Herzinfarkt», sagt Ahearn. Ein Spruch, den er mag und häufig benutzt.

Er wendet sich wieder dem Kopierer zu.

«Sie wurde erwürgt», sage ich. «Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen.»

Ahearn wird still. Ich weiß, ich setze ihn unter Druck. Er lässt sich nicht gern unter Druck setzen. Er steht eine Weile mit dem Rücken zu mir da, Hände auf den Hüften, und wartet, dass seine Kopien fertig werden. Er sagt nichts.

Truman würde mir in diesem Moment raten, es gut sein zu lassen. Politik, sagte er oft. Es ist alles Politik, Mick. Such dir die richtigen Leute und mach dich bei ihnen lieb Kind. Mach dich bei Ahearn lieb Kind, wenn’s sein muss. Sichere dich ab.

Aber das ist mir nie gelungen, obwohl ich es einige Male versucht habe, auf meine Art: Ich weiß zum Beispiel, dass Ahearn sehr gern Kaffee trinkt, und deshalb habe ich ihm ein- oder zweimal einen Kaffee mitgebracht, und einmal, zu Weihnachten, sogar eine Packung Bohnen in einem Coffeeshop neben Thomas’ früherer Kita für ihn gekauft.

«Was ist das?», fragte Ahearn.

«Kaffeebohnen», sagte ich.

«Muss man die heutzutage schon selbst mahlen?», sagte Ahearn.

«Ja», sagte ich.

«Ich hab aber keine Mühle», sagte Ahearn.

«Tja», sagte ich. «Aber nächstes Jahr Weihnachten vielleicht.»

Er lächelte gezwungen, sagte, ich solle mir deshalb keinen Kopf machen, und bedankte sich höflich bei mir.

Leider haben diese Versuche das Eis zwischen uns nicht zum Schmelzen gebracht. Und Ahearn ist der Leiter meiner Einheit, und als solcher wechselt er mit mir von der Frühschicht zur Spätschicht und wieder zurück und ist im Allgemeinen der Sergeant, dem ich zu neunzig Prozent unterstellt bin. Die Officers, die er bevorzugt, sind Leute, die sich bei ihm einschmeicheln, überwiegend Männer, Leute, die ihn nach seiner Meinung oder um Rat fragen und ihm dann aufmerksam zuhören und eifrig nicken. Ich habe genau das bei Eddie Lafferty beobachtet. Ich kann sie mir beide in ihrem Baseballteam an der Highschool vorstellen: Ahearn der Anführer, Lafferty der Gefolgsmann. Bei der Arbeit kommt ihnen beiden diese Dynamik entgegen. Vielleicht ist Lafferty ja doch schlauer, als er scheint.

Als die Kopien fertig sind, nimmt Ahearn sie heraus und klopft den Stapel auf dem Kopierer bündig.

Ich stehe noch immer da, wortlos, warte auf eine Antwort. Lass gut sein, Mick, höre ich Truman in meinem Kopf sagen.

Ahearn dreht sich jäh zu mir um. Sein Gesicht ist nicht freundlich.

«Wenden Sie sich an die Mordkommission, wenn Sie noch Fragen haben», sagt er und marschiert an mir vorbei.

Aber ich weiß, was passiert, wenn ich das mache. Keine besorgten telegenen Eltern heißt keine Medienberichterstattung. Keine Medienberichterstattung heißt kein Fall. Bloß eine weitere tote Junkie-Nutte auf der Kensington Ave. Kein Grund für die feinen Leute am Rittenhouse Square, sich Sorgen zu machen.

Die ganze Schicht hindurch bin ich wütend und stiller denn je.

Selbst Lafferty merkt, dass irgendwas nicht stimmt. Er trinkt seinen Kaffee auf dem Beifahrersitz und schielt immer wieder zu mir herüber.

«Alles in Ordnung?», fragt er schließlich.

Ich starre geradeaus. Ich will ihm gegenüber nicht schlecht über Sergeant Ahearn reden. Ich weiß noch immer nicht genau, wie eng ihr Verhältnis ist, aber bei ihrer gemeinsamen Vergangenheit halte ich mich lieber bedeckt, was meine Gefühle angeht. Ich beschließe stattdessen, mich etwas allgemeiner auszudrücken.

«Bin bloß frustriert», sage ich.

«Warum denn?», fragt Lafferty.

«Die Frau, die wir letzten Monat am Gleis gefunden haben», sage ich.

«Ja?»

«Die Obduktionsergebnisse liegen jetzt vor.»

Lafferty nippt mit spitzem Mund an seinem heißen Kaffee.

«Hab ich gehört», sagt er.

«Todesursache uneindeutig», sage ich.

Er sagt nichts.

«Ist das zu fassen?», frage ich.

Lafferty zuckt die Achseln.

«Das ist wohl oberhalb meiner Gehaltsklasse», sagt er.

Ich sehe ihn an.

«Du hast sie auch gesehen», sage ich. «Du hast gesehen, was ich gesehen hab.»

Lafferty wird ausnahmsweise mal still und schaut aus dem Fenster. Zwei Minuten verstreichen ohne ein Wort.

Dann sagt er: «Vielleicht ist es gar nicht schlecht.»

Ich stutze. Ich will sichergehen, dass ich richtig gehört habe.

«Versteh mich nicht falsch», sagt er. «Es ist ein Jammer, wenn jemand stirbt. Aber was für ein Leben.»

Ich erstarre. Ich antworte besser erst mal nicht darauf und konzentriere mich eine Weile auf die Straße vor mir.

Ich überlege kurz, ihm von Kacey zu erzählen. Um ihn in Verlegenheit zu bringen. Damit er sich mies fühlt. Doch ehe ich dazu komme, schüttelt er langsam den Kopf.

«Diese Mädchen», sagt er. Er sieht mich an und tippt sich zweimal mit einem Finger an die Schläfe. Blöd, meint er. Keinen Verstand.

Ich beiße die Zähne zusammen.

«Was meinst du damit?», frage ich leise.

Lafferty sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich erwidere seinen Blick. Ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt. Das Problem habe ich schon mein Leben lang. Mein Gesicht wird knallrot, wenn ich wütend oder verlegen bin oder manchmal auch vor Freude. Eine unselige Eigenschaft bei einem Polizei-Officer.

«Was meinst du damit?», wiederhole ich. «Du hast gesagt: Diese Mädchen. Was soll das heißen?»

«Keine Ahnung», sagt Lafferty. «Nur so.»

Er gestikuliert mit den Händen, schaut sich in der Gegend um. «Sie tun mir einfach leid, mehr nicht.»

«Ich glaube nicht, dass du das gemeint hast», sage ich. «Aber okay.»

«Hey», sagt Lafferty. «Hey. Ich wollte niemanden beleidigen.»