damals

Manche Leute machen eine schwere Kindheit für ihr Unglück verantwortlich. Bei einem unserer letzten Gespräche war Kacey zum Beispiel gerade zu dem Schluss gelangt, dass ihre Probleme mit unseren Eltern anfingen, die sie verlassen hatten, und sich mit Gee fortsetzten, die sie nie geliebt und vielleicht nicht mal gemocht hatte.

Ich sah sie an, blinzelte und sagte, so ruhig ich konnte, zu ihr, dass ich in demselben Haushalt aufgewachsen war wie sie. Damit wollte ich natürlich andeuten, dass es die von mir getroffenen Entscheidungen waren, die mich auf meinen eigenen Weg geführt hatten – Entscheidungen, nicht Zufall. Und dass unsere Kindheit zwar nicht gerade idyllisch gewesen war, aber zumindest eine von uns hinlänglich auf ein produktives Leben vorbereitet hat.

Doch als ich das sagte, barg Kacey bloß den Kopf in den Händen und sagte zu mir: «Es ist anders, Mickey, für dich ist alles immer ganz anders gewesen.»

Bis heute weiß ich nicht, was sie damit gemeint haben könnte.

Okay, ich glaube, man kann sogar durchaus sagen – wenn wir schon bewerten wollen, wer von uns beiden die schwierigere Kindheit hatte, was immer das auch heißen mag –, dass das Pendel in meine Richtung ausschlagen würde.

Ich sage das, weil ich im Gegensatz zu Kacey Erinnerungen an unsere Mutter habe und noch dazu sehr schöne. Deshalb war der Verlust unserer Mutter für mich auf eine andere Art schwierig als für Kacey, die zu klein war, um sich an unsere Mutter zu erinnern.

Sie war jung, unsere Mutter. Achtzehn, als sie mit mir schwanger wurde. Sie war in der letzten Klasse auf der Highschool – eine gute Schülerin, wie Gee immer sagte, ein gutes Mädchen –, und sie war erst ein paar Monate mit unserem Vater zusammen, als es passierte. Angeblich waren alle völlig überrascht, und vor allem Gee, die noch heute eindringlich und mit düsterer Stimme erzählt, wie schockiert sie war. «Niemand hat es geglaubt», sagt sie. «Als ich es erzählt hab. Alle haben gesagt: ‹Doch nicht Lisa.›»

Gee war gerade religiös genug, um eine Abtreibung rundheraus auszuschließen. Aber sie war auch religiös genug, um sich über die Schwangerschaft aufzuregen, sich dafür zu schämen, sie als etwas zu sehen, das es zu verheimlichen galt. Es war das Jahr 1984. Gee selbst hatte mit neunzehn geheiratet und Lisa mit zwanzig bekommen, aber das waren andere Zeiten, sagte Gee gern. Gees Mann war sehr jung bei einem Autounfall gestorben – heute frage ich mich, ob er betrunken war, da Gee oft seinen Alkoholkonsum erwähnt –, und sie hat nie wieder geheiratet.

Ich habe mir oft vorgestellt, dass für Gee alles anders gelaufen wäre, wenn ihr Mann, unser Großvater, nicht gestorben wäre. Ein großer Teil ihres Lebens ist von der Notwendigkeit bestimmt worden, sich über Wasser zu halten: Essen auf den Tisch zu bringen, Rechnungen zu bezahlen, die Schulden zu begleichen, die sie ständig macht. Wenn ihr bei diesen Anstrengungen ein Partner zur Seite gestanden hätte – jemand, der einen Gehaltsscheck beigesteuert, mit ihr getrauert hätte, als ihre einzige Tochter starb –, vielleicht wäre ihr Leben, und unseres, dann besser gewesen. Aber derlei müßige Spekulationen sind womöglich reine Sentimentalität, denn bis auf den heutigen Tag behauptet Gee, keine Verwendung für Männer zu haben. Sie betrachtet sie lediglich als Hindernisse auf ihrem Weg, Ärgernisse, die nur hin und wieder für die Fortpflanzung erforderlich sind. Sie misstraut ihnen zutiefst. Geht ihnen möglichst aus dem Weg.

Anscheinend hatte die Ehe nur einen Vorteil für sie, nämlich den, dass sie sagen konnte, verheiratet gewesen zu sein, als ihre Tochter gezeugt wurde – verheiratet, erklärte sie häufig und stieß dabei mit dem Zeigefinger gegen eine unsichtbare Brust. Sie hatte alles richtig gemacht.

Als Lisa mit der Neuigkeit von ihrer Schwangerschaft herausrückte, bestand Gee daher auf einer Heirat. Gee hatte diesen Daniel Fitzpatrick (dieser Daniel Fitzpatrick sagte Gee ständig, wenn sie von unserem Vater sprach) erst einmal gesehen, aber jetzt bugsierte sie die beiden auf ihr Sofa und verlangte, dass sie mit dem Priester ihrer Gemeinde sprachen und ihn baten, die Trauung vorzunehmen. Unser Vater war der Sprössling einer alleinerziehenden Mutter, die als verantwortungslos verschrien war: «Ein Flittchen», sagte Gee oft, und sie war nicht verheiratet gewesen, als ihr Sohn gezeugt wurde, womit für Gee feststand, dass diese Frau ihr in Sachen Ehrbarkeit nie würde das Wasser reichen können. Schlimmer noch, in ihren Augen war der Sohn ein Sozialfall an der Schule. Jemand, der Schulgeld bezog, für das andere Leute arbeiten mussten, lamentierte Gee. Was die Mutter unseres Vaters über das alles dachte – das Baby, die Heirat, Gee selbst –, ist nicht überliefert. Ich kann mich nicht mal erinnern, ihr je begegnet zu sein. Sie war nicht auf der Beerdigung unserer Mutter: eine Beleidigung, die Gee mit ins Grab nehmen wird.

In Gees Darstellung der Ereignisse – die einzige Version, die ich je gehört habe – heirateten Lisa und Daniel, unsere Eltern, an einem Mittwochnachmittag in der Kirche Holy Redeemer, mit Gee und dem Diakon als Trauzeugen. Dann nahm Gee Dan in ihrem Haus auf. Sie gab ihrer Tochter und ihrem frischgebackenen Schwiegersohn das mittlere Schlafzimmer im Haus, kassierte Miete, wenn das junge Paar sie bezahlen konnte, und erzählte dem Rest der Familie die Neuigkeit nur scheibchenweise. Erhobenen Hauptes. Trotzig.

Fünf Monate später wurde ich geboren. Kacey anderthalb Jahre nach mir.

Vier Jahre später war unsere Mutter tot.

Erinnerungen an die Jahre zwischen meiner Geburt und dem Tod meiner Mutter kommen mir dann, wenn ich die Gedanken ausreichend beruhigen kann. In letzter Zeit gelingt mir das immer seltener. Manchmal, wenn ich Streife fahre, erinnere ich mich, auf der Rückbank eines Autos gesessen zu haben, das von meiner Mutter gesteuert wurde. Keine Kindersitze, damals. Auch keine Sicherheitsgurte. Auf dem Fahrersitz sang meine Mutter ein Lied.

Zuweilen passiert es mir auch, wenn ich an einem Kühlschrank stehe, irgendeinem Kühlschrank, zu Hause oder auf der Arbeit, dass ich ganz kurz ein Bild vor Augen habe: von meiner jungen Mutter, wie sie sich bei Gee, in Gees Küche, darüber beschwert, dass nichts im Kühlschrank ist. «Ach ja?», sagt Gee in einem anderen Raum. «Dann tu du doch was rein.»

Und ein Swimmingpool. Jemandes Swimmingpool. Selten, an einem Swimmingpool zu sein. Und das Foyer eines Kinos, obwohl ich nicht mehr weiß, wo das war, und alle Kinos sind jetzt in der Innenstadt, und die anderen sind geschlossen oder wurden zu Konzertsälen umgebaut.

Ich erinnere mich, wie jung meine Mutter war, dass sie mir selbst wie ein Kind vorkam oder eine Gleichaltrige, mit ihrer reinen und glatten Haut, dem Haar, das noch glänzte wie das eines Kindes. Ich erinnere mich auch, wie Gee in ihrer Gegenwart sanfter wurde, stiller, ausnahmsweise mal nicht mehr dauernd in Bewegung war. Sie lachte unwillkürlich, hob eine Hand vor den Mund, wenn ihre Tochter Faxen machte, schüttelte fassungslos den Kopf. «Du bist verrückt. Sie ist verrückt. Das ist hier das reinste Irrenhaus», sagte Gee und sah mich an, grinsend, stolz. Gee war damals freundlicher, verzaubert von ihrer witzigen, respektlosen Tochter, ohne zu ahnen, welches Schicksal sie und uns alle ereilen würde.

Noch schwerer abzurufen sind die Erinnerungen, die mir in der stillen Dunkelheit meines Schlafzimmers kommen. Jedes Mal, wenn Thomas dicht bei mir ist, sein Kleiner-Junge-Kopf direkt neben mir liegt, wenn ich seiner Haut so nah bin, dass ich ihren Duft einatme, dann – genau dann – blitzt in mir eine Erinnerung an meine eigene Mutter auf, neben mir im Bett meiner Kindheit. Das Gesicht, das junge Gesicht meiner Mutter, der Körper, der junge Körper meiner Mutter, in einem schwarzen T-Shirt mit einem aufgedruckten Schriftzug, den ich nicht lesen kann. Die Arme meiner Mutter um mich herum. Die Augen meiner Mutter geschlossen. Der Mund meiner Mutter geöffnet. Ihr Atem der süße Atem eines grasfressenden Tiers. Ich bin vier, und ich lege eine Hand an ihre Wange. «Hallo», sagt meine Mutter, und sie drückt den Mund an meine Wange, redet in mein Gesicht, und da sind die Zähne und die Lippen meiner Mutter. «Mein Baby», sagt meine Mutter, wieder und wieder, die Worte, die sie am allermeisten benutzte. Wenn ich mich sehr anstrenge, kann ich noch immer hören, wie sie sie mit ihrer hohen, fröhlichen Stimme sagt, in der manchmal ein erstaunter Unterton mitschwang: dass sie, Lisa O’Brien, überhaupt ein Baby hatte.

Dagegen kann ich mich an nichts erinnern, was mit der Sucht meiner Mutter zu tun hatte. Vielleicht habe ich es verdrängt; oder vielleicht habe ich einfach nicht gewusst, was es war, was es bedeutete, habe die Anzeichen für Sucht oder ihre Folgen nicht erkannt. Meine Erinnerungen an meine Mutter sind warm und liebevoll und umso schmerzhafter, weil es glückliche sind.

Ebenso wenig kann ich mich an den Tod meiner Mutter erinnern oder wie ich davon erfahren habe. Bloß die unmittelbaren Folgen sind mir im Gedächtnis geblieben: Gee, die durchs Haus tigerte, an ihren Haaren und an ihrer Bluse riss. Gee, die sich mit dem harten Handballen gegen den Kopf schlug, während sie telefonierte, und sich dann ins Handgelenk biss, als wollte sie einen Schrei unterdrücken. Menschen, die im Flüsterton sprachen. Menschen, die uns beide, Kacey und mich, in steife Kleider und Strumpfhosen und zu kleine Schuhe steckten. Eine Versammlung in einer Kirche: klein, gedämpft. Gee, die in eine Bankreihe sinkt. Gee, die Kaceys Arm packt, damit sie keinen Lärm macht. Unser Vater, auf der anderen Seite von uns, nutzlos. Still. Eine Versammlung bei uns zu Hause. Ein gewaltiges Gefühl der Scham. Die Knie und die Oberschenkel und die Schuhe und die Anzugjacken von Erwachsenen. Das Rascheln von Stoff. Keine Kinder. Keine Cousins und Cousinen. Die durften nicht dabei sein. Ein langer Winter. Abwesenheit. Abwesenheit. Leute vergessen uns, vergessen, mit uns zu sprechen. Leute vergessen, uns in den Arm zu nehmen. Leute vergessen, uns zu baden. Uns zu essen zu geben. Dann: nach Essbarem stöbern. Mich selbst satt machen. Meine Schwester satt machen. Sachen suchen, die unserer Mutter gehört haben, und daran riechen (ihr schwarzes T-Shirt, noch immer unlesbar für mich; die Decken auf dem Bett im Zimmer unserer Eltern, in dem mein Vater noch schlief; eine halb leere Limo im Kühlschrank; das Innere von ihren Schuhen), bis Gee einen Anfall bekam und die Sachen meiner Mutter zusammensuchte und entsorgte. Dann ihre Haarbürsten ganz hinten aus einer Schublade hervorkramen und daran riechen. Die Haarsträhnen meiner Mutter um die Finger wickeln, bis die Kuppen lila wurden.

All diese Erinnerungen verblassen jetzt. In letzter Zeit hole ich jede Einzelne nur selten hervor und lege sie dann behutsam zurück in ihre Schublade. Ich rationiere sie. Konserviere sie. Jedes Jahr werden sie schwächer, durchsichtiger. Flüchtige, süße Splitter auf der Zunge. Ich sage mir, wenn ich sie möglichst unversehrt bewahren kann, dann gebe ich sie vielleicht eines Tages an Thomas weiter.

Kacey war noch ganz klein, als unsere Mutter starb. Zwei Jahre alt. Noch in Windeln, die häufig zu lange nicht gewechselt wurden. Sie tapste im Haus herum, verloren, kletterte Treppen hoch, die sie nicht hätte hochklettern sollen, versteckte sich zu lange dort, wo es eng war, in Schränken, unter Betten. Öffnete Schubladen mit gefährlichen Dingen drin. Sie schien gern auf Augenhöhe mit Erwachsenen zu sein, und ich fand sie regelmäßig auf der Arbeitsplatte in der Küche oder auf dem Waschtisch im Bad sitzen: winzig, unbeaufsichtigt, allein. Sie hatte eine Stoffpuppe namens Muffin und zwei Schnuller, die nie abgewaschen wurden und die sie sorgfältig in Verstecken verstaute, wo niemand sonst sie finden konnte. Irgendwann waren beide verschwunden, und das war’s: Gee wollte sie nicht ersetzen, und Kacey heulte tagelang, vermisste ihre Schnuller und saugte verzweifelt an Fingern und an der Luft.

Es war keine bewusste Entscheidung von mir, mich um meine Schwester zu kümmern. Vielleicht weil ich begriff, dass das sonst niemand machen würde, übernahm ich die Aufgabe stillschweigend. Kacey schlief zu der Zeit noch in einem Gitterbettchen in meinem Zimmer. Aber es dauerte nicht lange, bis sie lernte, aus ihrem Bett zu klettern, und schon bald tat sie das jede Nacht. Verstohlen, mit dem Geschick und der Koordination eines älteren Kindes krabbelte sie über das hölzerne Gitter und kroch zu mir ins Bett. Ich war es, die die Erwachsenen im Haus daran erinnerte, wenn Kacey eine frische Windel brauchte. Ich war es, die meiner Schwester schließlich beibrachte, aufs Töpfchen zu gehen. Ich nahm meine Rolle als ihre Beschützerin ernst. Ich nahm die Bürde, die das bedeutete, mit Stolz auf mich.

Als wir größer wurden, bat Kacey mich, ihr Geschichten über unsere Mutter zu erzählen. Jeden Abend, in unserem gemeinsamen Bett, war ich Scheherazade und erzählte all die Episoden, an die ich mich erinnern konnte, dachte mir die anderen aus. «Weißt du noch, wie sie mit uns einen Ausflug an den Strand gemacht hat?», sagte ich zum Beispiel, und Kacey nickte dann heftig mit dem Kopf. «Weißt du noch, wie sie uns ein Eis gekauft hat? Weißt du noch, wie sie uns Pfannkuchen zum Frühstück gemacht hat? Weißt du noch, wie sie uns Gutenachtgeschichten vorgelesen hat?» (Das war paradoxerweise eine elterliche Handlung, die häufig in den Büchern vorkam, die wir selber lasen). Ich erzählte ihr all diese Geschichten und noch mehr. Ich log. Und während Kacey zuhörte, schlossen sich ihre Augen halb, wie die Augen einer Katze in der Sonne.

Ich muss zu meiner großen Schande gestehen, dass mir meine Rolle als Vermittlerin der Familiengeschichte auch eine schreckliche Macht über meine Schwester verlieh, eine Waffe, die ich nur ein einziges Mal einsetzte. Es war am Ende eines langen Tages und eines langen Streits, und Kacey hatte mich ständig wegen irgendwas genervt, woran ich mich nicht mehr erinnern kann. Schließlich entfuhr mir in einem Anfall von Wut eine Gemeinheit, die ich auf der Stelle bedauerte. Sie hat mir gesagt, dass sie mich lieber hat als dich, schleuderte ich Kacey entgegen. Bis heute ist das die schlimmste Lüge, die ich je von mir gegeben habe. Ich nahm es sofort wieder zurück, aber es war zu spät. Ich hatte bereits gesehen, wie Kaceys kleines Gesicht erst rot wurde und sich dann verzog. Ich hatte gesehen, wie ihr Mund sich öffnete, als wollte sie etwas erwidern. Stattdessen stieß sie einen Jammerschrei aus. Es war purer Kummer. Es war der Schrei eines viel älteren Menschen, eines Menschen, der schon zu viel gesehen hatte. Noch heute kann ich ihn hören, wenn ich es versuche.

Nach der Beerdigung hieß es, unser Vater würde mit uns woanders hinziehen. Aber er hatte wohl nie das Geld oder die Entschlusskraft dafür, und so wohnten wir drei weiter zusammen unter Gees Dach.

Das war ein Fehler.

Unser Vater und Gee hatten sich noch nie gut verstanden, aber jetzt stritten sie sich ständig. Manchmal war der Auslöser, dass sie ihn verdächtigte, in ihrem Haus Drogen zu nehmen – ich glaube, in dieser Hinsicht hatte Gee einen guten Riecher –, doch meistens ging es darum, dass er mit der Miete im Rückstand war. Ich kann mich noch an manche dieser Auseinandersetzungen erinnern, Kacey hingegen nicht, als ich noch mit ihr sprach.

Bald wurden die Spannungen zwischen ihnen unerträglich, und unser Vater zog aus. Von heute auf morgen war Gee allein für uns verantwortlich. Und darüber war Gee alles andere als glücklich. «Ich dachte, das Thema wäre für mich gegessen», sagte sie oft zu uns, vor allem, wenn Kacey irgendwelchen Unfug angestellt hatte. Wenn ich mir ihr Gesicht vorstelle, erinnere ich mich in erster Linie daran, dass ihre Blicke immer irgendwo anders waren; sie sah uns nie an, sondern blickte über uns hinweg oder an uns vorbei, immer nur kurz, wie man in die Sonne schauen würde. Als Erwachsene habe ich mich in großzügigeren Momenten gefragt, ob der Tod ihrer Tochter, die sie zweifellos über alles geliebt hatte, sie dazu brachte, uns immer auf Distanz zu halten. Wir müssen für sie kleine Erinnerungen an Lisa und an unsere eigene Sterblichkeit gewesen sein, mit dem Potenzial, ihr weiteren Schmerz zuzufügen, weiteren Verlust.

Obwohl Gee häufig von uns genervt schien, richteten sich ihre negativen Gefühle größtenteils nicht gegen uns, sondern gegen unseren Vater, für den sie eine unerhörte, immense Wut empfand, eine Fassungslosigkeit darüber, wie tief er sinken konnte, wenn es darum ging, sich vor seinen familiären Pflichten zu drücken. «Ich hab’s gleich gewusst, als ich ihn das erste Mal gesehen hab», sagte sie zu uns, in einem Monolog, den sie einmal im Monat hielt, wenn er den Unterhalt für uns nicht zahlte. «Ich hab Lisa gesagt, dass mir in meinem ganzen Leben noch nie so ein zwielichtiger Geselle untergekommen ist.»

Das andere, das ich über unseren Vater wusste, kam auch von Gee. «Er hat sie von diesem Dreck abhängig gemacht», sagte Gee – nie direkt zu uns, aber häufig am Telefon, so laut, dass wir es auf alle Fälle mitbekamen. «Er hat sie kaputtgemacht

Nach dem Tod unserer Mutter wurde aus dieser Daniel Fitzpatrick bloß noch Er oder Der. Der einzige Er in unserem Leben, abgesehen von ein paar Onkeln und Gott. Wenn wir ihn sahen, sagten wir Daddy zu ihm, was mir heute unvorstellbar erscheint: fast so, als hätte eine andere Person es gesagt. Schon damals fand ich es irgendwie seltsam, das Wort zu benutzen, wenn er sich länger nicht hatte blicken lassen. Doch er nannte sich selbst auch so. «Ich bin ihr Daddy», hörten wir ihn oft zu Gee sagen, wenn sie sich stritten. Und Gee entgegnete stets: «Dann benimm dich auch so.»

Schließlich verschwand er völlig. Wir sahen ihn zehn Jahre lang gar nicht. Als ich zwanzig war, erzählte mir ein früherer Freund von ihm beiläufig, dass er gestorben war, auf dieselbe Art wie fast alle im nordöstlichen Quadranten von Philadelphia. Auf dieselbe Art, wie ich dachte, dass Kacey gestorben wäre, als ich sie das erste Mal fand. Das zweite Mal. Das dritte.

Er habe gedacht, ich wüsste es schon, sagte der Freund meines Vaters, als er meine Reaktion sah.

Ich hatte keine Ahnung gehabt.

Was unsere Mutter betraf: Nach ihrem Tod sprach Gee nur noch selten von ihr. Aber mitunter ertappte ich sie dabei, dass sie sich das zahnlückige Grundschulfoto meiner Mutter – das einzige Flüstern von ihr, das noch im Haus geblieben war, das noch immer an der Wand im Wohnzimmer lebt – länger ansah, als sie es je getan hätte, wenn sie gewusst hätte, dass sie beobachtet wurde. Und manchmal, mitten in der Nacht, glaubte ich, Gee weinen zu hören: ein hohles, unheimliches Jammern, ein stotterndes, kindliches Wehklagen, der Klang endloser Trauer. Doch tagsüber ließ Gee sich nicht anmerken, dass sie irgendetwas anderes empfand als Resignation und Groll. «Sie hat schlechte Entscheidungen getroffen», sagte Gee über unsere Mutter. «Fangt bloß nicht mit demselben Dreck an.»

In Abwesenheit unserer Eltern wuchsen wir heran.

Gee war noch jung, als unsere Mutter starb, erst zweiundvierzig, aber sie kam uns viel älter vor. Sie arbeitete unentwegt, hatte oft mehrere Jobs gleichzeitig: im Catering, als Verkäuferin, als Putzfrau. Im Winter war es in ihrem Haus immerzu kalt. Sie stellte die Heizung auf höchstens dreizehn Grad, was gerade warm genug war, dass die Wasserrohre nicht einfroren. Wir trugen unsere Jacken und Mützen im Haus. «Wollt ihr etwa die Rechnung bezahlen?», fragte Gee uns, wenn wir uns beschwerten. Das Haus wirkte gespenstisch, wenn sie nicht da war: Es gehörte ihrer Familie seit 1923, als ihr irischer Großvater es gekauft hatte, und dann hatte ihr Vater es geerbt und dann Gee. Es war ein kleines Reihenhaus, zwei Geschosse, drei kleine Schlafzimmer hintereinander an einem Flur in der ersten Etage, ein Erdgeschoss, das schnurgerade von vorne nach hinten verlief. Wohnzimmer, Esszimmer, Küche. Keine Türen dazwischen. Halbherzige Schwellen hier und da deuteten die angeblichen Abgrenzungen der Räume an.

Hin und her und wieder zurück, vom vorderen Teil des Hauses zum hinteren, bewegten wir uns, meist als eine Einheit. Wenn Kacey oben war, war ich es auch. Wenn ich unten war, war Kacey es auch. McKacey, nannte Gee uns oft, oder KaMickey. Wir waren damals unzertrennlich, Schatten voneinander, die eine größer und dünner und dunkelhaarig, die andere klein und rund und blond. Wir schrieben einander Briefchen, die wir in Rucksäcken und Jackentaschen versteckten.

Wir entdeckten, dass sich der Teppichboden unseres Zimmers in einer Ecke anheben ließ und das lockere Dielenbrett darunter einen Hohlraum verbarg. Darin hinterlegten wir geheime Nachrichten füreinander und Gegenstände und Zeichnungen. Wir dachten uns detaillierte Szenarien aus, wie unser Leben als Erwachsene aussehen würde, wenn wir diesem Haus erst mal entflohen wären: Ich würde aufs College gehen, dachte ich, und einen guten, praktischen Job finden. Dann würde ich heiraten, Kinder kriegen, irgendwo, wo es warm war, meinen Ruhestand verleben, aber erst nachdem ich so viel wie möglich von der Welt gesehen hätte. Kaceys Ambitionen waren weniger bescheiden. Sie würde sich einer Band anschließen, sagte sie manchmal, obwohl sie nie ein Instrument gelernt hatte. Sie würde Schauspielerin werden. Köchin. Model. An anderen Tagen sprach auch sie davon, aufs College zu gehen, aber wenn ich sie fragte, auf welches sie gehen wollte, nannte sie Colleges, bei denen sie nie im Leben eine Chance hätte, angenommen zu werden, Colleges, deren Namen sie aus dem Fernsehen kannte. Colleges für reiche Leute. Ich brachte es nicht über mich, ihr diese Illusionen zu nehmen. Heute frage ich mich, ob ich es vielleicht hätte tun sollen.

In jenen Jahren wachte ich über Kacey wie eine Mutter, versuchte vergeblich, sie vor Gefahren zu beschützen. Kacey achtete derweil auf mich wie eine Freundin, lockte mich aus meinem Schneckenhaus, brachte mich mit anderen Kindern zusammen.

Nachts legten wir in unserem gemeinsamen Bett die Köpfe aneinander und hielten uns an den Händen, ein A-förmiger Wirrwarr aus Gliedmaßen und offenen Haaren, und jammerten über die Demütigungen an der Schule und nannten jeden Jungen, in den wir verschossen waren.

Wir teilten uns das hintere Zimmer aus reiner Gewohnheit noch bis in die Teenagerzeit. Wir hätten irgendwann jede ein eigenes Zimmer haben können, es gab ja drei im Haus. Aber das mittlere – Moms Zimmer, wie wir es noch lange nach ihrem Tod nannten – schien von der Erinnerung an sie erfüllt, und deshalb wollte keine von uns es haben. Außerdem wurde es sehr häufig in Beschlag genommen, wenn ein Cousin oder ein Onkel eine vorübergehende Bleibe brauchte und bereit war, Gee eine geringe Monatsmiete dafür zu zahlen. Gee selbst bezog es eine Zeit lang, nachdem sie die Klimaanlage am Fenster ihres vorderen Schlafzimmers entfernt hatte und dabei eine Scheibe herausgefallen war. Statt Geld für einen Handwerker auszugeben, klebte sie Plastikfolie über die Öffnung, schloss dann die Tür und klebte auch die zu, doch im Dezember zog es dermaßen kalt aus dem Zimmer, dass wir alle nur noch mit umgehängten Wolldecken durchs Haus gingen. Es sah aus, als trüge jede von uns eine Toga.

Die Beaufsichtigung von uns Kindern stellte für Gee immer ein großes Problem dar. An der Hanover-Grundschule gab es keine Nachmittagsbetreuung, was sie in die Bredouille brachte.

Schließlich hörte Gee von einem kostenlosen Angebot beim Polizeisportverein in der Nähe und meldete uns an. Dort spielten wir in zwei großen, widerhallenden Räumen und auf einem vorher gründlich abgesuchten Platz im Freien Fußball und Volleyball und Basketball, vom Spielfeldrand angefeuert von Officer Rose Zalecki, einer großen Frau, die in jüngeren Jahren Spitzensportlerin gewesen war. Dort hörten wir uns am laufenden Band Mahnungen an, die Schule nicht abzubrechen, uns nicht mit Jungs einzulassen und nicht mit Drogen und Alkohol anzufangen. (Ziemlich oft kamen ehemalige Häftlinge vorbei, um diese Mahnungen mit Diavorträgen zu untermauern, und anschließend gab es Plätzchen und Limonade.)

Die Officers, die sich im Sportverein für das Betreuungsprogramm engagierten, waren ausnahmslos autoritär, witzig und nett zugleich: eine Abwechslung von den meisten anderen Erwachsenen in unserem Leben, die von uns hauptsächlich erwarteten, dass wir uns still verhielten. Jedes Kind hatte einen Lieblings-Officer, einen Mentor, und nicht selten sah man, wie Kinder in einer Reihe hinter ihrem auserkorenen Idol hertrotteten wie Entchen. Kaceys Idol war Officer Almood, eine kleine und immerzu verwundert dreinblickende Frau, die mit ihrem respektlosen, unbändigen Humor – der wohlwollend die Dummköpfe um sie herum, die Dummheit der Welt, die verdammte Dummheit dieser Kids aufs Korn nahm – bei allen in Hörweite lähmende Lachkrämpfe auslösen konnte. Kacey guckte sich von ihr so manche Eigenheit wie ihre Art zu reden und ihr ausgelassenes Lachen ab und probierte sie zu Hause aus, bis Gee sie ermahnte, es nicht zu übertreiben.

Mein Vorbild war stiller.

Officer Cleare war jung, als er in den Sportverein kam, siebenundzwanzig, aber sein Alter erschien mir damals schon sehr ehrwürdig, ein gutes, solides Alter, ein Alter, das Verantwortung bedeutete. Er hatte bereits einen kleinen Sohn, über den er liebevoll sprach, aber er trug keinen Ehering, und er erwähnte nie eine Frau oder Freundin. In einer Ecke des großen, kantinenähnlichen Raums, wo wir unsere Hausaufgaben machten, saß Officer Cleare mit ausgestreckten, an den Knöcheln gekreuzten Beinen und las in einem Buch, von dem er gelegentlich aufblickte, um sich zu vergewissern, dass seine Schützlinge nicht abgelenkt waren. Dann wandte er sich wieder seiner Lektüre zu. Von Zeit zu Zeit stand er auf und machte seine Runde, beugte sich über jedes Kind, fragte, woran es arbeitete, half ihm auf die Sprünge, wenn es etwas nicht richtig verstand. Er war strenger als die anderen Officers. Weniger witzig. Nachdenklicher. Alles Gründe, weshalb Kacey ihn nicht mochte.

Aber ich fühlte mich stark zu ihm hingezogen. Zum einen hörte Officer Cleare stets aufmerksam zu, wenn jemand mit ihm sprach, hielt dabei Blickkontakt und nickte leicht, um zu zeigen, dass er verstanden hatte. Zum anderen sah er gut aus: Er hatte schwarzes, nach hinten gekämmtes Haar und Koteletten, die ein bisschen länger waren als bei den übrigen männlichen Officers, was 1997 ziemlich modern war, und dunkle Augenbrauen, die sich ganz leicht zusammenzogen, wenn er etwas las, das er besonders interessant fand. Er war groß und gut gebaut und hatte eine Ausstrahlung, die mir damals irgendwie altmodisch vorkam, als wäre er aus einer anderen Zeit gefallen, aus einem alten Film. Er war ungemein höflich. Er benutzte Wörter wie differenziert und transzendent, und einmal, als er mir die Tür aufhielt, sagte er Nach dir und schwenkte den Arm nach außen und verbeugte sich leicht, was ich in dem Moment unvorstellbar galant fand. Jeden Tag setzte ich mich an Tische, die ihm näher und näher waren, bis ich schließlich direkt vor ihm saß. Ich sprach ihn nie an: machte nur meine Hausaufgaben immer stiller und ernster in der Hoffnung, dass er eines Tages meinen Fleiß bemerken und kommentieren würde.

Endlich war es so weit.

An dem Tag brachte er uns Schach bei. Ich war vierzehn Jahre alt und befand mich in meiner schwierigsten Phase: überwiegend still, im Kampf gegen schlechte Haut, häufig ungeduscht, schäbige Klamotten tragend, immer zwei Nummern zu groß oder zu klein, aufgetragene Sachen oder Schnäppchen aus dem Secondhandladen.

Aber so peinlich mir mein Aussehen war, ich war stolz auf meine Intelligenz, die ich insgeheim als etwas sah, das in mir schlummerte, ein schlafender Drache, der eine Fülle an Reichtümern bewachte, die mir niemand, nicht einmal Gee, wegnehmen konnte. Eine Waffe, die ich eines Tages einsetzen würde, um uns beide zu retten: mich selbst und meine Schwester.

An dem Tag konzentrierte ich mich auf jede Partie vor mir, bis ich am Ende des Nachmittags zu den letzten vier Spielern zählte, die noch in dem Turnier waren, das Officer Cleare spontan veranstaltet hatte. Schon bald hatten sich einige um uns versammelt und schauten zu, und er war einer davon. Ich nahm ihn deutlich wahr, obwohl er hinter mir stand, außer Sicht: Ich konnte seine Statur, seine Körpergröße spüren. Ich konnte seinen Atem spüren. Ich gewann die Partie.

«Gut gemacht», sagte er, und ich zog erfreut die Schultern hoch und senkte sie wieder, ohne ein Wort zu sagen.

Mein nächster und letzter Gegner war ein älterer Junge, der es ebenfalls ins Finale geschafft hatte.

Der Junge war gut: Er spielte seit Jahren. Er machte kurzen Prozess mit mir.

Aber Officer Cleare blieb neben mir stehen, die Hände auf der Taille, und taxierte mich noch, nachdem alle anderen gegangen waren. Unter seinem Blick wurde ich rot. Ich schaute nicht auf.

Langsam stellte er meinen gekippten König wieder aufrecht hin, und dann ging er neben dem langen Kantinentisch, an dem ich saß, in die Knie.

«Hast du vorher schon mal gespielt, Michaela?», fragte er mich leise. Er nannte mich immer so: noch etwas, das ich an ihm mochte. Meinen Spitznamen, Mickey, hatte Gee mir verpasst, und ich fand ihn schon immer ein bisschen unwürdig, aber irgendwie ist er an mir hängen geblieben. In den Erinnerungen, die ich an meine Mutter habe, nennt auch sie mich immer bei meinem richtigen Namen.

Ich schüttelte den Kopf. Nein. Ich brachte kein Wort heraus.

Er nickte, einmal. «Beeindruckend», sagte er.

Er begann, mich zu unterrichten. Jeden Nachmittag übte er allein mit mir zwanzig Minuten lang Eröffnungszüge und dann Strategien für eine ganze Partie.

«Du bist ein helles Köpfchen», lobte er mich. «Wie kommst du in der Schule zurecht?»

Ich zuckte die Achseln. Wurde wieder rot. In Officer Cleares Gegenwart lief ich andauernd rot an, das Blut rauschte mir durch den Körper und erinnerte mich daran, dass ich lebendig war.

«Ganz gut», sagte ich.

«Dann werde noch besser», sagte er.

Er erzählte mir, dass sein Vater, der auch bei der Polizei gewesen war, ihm Schach beigebracht hatte. «Er ist aber jung gestorben. Da war ich acht», sagte Officer Cleare, während er einen Bauern vorrückte und wieder zurückzog.

Prompt schaute ich kurz zu ihm hoch und dann wieder nach unten aufs Brett. Er weiß es also, dachte ich.

Er fing an, mir Bücher zum Lesen mitzubringen. Zunächst Geschichten über wahre Verbrechen und Kriminalromane. All die Bücher, die sein Vater geliebt hatte. Kaltblütig. Raymond Chandler, Agatha Christie, Dashiell Hammett. Er erzählte mir von Filmen: Serpico war sein Lieblingsfilm, aber er mochte auch alle drei Teile von Der Pate («Jeder sagt, der zweite ist am besten», erklärte er mir, «aber eigentlich ist der erste der beste.») und GoodFellas und auch ältere. Der Malteser Falke («Noch besser als das Buch», sagte er) und Casablanca und alle Thriller von Hitchcock.

Ich las jedes Buch und sah mir jeden Film an, den er empfahl. Ich fuhr mit der El zu Tower Records auf der Broad Street und kaufte mir von meinem mit Babysitten schwer verdienten Geld zwei CDs von den Bands, die er gern hörte, Flogging Molly und Dropkick Murphys. Er hatte gesagt, es seien irische Bands, weshalb ich mir Songs mit Fiedeln und Trommeln vorgestellt hatte, doch als ich sie auflegte, hörte ich zu meinem Erstaunen, wie mich Männer über aggressive Gitarren hinweg anschrien. Dennoch blieb ich bis spätnachts auf und hörte mir die Songs auf meinem Discman an oder leuchtete mit einer Taschenlampe auf die Seiten der Bücher, die er genannt hatte, oder saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und schaute mir Filmklassiker im Fernsehen an.

«Wie fandest du’s?», wollte Officer Cleare von mir über jede seiner Empfehlungen wissen. Und ich sagte, dass ich begeistert sei, immer, auch wenn das nicht stimmte.

Er wollte Detective werden. Eines Tages würde er einer sein, sagte er, doch solange sein Sohn noch klein war, hatte er sich wegen der regelmäßigeren Arbeitszeiten ins Betreuungsprogramm des Polizeisportvereins versetzen lassen. Einige Male brachte er den Jungen mit. Er hieß Gabriel, und er war zu der Zeit vier oder fünf, ein kleines Spiegelbild seines Vaters, dunkelhaarig und schlaksig, Hose mit Hochwasser. Sein Vater nahm ihn auf den Arm und trug ihn herum, stellte ihn stolz vor. Seltsamerweise und gegen meinen Willen überkam mich beim Anblick von Vater und Sohn eine jähe Eifersucht. Ich war mir nicht sicher, was ich wollte, aber ich wusste, dass es irgendwie mit den beiden zu tun hatte.

Dann stellte Officer Cleare den Jungen neben mir auf den Boden.

«Das ist meine gute Freundin, Michaela», sagte er zu seinem Sohn. Und ich blickte langsam zum Vater des Jungen auf, ehrfurchtsvoll, und die Formulierung hallte mir noch Tage danach durch den Kopf. Meine gute Freundin. Meine gute Freundin. Meine gute Freundin.

Unglücklicherweise handelte sich Kacey etwa um diese Zeit allmählich ernsthafte Schwierigkeiten ein. Heute macht mir der Gedanke zu schaffen, dass das womöglich direkt oder indirekt mit meiner Abgelenktheit zusammenhing. Bevor Officer Cleare in mein Leben trat, war ich ganz für meine Schwester da gewesen: half ihr bei den Hausaufgaben; erteilte ihr Rat für ihre Verhaltensprobleme – zumindest für die, von denen ich wusste – und wie sie besser mit Gee kommunizieren konnte; kämmte und frisierte morgens ihr Haar; packte jeden Abend für uns die Lunchpakete. Kacey wiederum offenbarte mir die Seiten von ihr, die sie vor anderen verbarg; die kleinen Ungerechtigkeiten, die ihr jeden Tag in der Schule widerfuhren, die tiefe Traurigkeit, die sie manchmal mit solcher Macht überkam, dass sie sicher war, sie nie wieder loszuwerden. Doch ich glaube, je näher ich Officer Cleare kam, desto wehmütiger und unnahbarer wurde ich, desto mehr wandte ich meine Gedanken und meinen Blick von meiner Schwester ab.

Kacey wiederum zog sich zurück. Mit dreizehn begann sie, die Nachmittagsbetreuung im Polizeisportverein regelmäßig zu schwänzen. Gee erhielt dann jedes Mal einen Anruf, und eine Zeit lang verdonnerte sie Kacey immer wieder zu Hausarrest, bis sie es irgendwann aufgab, weil es nichts fruchtete. «Ich schätze, sie ist alt genug und kann allein auf sich aufpassen», sagte Gee ominös. Ich war zu der Zeit bereits fünfzehn, und Jahre zuvor hatte sie mir die gleiche Möglichkeit geboten, die Kacey jetzt bekam, nämlich mich jeden Tag nach der Schule zu vergnügen – oder, noch besser, mir einen festen Job zu besorgen. Stattdessen entschied ich mich, im Betreuungsprogramm bei einer Teenagergruppe mitzumachen, die jüngeren Schülern Nachhilfe geben und sie beaufsichtigen sollte.

Ausschlaggebend für meine Entscheidung – auch wenn ich das niemandem gegenüber zugegeben hätte – war der Wunsch, weiterhin in Officer Cleares Nähe zu sein.

In der neunten Klasse verbrachte Kacey die meisten Nachmittage mit einer Clique, deren Anführerin Paula Mulroney war.

Diese Freundinnen lenkten sie schon damals von ihren Schulaufgaben ab. Sie trugen überwiegend Schwarz und rauchten Zigaretten und färbten sich die Haare und hörten Bands wie Green Day und Something Corporate – Musik, die Kacey, obwohl ich sie nicht ertragen konnte und sie mich beim Lernen störte, jedes Mal laut aufdrehte, wenn Gee nicht zu Hause war. Sie fing auch an zu rauchen, sowohl Zigaretten als auch Marihuana, und sie bewahrte von beidem einen kleinen Vorrat in dem Hohlraum unter dem Dielenbrett in unserem Zimmer auf – das Versteck, das wir früher für harmlosere Zwecke benutzt hatten.

Für mich fühlte es sich an wie eine Ohrfeige.

Ich erinnere mich noch glasklar an das erste Mal, als ich Tabletten in dem Hohlraum fand. Es waren vielleicht sechs Stück insgesamt, klein und blau, in einem Zip-Beutel. Es kommt mir heute unglaublich vor, aber ich weiß noch, wie ich sie betrachtete und erleichtert darüber war, dass sie offenbar professionell hergestellt waren, auf einer Seite mit zwei akkuraten Buchstaben bedruckt und auf der anderen mit einer Nummer, gleichmäßig geformt und seriös aussehend. Als ich Kacey nach den Tabletten fragte, beruhigte sie mich: Es sei eine Art extrastarkes Tylenol, sagte sie. Völlig ungefährlich. Der Vater eines Jungen namens Albie bekam sie vom Arzt verschrieben. Genau wie viele andere Väter in unserem Viertel auch: Sie waren Bauarbeiter oder ehemalige Schauerleute oder schufteten in anderen körperlich anstrengenden Jobs, von denen ihnen alle Knochen und Muskeln wehtaten. Es war das Jahr 2000. Das Schmerzmittel Oxycontin, seit vier Jahren auf dem Markt, wurde großzügig von Ärzten verschrieben und dankbar von Patienten genommen. Es sollte, auch das ist unglaublich, weniger abhängig machen als frühere Generationen von opioidhaltigen Medikamenten – und deshalb hatte noch keiner Angst davor. «Wieso nimmst du das Zeug überhaupt?», fragte ich, und sie sagte: «Keine Ahnung. Aus Spaß.»

Sie erzählte mir allerdings nicht, dass sie es schnupften.

Außerdem machte Kacey in dieser Zeit erste Erfahrungen mit Sex. Ich erfuhr es aus zweiter Hand, von einem boshaften Zehntklässler, der vor seinen Freunden damit prahlte. Als ich meine Schwester darauf ansprach, tat Kacey es mit einem Achselzucken ab und meinte gleichgültig, er habe die Wahrheit gesagt.

Zu der Zeit war ich noch nicht mal geküsst worden.

Wir lebten uns mehr und mehr auseinander. Ohne sie wurde meine Einsamkeit monströs, ein leises Summen, ein zusätzlicher Körperteil, eine Blechdose, die ich hinter mir herzog, wohin ich auch ging. Ich vermisste Kacey, vermisste ihre Anwesenheit im Haus. Selbstsüchtig vermisste ich auch Kaceys Bemühungen, mich unter Leute zu bringen. Auf Partys mitzunehmen. Mich mitzuschleppen, wenn sie zu Freunden nach Hause ging. «Mickey meinte eben …», sagte sie häufig, als wir jünger waren, um mir dann irgendeine scherzhafte Bemerkung oder Feststellung zuzuschreiben, die eigentlich ihr selbst eingefallen war. Wenn Kacey mich jetzt in der Schule sah, nickte sie bloß. Häufiger war sie allerdings überhaupt nicht mehr in der Schule.

Mehrfach legte ich hoffnungsvoll Nachrichten für meine Schwester in unser Geheimversteck. Ich wusste, dass das kindisch war, schon während ich es tat, und dennoch hörte ich nicht damit auf. Kleine Briefe mit Anekdoten über meinen Tag, über Gee, über irgendwen aus unserer Familie, der irgendwas gemacht hatte, was ich so lustig oder blöd fand, dass ich es für erzählenswert hielt. Ich sehnte mich danach, dass sie mich wahrnahm, dass sie zurückkam, dass sie kehrtmachte und sich wieder auf Dinge besann, die uns beiden als Kindern Spaß gemacht hatten.

Aber jedes Briefchen, das ich für sie hinterlegte, blieb unbeantwortet.

Ab und zu nahm sie mich damals doch noch richtig wahr, und zwar immer dann, wenn ich über Officer Cleare redete.

Kacey konnte ihn nicht leiden.

Er ist total eingebildet, sagte sie dann, oder manchmal nannte sie ihn arrogant, aber ich wusste selbst damals schon, dass ihre wahre Kritik tiefer ging, dass meine Schwester irgendetwas in ihm ahnte, das sie nicht benennen konnte oder wollte.

«Igitt», sagte Kacey, wenn ich über ihn oder irgendwas, das er gut fand, sprach, was ziemlich häufig vorkam. Tatsächlich begann ich so viele Sätze mit «Officer Cleare meint …», dass Gee und Kacey es schließlich schafften, diese Formulierung aus meinem Sprachschatz zu verbannen, indem sie mich so gnadenlos nachäfften, dass es mir peinlich war. Meine Schwärmerei für ihn hatte bei meiner Schwester und mir einen kurzen Rollentausch zur Folge. Zum ersten Mal im Leben hatte ich das Gefühl, dass Kacey um mich besorgt war und nicht umgekehrt.

Als Kacey das erste Mal eine Überdosis genommen hatte, mit sechzehn, in dem Haus voller fremder Leute in Kensington, war es Officer Cleare, den ich um Hilfe und Rat bat.

Es war in dem Sommer vor meiner Abschlussklasse an der Highschool. Ich war siebzehn Jahre alt, und er und ich hatten mittlerweile ein recht enges Verhältnis. Unsere Gespräche waren persönlicher geworden: Er gab mir nicht mehr bloß Ratschläge oder brachte mir irgendwas bei, sondern erzählte mir nun auch von Problemen, die er selbst als Kind gehabt hatte, von Problemen, die er auf der Arbeit hatte, von Kollegen, die ihm Ärger machten, von Problemen mit seiner Familie. Seine Mutter, so fürchtete er, hatte nach dem Tod seines Vaters mit dem Trinken angefangen und sich kürzlich bei einem Sturz die Hüfte gebrochen. Seine Schwester war eine Wichtigtuerin, die ihm ständig in alles reinredete. Ich hörte aufmerksam zu, nickte, sagte meistens nichts. Ich hatte ihm noch nicht viel von meiner Familie erzählt. Es war mir noch immer lieber, zuzuhören, als zu reden. Anders als Gee gefiel es ihm offenbar, wie ernst ich war, wie nachdenklich. Häufig lobte er meine Intelligenz, meine Beobachtungsgabe, meinen Scharfsinn.

Ich war kurz zuvor von einer unbezahlten Hilfskraft beim Teenagerprogramm zu einer bezahlten Mitarbeiterin des Sommerprogramms für Kinder im Stadtteil aufgestiegen – was mich, wie ich mir einredete, ohnehin gewissermaßen auf Augenhöhe mit den Officers brachte. Gemeinsam mit einem Dutzend anderer Mitarbeiter führte ich die kleinen Tagesbesucher von Zimmer zu Zimmer, plante Aktivitäten, trainierte sie halbherzig in Sportarten, von denen ich selbst nur wenig verstand. Doch in Wirklichkeit nutzte ich die Zeit, um mit Officer Cleare zu reden.

Am Tag nach der Sache mit Kacey war ich völlig aufgelöst. Ich irrte durch das Vereinsgebäude, blass und konfus, unsicher, ob ich überhaupt da sein sollte. Vielleicht, dachte ich, sollte ich lieber zu Hause bei Kacey sein, die sich Gees biblischen Zorn eingehandelt hatte und wahrscheinlich auf Entzug war.

Ich stand in dem größten Raum des Gebäudes, die Arme um mich geschlungen, in Gedanken versunken, als ich sah, dass Officer Cleare mich über ein Dutzend Kantinentische hinweg beobachtete. Wegen zu vieler Regelverstöße waren die Kinder an diesem Nachmittag zur Ruhe verdonnert worden und sollten still lesen oder zeichnen.

Er kam langsam auf mich zu, warf Kindern, die neugierig zu ihm aufschauten, einen Blick zu und wies sie an, sich wieder ihren Aufgaben zu widmen.

Als er bei mir war, neigte er den Kopf fragend zu mir. Er sah mich an, die hübschen Augenbrauen zusammengezogen.

«Was hast du denn, Michaela?», sagte er mit einer Zärtlichkeit, die mich überraschte.

Unversehens kamen mir die Tränen. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass ich das überhaupt gefragt wurde. Es öffnete etwas in mir, einen Abgrund aus Sehnsucht, den ich nur mit Mühe je wieder würde schließen können. Es erinnerte mich an die weichen Hände meiner Mutter an meinem Gesicht.

«Hey», sagte er.

Ich hielt den Blick auf den Fußboden gerichtet. Zwei heiße Tränen liefen mir über die Wangen, und ich wischte sie wütend weg. Ich weinte nur selten, und ich vermied es vor allem, im Beisein von Erwachsenen zu weinen. Wenn wir als kleine Kinder weinten, hatte Gee uns oft gedroht, dass sie uns einen Grund dafür geben würde. Bis wir schließlich größer waren als sie, machte sie die Drohung gelegentlich wahr.

«Geh hinten raus», sagte Officer Cleare zu mir, so leise, dass es sonst keiner hören konnte. «Warte da auf mich.»

Es war an dem Tag über dreißig Grad heiß. Das Außengelände hinter dem Gebäude bestand aus einem Basketball-Platz mit einer wackeligen überdachten Tribüne und einem halb toten Feld, auf dem Fußball oder Football gespielt werden konnte. Die umliegenden Straßen waren ähnlich tot. Keine Passanten, keine Zuschauer, keine Fenster ins Innere des Gebäudes. Fliegen summten träge um meinen Kopf, und ich schlug im Gehen nach ihnen.

Ich fand eine Stelle im Schatten und lehnte mich gegen das Backsteingebäude des Sportvereins. Mein Herz raste. Ich konnte mir nicht erklären, wieso.

Ich dachte an Kacey: an das Krankenbett, in das sie nach ihrer Einlieferung ins Episcopal Hospital gelegt worden war. An das Schweigen zwischen uns. «Ich versteh das nicht», hatte ich gesagt, und Kacey hatte gesagt: «Das weiß ich», und mehr nicht. Kacey hatte ausgesehen, als hätte sie Schmerzen. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Gesicht war sehr, sehr blass. Dann kam unsere Großmutter durch die Tür gestürmt, mit eiskalter Miene und geballten Fäusten. Gee war schon immer dünn gewesen, voller nervöser Energie, die Sorte Mensch, die ständig in Bewegung ist. An dem Tag jedoch blieb sie stehen, beängstigend still, und zischelte Kacey durch zusammengebissene Zähne an: «Mach die Augen auf. Guck mich an. Mach verdammt noch mal die Augen auf.»

Kurz darauf gehorchte Kacey. Sie blinzelte, drehte das Gesicht weg von dem Neonlicht über ihr.

Gee wartete, bis sich Kaceys Blick auf sie richtete.

Dann sagte sie: «Hör gut zu. Ich hab das schon mit deiner Mutter durchgemacht. Ich mach das nicht noch einmal durch.»

Sie zeigte mit einem ausgestreckten Finger auf Kacey. Sie packte sie am Ellbogen und zerrte sie aus dem Bett, sodass der Infusionsschlauch in ihrem Arm schmerzhaft herausgerissen wurde, und ich folgte ihnen. Keine von uns blieb stehen, als eine Krankenschwester hinter uns herrief, dass Kacey noch nicht entlassen werden könne.

Zu Hause schlug Gee Kacey einmal hart ins Gesicht, und Kacey rannte nach oben in unser Zimmer, knallte die Tür zu und schloss ab.

Nach einer Weile ging ich hinterher, klopfte leise, sagte wieder und wieder den Namen meiner Schwester. Doch es kam keine Antwort.

Die Mauer des Vereinsgebäudes war so warm, dass ich es unangenehm fand, mich dagegenzulehnen, also stellte ich mich wieder aufrecht hin. Ich stand mit dem Rücken zu der Tür, aus der ich gekommen war, und als ich hörte, dass sie leise hinter mir auf- und wieder zuging, drehte ich mich nicht um. Die Luft war schwül. Schweißtropfen rannen mir unter der Bluse an den Seiten herab. Ich starrte geradeaus, als Officer Cleare näher kam. Ich konnte spüren, dass er hinter mir stehen blieb und wartete, vielleicht, um nachzudenken. Ich konnte seinen Atem hören. Dann legte er rasch die Arme um mich. Ich hatte ein paar Jahre zuvor meine volle Größe erreicht, und nicht viele Jungen an meiner Schule überragten mich so wie er. Doch in seiner Umarmung war er so viel größer, dass er sein Kinn auf meinen Kopf legen konnte.

Ich schloss die Augen. Ich spürte sein Herz an meinem Rücken schlagen. Seit dem Tod meiner Mutter hatte ich immer wieder denselben Traum gehabt: Darin trug mich eine gesichtslose Gestalt auf den Armen, einen Arm hinter meinem Rücken, den anderen unter meinen Beinen, beide Hände auf der anderen Seite verschränkt, sodass es sich anfühlte, als wäre ich in einer engen, kleinen Kiste. Und diese Gestalt wiegte mich in ihren Armen. Es ist Jahre her, seit ich den Traum zuletzt geträumt habe, aber ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich mich jedes Mal fühlte, wenn ich daraus erwachte: Ich war getröstet. Beruhigt. Besänftigt.

So von Simon Cleare umschlossen, öffnete ich die Augen. Er ist das, dachte ich.

«Was hast du denn?», fragte Simon erneut.

Diesmal erzählte ich es ihm.