damals

Nachdem ich Simon Cleare von den Problemen meiner Schwester erzählt hatte, begannen wir, uns auch außerhalb des Polizeisportvereins zu treffen.

In jenem Sommer ging ich jeden Tag nach Feierabend in Büchereien oder Parks oder Restaurants, Orte, von denen Simon meinte, dass wir nicht gesehen würden, und er kam dann auch dahin. Ich war siebzehn. («Wir wollen ja nicht, dass noch jemand auf falsche Gedanken kommt», sagte er, und das gab mir damals tatsächlich einen kleinen Kick.) Manchmal sahen wir uns einen Film in einem der Programmkinos in Center City an, und wenn er mich anschließend noch zu Fuß bis zur El-Station an der Kreuzung von Second und Market Street brachte, sprach er mit mir auf dem ganzen Weg über die künstlerischen Stärken und Schwächen von Drehbuch und Schauspielern. Manchmal gingen wir zu einem Pier, der über den Delaware River hinausragte. Er war seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden und inzwischen marode und wahrscheinlich auch baufällig, aber da sich selten jemand dorthin verirrte, konnten wir meist allein am Rand sitzen und nach Camden hinüberschauen. Immer und überall war ich als Erste da, und Simon kam kurz danach. Er erfuhr alles über Kacey, hörte jedes Mal aufmerksam zu, wenn ich ihm von irgendeiner neuen Entwicklung erzählte.

Weniger als eine Woche nach ihrer ersten Überdosis fing Kacey an, sich regelmäßig aus dem Haus zu schleichen. Weil wir noch immer in einem Bett schliefen, bekam ich es jedes Mal mit. Ich versuchte, sie davon abzuhalten. Manchmal drohte ich, es Gee zu sagen. Aber ich hatte mehr Angst davor, was Gee Kacey antun würde, als davor, was Kacey sich selbst antat. Meine größte Angst war, dass Gee Kacey vor die Tür setzen würde. Und falls das passierte, wusste ich nicht, was aus uns beiden werden würde.

«Bleib hier», flüsterte ich.

«Ich brauch eine Zigarette», sagte Kacey. Und dann blieb sie stundenlang verschwunden.

Es geschah wieder und wieder. Kaceys Zustand verschlechterte sich rasch. Jetzt wirkte sie ständig wie weggetreten, mit glasigen Augen, geröteten Wangen, sie sprach langsam, mit schwerer Zunge, und ihr bezauberndes Lachen gab es praktisch nicht mehr. Wenn ich sie so sah, hatte ich oft den Impuls, vor ihrem Gesicht laut in die Hände zu klatschen. Sie ganz fest zu umarmen, um diese unheimliche Dunkelheit aus ihr herauszupressen, deretwegen sie ihr Leben so vollständig betäuben wollte. Ich vermisste meine fröhliche kleine Schwester, die schlagfertige Kacey, immer auf Trab, mit überbordender Energie; die kindliche, wilde, feurige Version der Jugendlichen, die jetzt in einer Welt unendlicher, unablässiger Dämmerung zu existieren schien.

Ich bemühte mich sehr, Kaceys Verhalten vor Gee zu verheimlichen, aber unsere Großmutter war nicht auf den Kopf gefallen. Sie wusste Bescheid. Sie durchsuchte wieder und wieder Kaceys Sachen, bis Kacey irgendwann nachlässig wurde. Gee fand ein Bündel Hundertdollarscheine – Kacey hatte angefangen, ein bisschen zu dealen, nebenbei, mit Fran und Paula Mulroney –, und das genügte Gee als Beweis. Wie ich befürchtet hatte, warf sie Kacey aus dem Haus.

«Wo soll sie denn hin?», fragte ich.

«Mir doch egal», sagte Gee, mit trotzigen, ein wenig wilden Augen. «Ist doch nicht mein Problem.»

«Sie ist sechzehn», sagte ich.

«Genau», sagte Gee. «Alt genug, um es besser zu wissen.»

Eine Woche später war sie natürlich wieder da. Aber das Muster setzte sich fort, und mit Kacey wurde es immer schlimmer, nicht besser.

All das erzählte ich Simon, wenn ich mich mit ihm traf. Und es war jedes Mal eine gewisse Erleichterung für mich: zu wissen, dass es außer mir wenigstens einen Menschen auf der Welt gab, der die Einzelheiten von Kaceys Absturz in die Sucht mit sich trug, der über ihre Geschichte auf dem Laufenden blieb, der gut zuhörte und Ratschläge gab, die vernünftig und erwachsen schienen.

«Sie testet dich», sagte er zuversichtlich. «Sie ist einfach noch unreif. Irgendwann nimmt sie Vernunft an.»

Dann neigte er leicht den Kopf zu mir und gestand: «Ich habe auch mal so eine Phase durchgemacht.»

Er sei jetzt clean, sagte er. Er krempelte ein Hosenbein hoch und zeigte mir hinten auf seiner starken rechten Wade ein Tattoo: ein großes X, das seine Abstinenz symbolisierte. Er ging mittlerweile nicht mehr zu Meetings, aber er hatte nie aufgehört, wachsam zu sein, aus Angst vor einem Rückfall, der nie auszuschließen war.

«Du kannst dich nie in Sicherheit wiegen», sagte er. «Das ist das Schlimme. Sich immer Sorgen machen zu müssen.»

Wenn ich ehrlich bin, war das Gespräch für mich irgendwie tröstlich. Zu wissen, dass jemand, der sein Leben so im Griff hatte wie Simon, der so klug und rechtschaffen und weltgewandt war, ein guter Vater – zu wissen, dass so jemand mal genau wie Kacey gewesen war. Und es dann aus dem Sumpf herausgeschafft hatte.

Niemand, nicht einmal Kacey, wusste zu dem Zeitpunkt, dass ich mich mit Simon traf. In den Nächten, die Kacey zu Hause war, lagen wir zwei im selben Bett, jede mit ihrem eigenen Geheimnis. Zwischen uns war eine Grenze gezogen, eine Kluft, die mit jeder Woche größer wurde.

Kacey ging nicht mehr zur Highschool. Sie erzählte Gee nichts davon. Und unsere Schule, unterfinanziert und randvoll mit Problemschülern, versäumte es, Gee davon zu unterrichten.

Auch ich hielt den Mund. Wie immer war mein Hauptanliegen, dass Kacey unter Gees Dach blieb, und deshalb hielt ich mein Wissen vor Gee geheim. Bis heute bin ich unsicher, ob die Entscheidung richtig war.

Aber ich liebte sie. Und es gab noch immer Momente der Zärtlichkeit zwischen uns. Wenn Kacey deprimiert oder wenn sie high war, wollte sie von mir umarmt werden, sobald sie nach Hause kam. Sie wollte dann neben mir sitzen und sich an mich lehnen, den Kopf auf meiner Schulter, während wir zusammen fernsahen. Ich weiß noch, dass sie mich manchmal bat, ihr die Haare zu zwei ordentlichen Zöpfen zu flechten; dann setzte sie sich zwischen meine Beine auf den Fußboden und machte träge witzige Bemerkungen über das, was gerade im Fernsehen lief – sie konnte mich selbst da noch zum Lachen bringen –, mit langsamen Atemzügen, den Kopf schwer an meinen Händen. Ich empfand in solchen Momenten eine Art mütterliche Liebe für sie – eine Emotion, die ich nur im Rückblick benennen kann, jetzt, da Thomas Teil meines Lebens ist.

Ich flehte Kacey in solchen Momenten frei heraus an, wieder gesund zu werden. Ich weinte. «Das werde ich», sagte sie, oder: «Ich verspreche es», oder: «Ich werde mich bessern». Aber sie sah mich nie dabei an: Immer schaute sie woandershin, auf den Boden, aus dem Fenster.

In meinem Abschlussjahr auf der Highschool begann ich, die überlange Liste mit Colleges zusammenzustreichen, an denen ich mich bewerben wollte. Die Zeit, die ich darauf verwandte, mir zu überlegen, wo ich studieren würde, verschaffte mir etwas Erholung von den Sorgen, die mich ständig plagten: Endlich, dachte ich, endlich ist es so weit, ich kann dem allen hier entfliehen. Und wenn ich dann weg wäre und mir ein gutes Leben aufgebaut hätte, könnte ich meine Schwester retten. Ich träumte seit Jahren davon, seit Schwester Angela Cox an der Holy Redeemer zu mir gesagt hatte, mit meiner Intelligenz könnte ich alles werden, was ich wollte.

Ich hütete mich, Gee um Hilfe zu bitten. Immer wenn irgendwer ihr berichtete, ich sei schlau oder eine gute Schülerin, reagierte sie skeptisch. «Die setzen dir bloß einen Floh ins Ohr», sagte sie einmal stirnrunzelnd zu mir. Gee und sämtliche O’Briens waren stolz darauf, ausschließlich etwas zu tun, das praktisch war. Ein eher geistig orientiertes Leben – selbst ein Beruf wie Lehrerin – galt bei den meisten von ihnen als hochmütig. Gearbeitet wurde mit dem Körper, mit den Händen. Das College war etwas für Träumer und Snobs.

Dennoch, mit der Hilfe meiner heiß geliebten Geschichtslehrerin Ms. Powell und auf Empfehlung der etwas inkompetenten (oder, freundlicher ausgedrückt, unterbesetzten) Beratungsabteilung an meiner Highschool, füllte ich zwei Bewerbungen für Hochschulen in Philadelphia aus: eine für die Temple University und eine für die Saint Joseph’s University. Die eine öffentlich, die andere privat.

Ich wurde von beiden angenommen.

Ich ging mit den Zulassungsschreiben zu Mr. Hill, dem für mich zuständigen Beratungslehrer. Er gab mir ein High five. Dann gab er mir einen Stapel Informationsmaterial über Stipendien und ein Antragsformular für Studienförderung.

«Was ist das?», fragte ich ihn.

«Damit kriegst du Geld, um das College zu bezahlen», sagte er. «Deine Eltern müssen es ausfüllen.»

«Ich hab keine Eltern», sagte ich. Ich weiß noch, dass ich hoffte, diese unverblümte Aussage, ohne jede Beschönigung, würde ihn davon überzeugen, dass ich alles allein machen konnte – alles allein machen musste.

Er sah mich überrascht an. «Dann eben dein Vormund», sagte er. «Wer ist dein Vormund?»

«Meine Großmutter», sagte ich.

«Dann gib ihr die Unterlagen», sagte er.

Ich spürte bereits, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete.

«Gibt es keine andere Möglichkeit?», fragte ich.

Aber entweder war meine Stimme zu leise, oder Mr. Hill war zu beschäftigt, denn er schaute nicht von seinem Schreibtisch auf.

Ich wusste, was passieren würde. Dennoch ging ich zu ihr, sämtliche Formulare behutsam im Arm.

Sie saß auf der Couch und aß Cornflakes zum Abendessen, während sie die Lokalnachrichten guckte. Sie schüttelte den Kopf über die Unverschämtheiten von Randalierern und Rowdys, die Worte, die sie am häufigsten von sich gab, wenn sie vorm Fernseher saß.

«Was ist das?», fragte sie, als ich ihr den Stapel Unterlagen reichte. Sie legte den Löffel laut klimpernd in die Schale. Stellte die Schale vor sich auf den Couchtisch. Sie schlug ein Bein über das andere, Knöchel an Knie. Sie sagte nichts. Sie kaute noch, während sie alles durchsah. Dann fing sie leise an zu lachen.

«Was ist?», sagte ich.

Ich fühlte mich damals so unwohl in meinem Körper. So wenig zu Hause. Ich weiß noch, dass ich laufend die Arme verschränkte. Die Hände in die Taille stützte.

«Tut mir leid», sagte Gee und lachte noch lauter. «Ich, ähm», sagte sie und legte eine Hand an den Mund, um sich wieder einzukriegen. «Kannst du dir das vorstellen? Ein Mädchen wie du an der St. Joe’s? Du kriegst doch kaum die Zähne auseinander, Mickey. Die nehmen dein Geld und werfen dich im hohen Bogen raus. Die amüsieren sich auf deine Kosten, und dann servieren sie dich ab. Genau das machen die mit dir. Und wenn du glaubst, die Investition zahlt sich irgendwann für dich aus, dann bist du ganz schön blauäugig.»

Sie schob den Stapel über den Couchtisch. Einige Unterlagen waren jetzt mit Milch bekleckert. Sie nahm wieder ihre Schale Cornflakes.

«Das füll ich nicht aus», sagte sie, mit dem Kopf auf das Studienförderungsformular deutend. «Ich helfe dir nicht dabei, dich wegen so einem unnützen Blatt Papier bis über beide Ohren zu verschulden.»

Ms. Powell hatte uns allen am Anfang des Schuljahrs ihre private Telefonnummer gegeben und gesagt, wir könnten sie jederzeit anrufen, wenn wir irgendwelche Fragen hätten. Ich fand, wenn es je einen Zeitpunkt gab, nach dieser Rettungsleine zu greifen, dann jetzt. Ich hatte sie noch nie angerufen, und ich war schrecklich nervös, als ich die Nummer wählte.

Es dauerte lange, bis sie sich meldete. Als sie abhob, hörte ich im Hintergrund ein Kind weinen. Es war halb sechs oder sechs Uhr abends. Essenszeit, wie mir zu spät klar wurde. Ms. Powell hatte zwei Kinder, von denen sie liebevoll sprach, einen Jungen und ein Mädchen, beide noch sehr klein.

«Hallo?», sagte Ms. Powell. Sie klang gehetzt.

Das Kind brüllte jetzt. «Mama, Mama.»

«Hallo?», sagte Ms. Powell wieder. Ein Topf schepperte.

«Ich weiß ja nicht, wer dran ist», sagte Ms. Powell schließlich, «aber ich hab hier alle Hände voll zu tun, und der Abruf passt mir jetzt nicht.»

So hart hatte ihre Stimme noch nie geklungen. Ich legte langsam auf. Ich stellte mir vor, wie mein Leben hätte sein können, wenn ich in eine Familie wie die von Ms. Powell hineingeboren worden wäre.

Nicht lange danach beschloss ich, Simon anzupiepsen. Ich wartete eine Weile am Telefon in der Küche, den Kopf gegen die Wand gelehnt. Fünfzehn Minuten später klingelte es, und ich nahm den Hörer, so schnell ich konnte, von der Gabel.

«Wer ist dran?», rief Gee, und ich rief: «Telefonwerbung.»

Am anderen Ende sprach Simon mit leiser Stimme.

«Was ist?», sagte er. «Ich kann nur ganz kurz reden.»

Zum ersten Mal seit ich ihn kannte, klang er genervt. Fast wütend. Ich heulte los. Nach meinem Anruf bei Ms. Powell war das zu viel. Ich brauchte Freundlichkeit.

«Tut mir leid», flüsterte ich. «Sie will die Unterlagen nicht ausfüllen.»

«Was für Unterlagen? Wer?», fragte Simon.

«Meine College-Unterlagen», sagte ich. «Meine Großmutter will sie nicht ausfüllen. Ohne finanzielle Unterstützung kann ich nicht studieren.»

Simon schwieg einen langen Moment.

«Wir treffen uns am Pier», sagte er schließlich. «Ich bin in einer Stunde da.»

Wir waren zuletzt im Herbst da gewesen, vor der Umstellung auf Winterzeit. Jetzt war Februar, und es war scheußlich draußen und bereits dunkel, als ich mich auf den Weg zum Pier machte. Ich sagte Gee, ich würde mich mit einer Freundin zum Lernen treffen. Kacey sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, als ich zur Tür ging.

Es war ein gutes Gefühl, draußen zu sein, weg von dem Haus, von Gees düsteren Stimmungen, von meiner ständigen Angst, Kacey würde eines Tages einfach nicht mehr nach Hause kommen.

Aber ich war nervös, so, wie ich es noch nie gewesen war, wenn Simon und ich uns getroffen hatten. Im Sommer und Herbst hatten wir uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit gesehen, obwohl jede Begegnung rein platonisch geblieben war. Doch der Winter und mein Schuljahr hatten unsere Treffen ins Stocken gebracht. Ich war inzwischen achtzehn, aber unerfahren für mein Alter. Wenn ich naiv war, so kann ich mir wohl zugutehalten, dass ich mir immerhin meiner Naivität bewusst war. Ich wusste, dass andere in meinem Alter – meine eigene Schwester eingeschlossen – Sex hatten, und das schon seit Jahren. Ich wusste, dass mein Liebesleben sich auf meine Fantasie beschränkte, auf Schwärmereien für junge Männer im Fernsehen, auf Tagebucheinträge, in denen ich mir peinlicherweise ausgefeilte Schäferstündchen zwischen mir und dem aktuellsten Objekt meiner Sehnsucht ausdachte – beliebte Jungs an meiner Highschool, diverse Promis und, geradezu besessen, Simon. Was ihn und seine Absichten betraf, hatte ich zwei einander widersprechende Meinungen. Die erste war, dass sein Interesse an mir nicht bloß das Interesse eines intellektuellen Mentors war: Er lachte häufig über Bemerkungen von mir, manchmal ernsthaft, manchmal um mich aufzuziehen, selbst wenn ich etwas nicht witzig gemeint hatte; und er schmunzelte, wenn ich rot wurde, was vielleicht so was wie flirten sein konnte, glaubte ich; und er sah mich mit einem aufmerksamen und konzentrierten Ausdruck an, wenn ich mit ihm sprach, betrachtete jeden Teil meines Gesichts, und manchmal merkte ich, wie sein Blick nach unten glitt, auf meine Hände, meinen Hals, meine Brüste. Ob ich hübsch war oder bin, habe ich nie sagen können. Ich war schon immer groß und dünn, und ich habe mir nie was aus Make-up gemacht. Ich habe mich schon immer sehr einfach und praktisch gekleidet. Ich trage selten Schmuck, und ich binde mein Haar meistens zum Pferdeschwanz, den ich damals manchmal mit Wasser nass machte, damit die losen Enden nicht herumflogen. Falls meine Gesichtszüge etwas Anziehendes haben, so ist es anscheinend nur wenigen Menschen je aufgefallen. Doch damals fragte ich mich häufig, ob Simon einer von ihnen war. Die Erinnerung daran, wie er seine Arme um mich gelegt hatte, war wie ein kleiner Schlag in den Unterleib, ein Tritt in den Bauch, verteilte etwas Elektrisches langsam und warm in meinem ganzen Körper. Dann meldete sich immer eine andere Stimme in mir, die mir sagte, dass alles, was ich gedacht hatte, gänzlich erfunden war; dass Simon in mir ein Kind sah, jemanden mit Potenzial, jemanden, an dem er lediglich ein professionelles und vielleicht altruistisches Interesse hatte, und dass ich verrückt war, irgendwas anderes zu glauben.

Eine Baumreihe trennte die Delaware Ave von dem Pier, der über den Fluss ragte. Der Boden war übersät mit Unkraut und Abfall. Es war jetzt so dunkel, dass ich beim Gehen die Hände vor mir ausstreckte. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass ich mich in Gefahr brachte. Etliche Male war noch jemand auf dem Pier gewesen, wenn wir uns dort trafen: meistens jemand, der seinen Hund Gassi führte. Aber einmal war ein Obdachloser da gewesen, ein älterer Mann, der wirres Zeug redete, als ich ankam. Er hatte mich mit wilden Augen angesehen und dann gegrinst. Hatte mit den Händen eine obszöne Geste gemacht. Damals war ich zur Delaware Ave zurückgegangen, um dort auf Simon zu warten.

Jetzt dachte ich mir, dass bei der Dunkelheit und Kälte wohl niemand da draußen wäre. Als ich zwischen den Bäumen auftauchte, sah ich, dass ich richtiggelegen hatte. Aber ich war mir nicht sicher, ob die Einsamkeit und der stille Pier mir mehr behagten oder weniger.

Ich ging bis ganz ans Ende und setzte mich. Ich zog meine Jacke enger um mich. Die Ben Franklin Bridge war beleuchtet und spiegelte sich im Wasser, eine Kette aus roten und weißen Perlen.

Zehn Minuten vergingen, ehe ich Schritte hörte. Ich wandte den Kopf und sah Simon auf mich zugeschlendert kommen, die Hände in den Taschen. Er trug keine Polizeiuniform, sondern seine andere Standardkluft: umgeschlagene Jeans und schwarze Stiefel, eine Wollmütze und eine Lederjacke mit Lammfellkragen. Die Kleidung, die er immer trug, wenn er nicht im Dienst war. Ich saß auf dem Boden, und aus dieser Perspektive wirkte er größer und kräftiger als je zuvor.

Er setzte sich neben mich. Unsere Beine baumelten vom Holzpier.

Ehe er etwas sagte, legte er einen Arm um mich.

«Wie geht’s dir?», fragte er und drehte den Kopf, um mich anzusehen. Ich konnte seinen Atem, die Wärme seiner Lippen an der Schläfe spüren. Ein Schauder durchlief mich.

«Nicht so toll», sagte ich.

«Erzähl mir, was los ist», sagte er, und ich tat es, wie immer.

Das war der Abend, an dem Simon mir sagte, ich sollte ernsthaft darüber nachdenken, Polizistin zu werden. Heute ist das erforderliche Mindestalter zweiundzwanzig Jahre, damals war es noch neunzehn.

«Hör mal», sagte Simon. «Du könntest gegen deine Großmutter angehen. Du könntest dich als eigenverantwortlich erklären und die Unterlagen selbst ausfüllen. Aber das würde eine Weile dauern, schätz ich.»

«Was soll ich bis dahin machen?», fragte ich.

«Keine Ahnung», sagte Simon. «Weiter arbeiten. Aufs Community College gehen. Du brauchst auf jeden Fall Leistungspunkte, egal, was du danach machst. Aber hey», fuhr er fort. «Ich glaube, du wärst eine prima Polizistin. Du könntest Detective werden. Ich sag dir doch andauernd, dass du das schaffen könntest. Das ist mein voller Ernst.»

«Kann sein», sagte ich.

Ich war mir nicht sicher. Ich las gern Kriminalromane. Ich mochte – einige mehr, einige weniger – die Filme, die Simon mir empfahl, in denen es vielfach um Polizeiarbeit ging. Vor allem mochte ich Simon, der selbst Polizist war. Aber ich war sehr gut in der Schule, und ich las für mein Leben gern. Und dank Ms. Powell und ihrer Geschichten über die Vergangenheit – durch die ich mich irgendwie weniger einsam fühlte – hatte ich kürzlich beschlossen, dass ich Geschichtslehrerin werden wollte, genau wie sie.

Ich war unsicher.

«Es liegt bei dir», sagte Simon abschließend. Er rutschte ein wenig näher. Er hatte noch immer den Arm um mich gelegt. Er rieb mit der Hand kräftig über meinen Arm, als wollte er mich wärmen.

«Aber eines kann ich dir garantieren», sagte er. «Du wirst es zu was bringen. Du wirst in allem gut sein, egal was du machst.»

Ich zuckte die Achseln. Ich blickte hinaus auf den Fluss vor uns, der von Städten auf beiden Seiten erhellt wurde. Ich erinnerte mich an das, was wir bei Ms. Powell über den Delaware gelernt hatten: dass sein Quellfluss der West Branch River war und dass er in die Delaware Bay mündete. Dass George Washington und seine Truppen ihn fünfunddreißig Meilen nördlich von uns an einem ähnlich kalten Winterabend des Jahres 1776 überquert hatten. Der Fluss musste damals stockfinster gewesen sein, dachte ich. Keine Städte. Keine Lichter, die den Weg wiesen.

«Sieh mich an», sagte Simon.

Ich wandte ihm das Gesicht zu.

«Wie alt bist du?», fragte er.

«Achtzehn», sagte ich. Mein Geburtstag war im Oktober gewesen. Nicht mal Kacey hatte in diesem Jahr dran gedacht.

«Achtzehn», sagte Simon. «Du hast das ganze Leben noch vor dir.»

Dann senkte er den Kopf und küsste mich. Mein Verstand brauchte eine Weile, um meinen Körper einzuholen. Als es ihm schließlich gelang, dachte ich: Mein erster Kuss. Mein erster Kuss. Ich habe von anderen Schilderungen von ersten Küssen gehört, die furchtbar waren, weil sie fast in einer Flut von Speichel ertrunken wären oder weil ein Junge, ähnlich unerfahren wie sie, ihnen seine aggressive Zunge in den Hals gesteckt oder sie mit seinem offenen Mund praktisch verschlungen hatte. Aber Simons Kuss war in dem Moment ungeheuer zurückhaltend, ein sanftes Streifen von Lippen und dann ein Zurückziehen, und dann, einen Moment später, berührten seine Zähne verstohlen ganz leicht meine Unterlippe. Es erregte mich. Ich hatte nicht gedacht, dass Zähne beim Küssen dazugehören.

«Glaubst du mir?», sagte Simon leise. Er sah mich forschend an. Sein Gesicht war meinem so nah, dass ich den Hals in einem merkwürdigen Winkel beugen musste, um ihn unserer Haltung anzupassen.

«Ja», sagte ich.

«Du bist schön», sagte Simon. «Glaubst du das?»

«Ja», sagte ich.

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich es glaubte.

Als ich später in der Nacht neben meiner Schwester im Bett lag, hatte ich das Verlangen, ihr alles zu erzählen. Jahre zuvor, als Kacey zum ersten Mal geküsst worden war, hatte sie es mir genau beschrieben. Sie war damals zwölf, und wir waren noch beste Freundinnen. Kacey war vom Spielen nach Hause gekommen und hatte aufgeregt einmal meinen Namen gerufen, war die Treppe rauf in unser Zimmer gerannt und hatte sich aufs Bett geworfen.

«Sean Geoghehan hat mich geküsst», sagte sie mit leuchtenden Augen. Sie drückte sich ein Kissen auf den Mund, schrie hinein. «Er hat mich geküsst. Wir haben uns geküsst.»

Ich war vierzehn. Ich sagte nichts.

Kacey senkte das Kissen und sah mich an. Dann setzte sie sich auf und streckte mit besorgtem Gesicht den Arm nach mir aus.

«Ach, Mick», sagte sie. «Es passiert schon noch. Keine Sorge. Du erlebst das auch noch.»

«Wahrscheinlich nicht», sagte ich. Ich rang mir ein Lachen ab, aber es klang traurig.

«Doch, ganz bestimmt», sagte Kacey. «Versprich mir, dass du es mir erzählst, wenn es passiert.»

In der Nacht, nachdem Simon mich geküsst hatte, überlegte ich, wo ich anfangen sollte. Ehe ich etwas sagen konnte, hörte ich Kacey sanft und tief ausatmen: Sie war eingeschlafen.

Ich tat, was Simon mir geraten hatte. Ich machte den Highschool-Abschluss und wohnte weiter bei Gee. Ich zog endlich ins mittlere Schlafzimmer, das sich nach wie vor anfühlte, als würde meine Mutter drin herumgeistern. Ich jobbte stundenweise als Kassiererin in einem Drugstore und begann, Gee zweihundert Dollar Miete im Monat zu zahlen. Ich machte sechzig Leistungspunkte am Community College. Dann legte ich die Aufnahmeprüfung bei der Polizei ab. Mit zwanzig wurde ich Polizistin. Niemand kam zu meiner feierlichen Vereidigung.

Mit Kacey ging es unterdessen weiter bergab. Sie war inzwischen wild und sprunghaft. Mit knapp zwanzig arbeitete sie manchmal als Kellnerin, gegen bar, und manchmal im Autohaus unseres Onkels Rich in Frankford und manchmal als Babysitterin für alle unverantwortlichen Eltern, die sie engagierten, und ich glaube, manchmal dealte sie auch noch für Fran Mulroney, Paulas älteren Bruder. Sie wohnte abwechselnd bei Gee und bei Freunden und auf der Straße. In jener Zeit hielt sie sich öfter in Fishtown als in Kensington auf, weshalb ich sie noch nicht auf meinen Schichten zu Gesicht bekam. Ich wusste nie, wo sie sein würde, wenn ich abends nach Hause kam, und ich rechnete ständig damit, dass sie eines Tages gar nicht mehr wiederkommen würde. Wir sprachen nur noch selten miteinander.

Dennoch war sie der einzige Mensch, der von meiner Beziehung zu Simon wusste. Sie hatte einen Brief von ihm unter meinen Sachen gefunden – erst später kam mir der Gedanke, dass er ihr höchstwahrscheinlich in die Hände gefallen war, als sie nach Bargeld gesucht hatte, das sie mir klauen wollte – und ihn mir, als sie mich das nächste Mal sah, wütend gegen die Brust gedrückt.

«Was zum Teufel soll der Scheiß?», sagte sie zu mir.

Es war mir peinlich. Der Brief nahm Bezug auf eine Nacht, die wir kurz zuvor in einem Hotel verbracht hatten. Meine Zeit mit Simon war für mich eine Befreiung, eine Flucht, das erste wirkliche Glück, das ich je erlebt hatte, und wenn es ein Geheimnis war, tja, es gefiel mir so. Es war meins.

Ich legte schützend eine Hand über den Brief. Ich sagte nichts.

Ich glaube, als Nächstes sagte Kacey: «Er ist ein verfickter Widerling.» Oder schlimmer: «Der wollte dir doch schon an die Wäsche, als du vierzehn warst.» Noch heute schaudert es mich, wenn ich daran denke. Seit ich ein kleines Kind war, habe ich stets versucht, in jeder Situation meine Würde zu bewahren. Jetzt, als Polizistin, bemühe ich mich, meine professionelle Würde zu bewahren. Zu Hause, bei Thomas, bin ich bestrebt, eine gewisse elterliche Würde zu bewahren, zu verhindern, dass er irgendwas aufschnappt, das ihn verunsichern könnte, oder etwas Ungehöriges. Weil es mir unwürdig vorkommt, hat es mir nie gutgetan, wenn sich jemand meinetwegen Sorgen gemacht oder wegen meines Wohlergehens beunruhigt war. Stattdessen habe ich immer lieber den Eindruck erweckt, dass es mir in jeder Hinsicht gut geht und dass ich alles im Griff habe. Weitgehend glaube ich, dass es ein aufrichtiges Bild von mir ist.

«Das stimmt nicht», sagte ich.

Kacey lachte. Es war kein netter Klang.

«Träum weiter», sagte sie.

«Wirklich nicht», sagte ich.

«Ach, Mick», sagte sie. Sie schüttelte den Kopf. Und ich sah in ihrem Gesicht so etwas wie Mitleid.

Im Alter von zwanzig Jahren war das, was Kacey sagte, in meinen Augen weder eine faire noch eine korrekte Einschätzung der Situation. Ich war schließlich hinter Simon her gewesen, nicht umgekehrt. Ich habe mich nie für romantisch gehalten, aber manchmal redete ich mir ein, dass es für mich Liebe auf den ersten Blick war, als ich ihn das erste Mal sah. Simon dagegen sagte, er hätte Jahre gebraucht, um in mir mehr als ein Kind zu sehen. Aber sowohl Simon als auch mir war klar, wie unsere Beziehung von anderen gesehen werden könnte, die uns schon gekannt hatten, als ich noch sein Schützling gewesen war, und deshalb gaben wir uns allergrößte Mühe, sie geheim zu halten. Simon hatte kurz zuvor endlich die Prüfung zum Detective abgelegt und bestanden und wollte seine noch junge Karriere nicht durch irgendwas gefährden. Wenn wir uns trafen, dann in Hotels. Er sagte, er wolle nicht, dass sein Sohn Gabriel – damals elf – von uns erfuhr, und Gabriels Mutter bringe ihn manchmal überraschend vorbei und es sei alles sehr – kompliziert, wie er sich ausdrückte.

«Irgendwann hast du deine eigene Wohnung», sagte er oft zu mir, «und dann können wir da zusammen sein.»

Überwiegend aus diesem Grund legte ich das ganze Geld, das ich in den ersten zwei Jahren bei der Polizei verdiente, bei der Bank an und verwendete die Ersparnisse für die Anzahlung auf ein Haus in Port Richmond. Ich war zweiundzwanzig, als ich die Papiere unterschrieb. Die Anzahlung betrug vierzig Prozent des Gesamtpreises – zugegebenermaßen eine kleine Summe –, aber noch immer mehr Geld, als ich danach je wieder auf meinem Bankkonto hatte. Die Maklerin meinte beeindruckt, nicht viele Zweiundzwanzigjährige besäßen eine derartige Selbstdisziplin, um so viel Geld zu sparen, die meisten würden es lieber abends mit Freunden verprassen. Ich bin nicht wie die meisten Zweiundzwanzigjährigen, hätte ich gern erwidert, tat es aber nicht.

Als ich von zu Hause auszog – und damit die fürchterlichen Streitereien, die zwischen Gee und Kacey manchmal bis zu Handgreiflichkeiten eskalierten, hinter mir ließ –, hatte ich das Gefühl, einem Krieg zu entfliehen.

Ich hatte weder Kacey noch Gee im Vorhinein von meinen Auszugsplänen erzählt. Dafür hatte ich zwei Gründe: Erstens sollte keine von beiden Genaueres über meine Finanzen wissen – Gee nicht, weil sie dann vielleicht mehr Miete verlangen könnte als ohnehin schon, und Kacey nicht, weil ich ihr nicht noch mehr Anreiz bieten wollte, Geld von mir zu schnorren. (Ich hatte mir das inzwischen strikt verbeten, doch sie kam ab und zu trotzdem noch angebettelt.) Der zweite Grund, warum ich meine Pläne für mich behalten hatte, war meine ehrliche Überzeugung, dass es Gee und auch Kacey völlig gleichgültig war.

Deshalb war ich überrascht, als Kacey auf meine Ankündigung mit Traurigkeit reagierte.

Am Tag meines endgültigen Auszugs kam sie nach Hause, als ich gerade Kisten die Treppe hinunterschleppte.

«Was machst du da?», fragte sie mich. Sie verschränkte die Arme. Sie legte die Stirn in Falten.

Keuchend blieb ich kurz stehen. Ich hatte außer Klamotten und Büchern nichts mitzunehmen, aber von Letzterem hatte ich zu viele und machte rasch die Erfahrung, wie schwer eine Kiste voller Taschenbücher sein kann.

«Ich zieh aus», sagte ich.

Ich rechnete mit einem Achselzucken. Stattdessen schüttelte Kacey langsam den Kopf. «Nein», sagte sie. «Mick. Du kannst mich hier nicht alleinlassen.»

Ich stellte die Kiste, die ich in den Händen hielt, auf die Treppe. Mir tat schon der Rücken weh. Ich brauchte Tage, bis ich mich davon erholt hatte.

«Ich dachte, du würdest dich freuen», sagte ich.

Kacey blickte ehrlich verwundert. «Wie kommst du denn dadrauf?», fragte sie.

Du magst mich ja nicht mal, wollte ich sagen. Aber ich fühlte mich zu weinerlich, wehleidig und gereizt, deshalb sagte ich nur, ich müsse weitermachen und dass ich am Abend wiederkommen und es Gee beibringen würde. Kacey hielt fast förmlich die Tür für mich auf, als ich an ihr vorbeiging. Ich sah sie an, nur ein einziges Mal, suchte in ihrem Gesicht nach Anzeichen der alten Kacey, nach einem Anflug des kleinen Mädchens, das so ganz und gar von mir abhängig gewesen war. Aber ich konnte keine Spur von ihr entdecken.

Das Haus, das ich gekauft hatte, war hässlich und alt, aber es gehörte mir. Vor allem wurde in ihm weder geschrien noch gestritten. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, blieb ich innen an der Haustür eine Weile stehen, lehnte mich dagegen, die Hände auf meinem Herzen, und ließ den Frieden des Hauses auf meine Schultern sinken. Sagte mir: Du bist allein hier.

Das leere Haus hatte ein warmes und angenehmes Echo. Ich ließ mir Zeit für die Einrichtung, wollte nichts überstürzen und begnügte mich in den ersten Monaten nach dem Einzug mit einer Matratze auf dem Fußboden und einigen billigen Stühlen vom Sperrmüll. Als ich anfing, Möbel zu kaufen, ging ich mit Bedacht vor. Ich sah mich in Antiquitätenläden, in Trödelläden um, wo man mir einen guten Preis für Dinge machte, die ich schön fand. Nach und nach entfaltete sich der Zauber des Hauses für mich. Auf der rechten Seite hatte die Haustür eine seltsame Buntglasscheibe, mit in Blei eingefassten rot-grünen Blumen, und es erfüllte mich mit Genugtuung zu wissen, dass das Haus einmal jemand anderem so lieb und teuer gewesen war wie mir, dass ihm ein so kleines und hübsches Detail als Ausdruck seiner Wertschätzung wichtig gewesen war. Ich füllte meinen Kühlschrank mit reichlich gesundem Essen. Ich hörte in Frieden Musik. Als ich schließlich ein richtiges Bett kaufte, schaute ich nicht aufs Geld – der einzige Luxus, den ich mir gönnte. Ich wollte es so bequem wie möglich haben und wählte bei Macy’s im alten Wanamaker Building eine Doppelmatratze aus. Im selben Kaufhaus erstand ich auch Bettwäsche, die, wie die Verkäuferin mir versprach, die beste wäre, in der ich je schlafen würde.

Simon und ich hatten jetzt ein privates Refugium. Endlich blieb er manchmal die ganze Nacht bei mir, was mich stets mit einer tiefen und angenehmen Ruhe erfüllte. So gut hatte ich zuletzt geschlafen, als Kacey und ich klein waren. Als meine Mutter noch lebte.

In den ersten Jahren nach meinem Auszug sah ich Gee und Kacey nur gelegentlich. Jedes Mal sah Kacey schlimmer aus, und Gee sah älter aus. Ich fragte Kacey nie, was sie so machte, doch sie rückte von sich aus mit einer Fülle von Informationen heraus, die ich überwiegend für falsch hielt: «Ich gehe demnächst wieder zur Schule», sagte sie mehrfach. «Ich mache meinen Highschool-Abschluss nach.» (Soweit ich weiß, hat sie nie damit angefangen.) Und dann: «Ich hab morgen ein Vorstellungsgespräch.» Und dann: «Ich hab einen Job.» (Sie hatte keinen.)

Was sie in der Zeit wirklich machte, war schwer zu sagen. Ich glaube nicht, dass sie da schon anschaffen ging; jedenfalls sah ich sie während meiner Schichten noch nicht auf der Straße. In einem klaren Moment sagte Kacey einmal zu mir, dass sich Drogensucht anfühlt wie eine Zeitschleife. Jeder Morgen eröffnet die Möglichkeit zur Veränderung, jeder Abend bringt die Scham, versagt zu haben. Die Suche nach dem Schuss wird zur einzigen Aufgabe. Jede Dosis ist eine Parabel, tief-hoch-tief, und jeder Tag eine Abfolge dieser Wellen; und dann werden die Tage selbst danach eingeteilt, wie viel Zeit der Süchtige insgesamt in einem angenehmen Zustand oder unter Schmerzen verbringt, und dann die Monate. Verkompliziert wird das Ganze durch cleane Zeiten, die in einigen Fällen freiwillig vorkommen – zum Beispiel wenn Kacey sich aus freien Stücken in Reha-Zentren wie Kirkbride, Gaudenzia, Fairmount begibt oder vor Ort in billige Entzugseinrichtungen mit zweifelhaften Erfolgsquoten – und in anderen Fällen unfreiwillig: wenn Kacey sich Schwierigkeiten einhandelt und dann im Gefängnis landet. Auch solche Zeiten werden Teil des Musters: cleane Phasen, gefolgt von einem Rückfall, gefolgt von längeren Phasen aktiven Drogenkonsums. Die Grundlinie ist immer die Ave, das Gefühl von Familie und Routine, das sie bietet.

Dieses Auf und Ab hätte endlos weitergehen können, wenn Kacey nicht wieder eine ihrer schlechten Entscheidungen getroffen hätte. 2011 ließ sie sich von ihrem damaligen Freund überreden, ihm dabei zu helfen, einen Fernseher aus dem Haus seiner Eltern zu stehlen. Da die Eltern ihren Sohn vor dem Gefängnis bewahren wollten, hängten sie Kacey den Diebstahl an. Und Kacey hielt für ihren Freund den Kopf hin. Inzwischen war sie längst kein unbeschriebenes Blatt mehr, und der Richter kannte kein Pardon.

Sie musste für ein Jahr in die Strafanstalt Riverside.

Manche fanden das vielleicht bedauerlich. Ich nicht. Im Gegenteil, zum ersten Mal nach langer Zeit hatte ich Hoffnung für sie.