I m Osten dämmert es. Es ist diese klamme Stunde zwischen Tag und Nacht, in der die Sonne sich anschleicht und der Himmel bereits ein wenig Farbe bekommt. Es ist kalt. Alles ist taunass, regennass, einschließlich mir. Am Ende ist der Gewitterschauer doch noch gekommen, ist einmal über die Lichtung gezogen, und ich bin einfach sitzen geblieben. Es ist ein Trugschluss, dass der Wald ein Schutzraum ist. Er war kein Schutzraum für dich, Juli.
Vielleicht bin ich hin und wieder eingenickt, auf meinem Schlafsack. Doch ich fühle mich wie sechsunddreißig Stunden wach. Der Kakao in der Thermoskanne ist noch warm. Ich gieße mir einen Becher ein, um mir meine kalten, zittrigen Finger zu wärmen. Mein Atem bildet feine Gespenster in der Luft, während die Sonne näher kriecht. Sie leckt bereits am Faunfelsen, als wäre sie selbst der Teufel mit der langen Zunge. Ich starre unbeirrt auf das Loch. Meine Augen sind schwer und müde. Ich fühle mich, als hätte ich die Nacht durchgetanzt und durchgetrunken, nur ohne die euphorischen Erinnerungen, die damit einhergehen. Als die Sonne durch das Loch im Felsen fällt, kneife ich die Augen zusammen, so hell blendet das Licht. Ich sitze am richtigen Ort. Genau im Teufelslicht. Ich blicke um mich, erfasse die Form, die sich bildet. Es ist alles andersherum, als sie es uns beigebracht haben, Juli. Der Teufel ist nicht Schatten, er ist Licht.
Und dann sehe ich ihn plötzlich.
Über dem blendenden Kreis aus Morgenlicht steht eine Gestalt auf dem Felsen und blickt ruhig auf mich herab. Den Becher Kakao noch in der Hand, erstarre ich zu absoluter Reglosigkeit. Natürlich weiß ich, dass in dieser Region Wölfe leben. Wer Vieh hat, der versucht sie abzuknallen, andere stellen Plakate auf, um sie zu schützen. Und wir, die Unbeteiligten, hören die Wölfe nachts manchmal heulen. Aber ich habe nie einen gesehen. Wir blicken uns an, er und ich. Das Blut pumpt bis unter meine Schädeldecke. Mein Körper ist bereit zur Flucht, die Angst zerrt an meinen Organen. Von dem wenigen, das ich über Wolfsangriffe gehört habe, weiß ich, dass der Mensch in den meisten Fällen der Unterlegene ist. Wir sind nur Herrscher über die Welt, solange wir uns in unseren selbst geschaffenen Sicherheitszonen bewegen. Die Natur aber, der Wald, die Berge sind wild.
In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken, während der Wolf einfach weiter ruhig dasteht und mich anblickt, als wolle er mir etwas sagen. Aber was? Es kann doch kein Wolf sein, der dich von mir fortgezogen hat, oder, Juli? Man hätte dich irgendwo gefunden. Hätte Spuren gefunden. Es ist nicht wie im Märchen, in dem ein böser Wolf kommt, dessen Magen groß genug ist, um sieben Geißlein und noch eine ganze Großmutter zu verspeisen. Ein Wolf ist auch kein Teufel, der dich schultern und mit in seine Unterwelt nehmen kann. Oder doch? Ich blicke wieder um mich, auf die Form, die das Sonnenlicht bildet.
Mit einem Mal bin ich ganz ruhig. Ich breite die Arme aus. Eine einladende Geste.
«Bist du gekommen, um mich zu holen, Teufel?»