JESSE

D er Weg von Jakobsleiter zur Schule dauert etwa eine Stunde, 750 Höhenmeter den Berg hinab. Es ist mehr ein Pfad als ein Weg, ausgetreten nur durch unsere eigenen Schuhe und kaum sichtbar in den dichten Laub- und Tannenwäldern, durch die er führt. Unsere Siedlung hat trotzdem Vorsichtsmaßnahmen getroffen und Schilder aufgestellt, die jeden Wanderer abschrecken sollen, der sich doch mal in diesen Winkel des Berges verirrt. «Vorsicht: Steinschlag. Lebensgefahr», steht zum Beispiel an der Stelle, wo der Pfad an einer gerölligen Felswand entlangführt. Und etwas weiter unten, bei der Schwarzalm: «Warnung. Frei laufender Stier». In Wahrheit gibt es hier nicht einmal mehr Kühe, seit der alte Janosch verstorben ist. Die Ställe und das Wohnhaus der Schwarzalm sind nur noch eine vom Feuer zerfressene Ruine. Vor einigen Jahren haben Rebekka, Edith und ich noch zwischen den verkohlten Balken Verstecken gespielt. Aber das war, bevor Rebekka angefangen hat, sich mehr wie die anderen Mädchen in der Schule und weniger wie sie selbst zu verhalten.

Nur zwei Schilder stehen zu Recht hier: Eins warnt vor Lawinen, auf dem anderen steht: «Achtung, Wölfe». Unser Wald heißt Wolfstann, weil die Wölfe hier, anders als in anderen Regionen, nie ausgestorben sind. Genauso wenig wie wir.

Vielleicht fühle ich mich den Wölfen deshalb so verbunden. Auch sie haben sich versteckt und sind sie selbst geblieben, während alle anderen sich haben fangen und domestizieren lassen. Wir sind die letzte überlebende Kommune von Alttäufern, die es in Europa noch gibt. Unsere Vorfahren haben Verfolgungen, Zwangskonvertierungen, Plünderungen und Deportationen überlebt. Sie haben überlebt, indem sie sich versteckten – zunächst in verborgenen Höhlen in den Bergen und später in Jakobsleiter, unserer Siedlung. Im Laufe der Generationen mag uns ein wenig von der Religion abhandengekommen sein, aber diese Geschichte von Verfolgung und Ausgrenzung verbindet uns. Im Vergleich zu unseren Vorfahren haben wir, die Übriggebliebenen, ein gutes Leben. Nur Rebekka sieht das nicht.

Wir erreichen den Waldrand. Zu unseren Füßen liegt Almenen, ein kleiner Ort inmitten dunkler Wiesen und bewirtschafteter Felder. Die gedrungenen Häuser scharen sich um den Ortskern wie durstiges Vieh um eine Tränke. Als versuchten alle, möglichst nah dran zu sein an der Post, dem Rathaus, der Apotheke, dem Lebensmittelladen und einer Kirche, die nicht unsere ist. Es gibt von allem nur eins in Almenen, weil eins von allem reicht. Auch daran würde ich Rebekka gerne erinnern. Uns hat doch immer alles gereicht, bevor sie angefangen hat, sich nach Orten zu sehnen, die sie nicht einmal kennt. Die jenseits des dunklen, schmalen Tals liegen.

Ich wende mich um und hebe die Hand, um mich von Edith zu verabschieden, die uns neuerdings immer nachläuft, wenn wir zur Schule gehen. Sie wartet dann hier oben oder stromert durch die Wälder, bis wir mit dem Unterricht fertig sind, um uns auf dem Rückweg wieder nachzulaufen. Ich glaube, Edith würde auch gerne zur Schule gehen, immerhin ist sie inzwischen neun. Aber ihr Vater erlaubt es nicht, und mittlerweile denke ich, dass es vielleicht besser so für sie ist. Schon Rebekka und ich gelten in der Klasse als eigenartig. Für Edith aber, die nie spricht und sich ihr Verhalten von den Tieren abschaut, die selbst unter uns Außenseitern noch eine Außenseiterin ist, würde die Schule sicher zur Hölle werden.

Edith bleibt stehen, als sei meine Geste ein Kommando, doch sie erwidert den Gruß nicht. Ich lächle ihr aufmunternd zu, überlege, ob ich ihr zum Trost versprechen soll, ihr wieder ein Buch mitzubringen, und erinnere mich dann daran, dass ich das nicht mehr tun wollte. Das letzte Buch, das ich ihr mitgebracht habe, hat sie irgendwo versteckt und nie zurückgegeben, und ich musste es in der Schule bezahlen. Mit Geld, das ich nicht habe und das auch mein Vater nicht hat, weil das, was wir mit den Ziegen verdienen, gerade mal für die notwendigsten Einkäufe im Supermarkt reicht. Wenn wir ein gutes Jahr haben.

«Ich erzähle dir später alles, was wir heute lernen», verspreche ich ihr stattdessen, und dann versuche ich Rebekka einzuholen, die mit ihrem Rucksack bereits über die Wiese marschiert. Ihr Gang kommt mir heute entschiedener vor als sonst, sie hat einen richtigen Stechschritt drauf. Erst beim Schultor hole ich sie ein. Rebekka stapft weiter, in Richtung Ortskern.

«Was hast du vor?», frage ich. Sie wirft einen Blick auf die Kirchturmuhr.

«Geh du schon mal rein, ich muss noch was kaufen.»

Ich bleibe neben ihr, halte mit ihr Schritt. Der Lebensmittelladen öffnet um acht, zur gleichen Zeit also, zu der die Schule beginnt. Darum erledigen wir alles, was wir an Besorgungen aufgetragen bekommen, immer erst nach dem Unterricht.

«So dringend?», frage ich, und mein Blick wandert zu ihrer Hand, um zu sehen, ob möglicherweise der blöde Zettel darin steckt.

«Frauensachen, davon verstehst du nichts», spuckt sie aus, streicht sich eine Strähne hinters Ohr, und ich werde knallrot im Gesicht. Wegen ihres herablassenden Tons und weil mir plötzlich klar wird, was sie kaufen muss. Ich bleibe stehen, sie stapft weiter. Es ist seltsam. Ich kenne Rebekka seit Kindesbeinen an. Wir haben gemeinsam Verstecken gespielt und nackt im Schwarzbach gebadet. Wir haben am Gletscher nach den geheimnisvollen Höhlen gesucht, in denen unsere Vorfahren gelebt haben sollen, und sind dabei so tief eingebrochen, dass wir einen vollen Tag lang eng aneinandergepresst in einer Gletscherspalte ausharren mussten, bevor mein Vater uns gefunden hat. Die Obere Schwärze ist ein zerklüfteter, gefährlicher Gletscher, auf den sich kaum mal ein Bergsteiger verirrt. Uns war er eigentlich verboten. Einen vollen Tag lang dort festzustecken, das bedeutet, dass man den Atem des anderen atmet und sich gegenseitig anpinkeln muss. Man sollte meinen, danach gäbe es nichts mehr, das einem voreinander peinlich wäre.

Ich sehe zu, wie sie hinter einer Häuserecke verschwindet, und betrete die Schule, die eigentlich nur aus drei Räumen besteht: dem Klassenraum, einer Abstellkammer für Unterrichtsmaterialien und dem Zimmer der Lehrerin, auf dessen Schild nun seit einiger Zeit nicht mehr «Fr. Walsch», sondern «Fr. Bender» steht.

Hinter vorgehaltener Hand haben die älteren Kinder den jüngeren jahrelang zugeflüstert, hinter zwei der drei Türen verberge sich ein Skelett, und dann haben alle leise gekichert, weil sie damit das Schulskelett in der Abstellkammer und auch Frau Walsch in ihrem Büro meinten. Aber seit Frau Walsch Ende letzten Schuljahres in Rente gegangen ist und Frau Bender da ist, geht der Scherz nicht mehr auf. Frau Bender ist jung und hübsch, bei ihr stechen keine Knochen aus der Hüfte oder den Schultern hervor. Die Erwachsenen im Dorf sind noch immer skeptisch, ob eine so junge Lehrerin uns überhaupt etwas beibringen kann. Und tatsächlich wussten auch wir Schüler am Anfang nicht recht, was wir von ihr halten sollten. Da, wo Frau Bender vorher gearbeitet hat, wurden die Klassen nach Altersstufen unterteilt, sie sagt, das ist normal in der Stadt. Fast täglich haben wir unsere Tische durch den Raum schieben müssen, in Hufeisenform, Halbkreise und andere seltsame Formationen, wir kamen uns schon vor wie eine römische Legion. Aber seit wir die Gruppentische haben, wirkt Frau Bender recht zufrieden. An der Stimmung in der Klasse merkt man, dass wir sie insgeheim alle mögen. Nicht nur, weil sie hübsch ist, sondern auch, weil sie das Lineal entsorgt hat, mit dem Frau Walsch uns auf die Finger gedroschen hat.

Frau Bender kommt aus einer Großstadt, die so weit von hier ist, dass man 85 Stunden zu Fuß gehen müsste, um sie zu erreichen. Das habe ich auf Google Maps nachgesehen. Es ist Frau Bender zu verdanken, dass wir jetzt einen Computer in der Schule haben und dass ich weiß, was Google Maps ist. Frau Bender hat einiges neu an dieser Schule eingeführt, und manche meinen sogar, dass die Antenne in Jakobsleiter auf ihr Konto geht. Schließlich war sie es, die sich in den ersten zwei Wochen ständig darüber beschwert hat, dass man keinen Unterricht in einer Schule abhalten könne, die nicht einmal eine vernünftige Verbindung zum Internet hätte. Als wäre das Lernen nicht jahrhundertelang nur mit Büchern möglich gewesen.

Als ich den Klassenraum betrete, ist Frau Bender schon da. Sie trägt eine Stretch-Jeans, ein sonnengelbes T-Shirt, einen lockeren Pferdeschwanz und sieht damit überhaupt nicht aus, wie ich mir eine Lehrerin vorstelle. Frau Walsch kannte ich nur im schwarzen biederen Kleid mit streng zurückgebundenen Haaren. Jeden Tag das gleiche Kostüm und die gleiche Frisur, so als habe sie sich abends in den Schrank gestellt und sei morgens wieder daraus hervorgetreten.

Vielleicht ist ja Frau Bender auch ein Grund für Rebekkas Veränderung. Als Rebekka jetzt, mit zehn Minuten Verspätung, zur Tür hereinschlüpft und eine Entschuldigung murmelt, lächelt Frau Bender nur nachsichtig und bittet sie, Platz zu nehmen. Sie züchtigt sie nicht für ihre Verspätung, stellt sie nicht bloß. Rebekka muss nicht einmal auf einem Stuhl in der Ecke sitzen, mit dem Gesicht zur Wand. Frau Bender ist eine Städterin, aber sie erfüllt keines der Kriterien, die man uns über die Menschen aus der Stadt beigebracht hat. Sie ist freundlich und nett und geduldig, und einzig die Tatsache, dass sie manchmal ein wenig schreckhaft ist, lässt mich vermuten, dass es da etwas in ihrer Vergangenheit geben muss, das mit Angst und Gewalt zu tun hat. Ich kann es sehen, wenn die Pausenglocke schellt: Jedes Mal zuckt Frau Bender zusammen und verzieht dann kurz das Gesicht, als ärgere sie sich selbst über ihre Schreckhaftigkeit.

Ich betrachte Rebekka von der Seite, als sie sich setzt. Ihre Wangen sind gerötet, vielleicht weil sie sich so beeilt hat oder vielleicht weil ihr die Blicke der anderen peinlich sind. Wir versuchen normalerweise, durch den Tag zu kommen, ohne aufzufallen. Und als Frau Bender meinen Aufsatz über den Einfluss des Klimawandels auf die Alpen vor der ganzen Klasse lobt, senke ich beschämt den Kopf.

In der großen Pause läuft Rebekka zur Mädchentoilette, und ich warte an unserem gewohnten Platz auf dem Schulhof auf sie. Dieser Platz vor dem Fenster des Lehrerzimmers ist strategisch ausgewählt. Es ist der Punkt, wo die Lehrerin uns am besten sehen kann. Das macht diesen Teil des Schulhofs unattraktiv für die anderen Schüler und verschafft uns ein wenig Sicherheit. Die Prügel und Tritte sind schlimmer, wenn sie in Ecken stattfinden, in denen unsere Mitschüler sich unbeobachtet fühlen.

Ich stopfe die Hände in die Taschen und scharre mit dem Fuß auf dem Boden. Außer mir haben sich alle auf der anderen Seite des Schulhofs versammelt, irgendetwas müssen sie entdeckt haben, ich höre es an ihren aufgeregten Stimmen. Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass ich nicht neugierig bin, was es ist. Aber ich drehe mich trotzdem nicht zu ihnen um. Es ist besser, alles zu vermeiden, was die Aufmerksamkeit am Ende auf mich lenken könnte.

Rebekka braucht heute lange auf dem Mädchenklo. Ich denke darüber nach, wie herablassend sie zu mir war, als sie von dieser Sache geredet hat, von der ich angeblich nichts verstehe. In Wahrheit verstehe ich wohl mehr davon als sie. Immerhin helfe ich meinem Vater seit Jahren, die Kleider meiner Mutter zu waschen. Und jeden Monat vergrabe ich die vollgebluteten Stofffetzen, die er in den Eimer vor dem Klohaus wirft, hinter dem Ziegenstall. Ich frage mich, ob Rebekka ihre Tage wohl schon öfter bekommen hat und wer ihr eigentlich beim ersten Mal erklärt hat, was zu tun ist. Freundinnen hat sie hier in der Schule nicht, und ihrer Mutter wird sie sich kaum anvertraut haben.

Ich sehe von meinen Füßen auf. Zu meiner Überraschung ist Rebekka gar nicht mehr auf dem Klo, sondern steht ein paar Meter vor dem Schulhof auf der Straße, den Blick von mir abgewandt. Sie sieht dorthin, wo die holprige Dorfstraße einen Knick macht und hinunter ins Tal führt. Dorthin, wo der Ortsausgang liegt.

Als Kind habe ich immer gedacht, dass diese Straße einfach abreißt, ins Nichts führt. Ein bisschen so wie bei einer Weltkarte aus dem Mittelalter: Die unentdeckten Gebiete blieben einfach weiß, so als würden sie nicht existieren. Es ist einfach, auszublenden, dass es Dinge außerhalb dessen geben mag, was man kennt und sehen kann.

Ich könnte so leben. Aber nicht Rebekka. Während ich um die Stelle, an der die Straße aus dem Dorf hinausführt, herumschleiche wie um einen schlafenden großen Hund, den man nur nicht wecken darf, um weiterhin seinen Frieden zu haben, ist Rebekka eine, die sich direkt vor die Nase des Hundes stellt, mit dem Blick stets am Horizont. Warum kann ihr die Welt, die wir haben, nicht genug sein?

Ich sehe mich zu den anderen um, aber die sind glücklicherweise noch immer mit dem beschäftigt, was sie da über den Schulhof jagen. Vielleicht eine streunende Katze oder ein Hund. Manche der Jungen aus dem Dorf haben Spaß daran, die Ruten von Hunden anzuzünden. Und ich habe drei von ihnen mal dabei beobachtet, wie sie zwei Katzen an den Schwänzen zusammengebunden und über eine Wäscheleine gehängt haben. Als die Panik zu groß wurde, fingen die Tiere an, sich gegenseitig die Augen auszukratzen.

Unbemerkt schlüpfe ich durch das Schultor und trete zu Rebekka. Sie zuckt zusammen, als ich sie am Arm berühre, und schaut mich einen Moment erschrocken, fast verwirrt an. Geradeso als habe sie jemand anderen erwartet.

«Hey», sage ich und kicke gegen einen Stein, der über den aufgerissenen Asphalt springt, in Richtung Ortsausgang. Wir folgen ihm beide mit den Augen. Fast als erwarteten wir, dass ihm gleich etwas passiert, dass die Straße sich öffnet oder irgendeine Klaue nach ihm greift. Aber natürlich passiert nichts. Der Stein hopst aus unserem Blickfeld, und was bleibt, ist harmloser, verletzter Asphalt.

«Dieser Stein ist freier als wir», sagt Rebekka düster, und das ärgert mich noch mehr.

Aber ehe ich etwas sagen kann, bricht hinter uns, auf dem Schulhof, lautstarkes Geschrei aus, und wir wenden uns um. Plötzlich erkenne ich, um was sich der Pulk von Schülern versammelt hat, was sie da über den Schulhof gejagt und jetzt in eine Ecke gedrängt haben, weit weg von dem Fenster des Lehrerzimmers: Edith. Die Kinder stehen um sie herum, schreien, lachen, schubsen sie. Edith lässt alles über sich ergehen, selbst als Lorenz ein Feuerzeug in der Hand aufflammen lässt und es an ihre Haare hält. Wieder wird sie geschubst, Edith taumelt und fällt direkt vor die Füße von Rick, der das zum Anlass nimmt zuzutreten.

«Jesse», sagt Rebekka mahnend. Aber ich renne schon zum Schulhof, stoße das Schultor auf.

Die Kinder haben ihren Kreis verengt. Alle treten nun zu. «Bergmädchen!», rufen sie mit jedem Tritt und: «Bist du stumm, du Schlampe?» Ich greife die erste Schulter, die ich zu fassen bekomme, es ist die von Rick. Er ist zwar erst sechzehn, aber einen guten Kopf größer als ich. Einer von jenen, denen körperliche Arbeit guttun würde, weil sie nicht wissen, wohin mit ihrer wachsenden Kraft. Aber weil die Kinder hier unten nicht arbeiten müssen, weil sie zusammen draußen abhängen und Langeweile haben, braucht Rick ständig ein Ventil, um nicht zu explodieren. Wir Kinder vom Berg sind so ein Ventil.

Als habe er nur auf mich gewartet, lässt er von Edith ab und geht auf mich los. Er verkeilt einen Fuß hinter meinen und stößt mich zu Boden. Es macht keinen Unterschied für ihn, wen er tritt, solange er nur jemanden treten kann. Wir beide kennen das Spiel schon.

«Lauf zu Rebekka», rufe ich Edith zu, die auf die Knie kommt und zwischen den Beinen der anderen hindurchkriecht. Ein paar der Schüler versuchen noch, sie an den nackten Füßen festzuhalten und zurückzuziehen, aber die meisten haben inzwischen begriffen, dass ich nun das Opfer bin, und lassen von ihr ab. Ich sehe, wie Edith aufsteht, in Richtung Schultor rennt, neben Rebekka stehen bleibt und sich zu mir umsieht. Dann schließt sich der Kreis um mich, und eine Sneakerspitze trifft mich im Gesicht. Ich zucke zusammen, schließe die Augen und lege die Arme schützend um den Kopf.

Die Schäden sind schlimmer, als ich erwartet habe. Ich spucke Blut ins Waschbecken der Schultoilette und taste mit der Zunge über die Zähne, um sie zu zählen. Dass mir irgendwann mal jemand einen Zahn austritt, ist meine größte Sorge. Hier im Ort gibt es keinen Zahnarzt, geschweige denn einen Kieferorthopäden, und ich glaube kaum, dass sie mir einen fehlenden Zahn in der Apotheke ersetzen können. Alles andere in meinem Körper wird heilen und zuwachsen, das tut es immer. Aber ein Zahn wächst nicht nach. Daran wird man bei uns oben am Berg immer wieder erinnert, wenn die Bewohner den Mund aufmachen und ihre lückenhaften Zahnreihen zeigen.

Ich spucke noch einmal. Das Blut in meinem Mund ist zäh, aber es scheint nur das Zahnfleisch zu bluten. Keiner der Zähne ist lose. Ich richte mich auf und wische mir den Mund mit einem Papiertuch ab. Da ist ein kleiner Riss über dem Auge, der bereits anzuschwellen beginnt. Außerdem tun mir die Rippen und die Nieren weh. Ich drehe den Wasserhahn auf, wasche mir das Gesicht und die aufgeschürften Hände. Dann trockne ich mich noch einmal ab. Wie immer verbringe ich mehr Zeit auf der Toilette als nötig. Das fließende, warme Wasser ist für mich ein kleiner Luxus, und ich mag die braunen Papiertücher, die man neuerdings aus einer Box neben dem Waschbecken rupfen kann. Auch die gehen auf Frau Benders Konto, natürlich. Frau Bender hat das alte Handtuch, das vorher neben dem Waschbecken hing, mit einem einzigen entsetzten Gesichtsausdruck bedacht und gemeint, das tauge ja wohl lediglich als Wohnstätte für Bakterien und Viren. Daran muss ich nun immer denken, wenn ich das inzwischen fast schwarze Handtuch sehe, mit dem mein Vater sich nach der Arbeit die Hände abwischt. Frau Bender würde sich in Jakobsleiter nicht besonders wohlfühlen.

Als es zur Stunde klingelt, werfe ich die gebrauchten Papiertücher in den Korb und gehe zur Klasse zurück. Ich vermeide es, jemanden anzuschauen, ganz besonders Frau Bender. Aber aus den Augenwinkeln bemerke ich natürlich trotzdem, wie sie die Stirn runzelt, als sie mein Gesicht sieht, und wie sie dann streng in die Runde blickt. Es ist ein Problem von Frau Bender, dass sie glaubt, alles, was ihr nicht passt, so leicht austauschen zu können wie das Handtuch auf der Toilette. Aber es gibt Probleme, die schon viel länger bestehen als sie und die auch noch bestehen werden, wenn Frau Bender wieder weg ist. Ausgrenzung gibt es nicht nur in Almenen.

Ich hätte gedacht, dass ich der Letzte bin, der den Raum betritt, aber auch Rebekkas Stuhl ist noch frei. Ich drücke mich auf meinen Platz und spähe durch das Fenster auf den Schulhof. Lorenz, der auf der anderen Seite des Gruppentischs sitzt, lehnt sich grinsend zur Seite, um mir die Sicht zu versperren. Die anderen Schüler kichern.

«Pssscht», macht Frau Bender, und selbst dieses «Pssscht» klingt ganz anders als das von Frau Walsch. Es klingt nicht scharf, so als würde heißes Wasser überkochen und auf der Herdplatte verzischen. Frau Benders «Pssscht» hat etwas Beruhigendes an sich. Sie geht herum und verteilt die Aufgaben an die jeweiligen Tische. Als sie bei uns ankommt, fällt ihr Blick auf den leeren Stuhl, und sie sieht mich fragend an. Ich kann nur die Schultern zucken.

«Vielleicht ist sie auf der Toilette», sage ich leise, und zwei der Mädchen vom jüngeren Gruppentisch kichern. Vielleicht über meine Stimme, die sie so selten hören.

Als Rebekka nach zehn Minuten noch immer nicht da ist, lässt Frau Bender uns mit unseren Aufgaben allein und verlässt den Raum. Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her und blicke mich um, erwarte, dass irgendwo ein Ellbogen in eine Seite gestoßen und ein verräterisches Grinsen ausgetauscht wird. Aber da ist nichts. Die meisten sitzen konzentriert über ihre Aufgaben gebeugt, und wo doch Blicke getauscht werden, da sind es eher fragende. Einige scheinen wie ich auf Frau Benders Schritte zu lauschen, die sich nun wieder nähern. Hektischer als vorhin, finde ich, und mein Herz fällt in den neuen Takt ein. In mir ist eine plötzliche Unruhe, die nichts Gutes bedeuten kann. Frau Bender kommt zurück in den Raum, mit einer Falte zwischen den Brauen, und blickt erst auf mein geschwollenes Gesicht und dann sehr streng in die Runde.

«Okay. Ich will jetzt genau wissen, was vorhin in der großen Pause vorgefallen ist», sagt sie. Ich betrachte jeden meiner Mitschüler genau. Während ich auf der Toilette war und meine Wunden versorgt habe, hätten sie genug Zeit gehabt, sich Rebekka vorzuknöpfen. Mein Magen zieht sich zusammen, macht sich klein und hart wie ein Stein, als ich mir vorstelle, wie sie sie irgendwo hingeschleppt und eingesperrt haben. Aber keiner lässt sich etwas anmerken. Frau Bender verschränkt die Arme vor der Brust.

«Ich frage jetzt ganz konkret», sagt sie. «Wo ist Rebekka?»

Niemand antwortet. Jetzt, wo einmal etwas Wichtiges zu sagen wäre, wo jemand den Mund auftun und laut sein müsste, wie sie es sonst immer sind, kneifen alle die Lippen zusammen und schweigen.